Mit verantwortlich für den überwältigenden Wahlsieg Erdogans bei den Deutschtürken sind die Politik der doppelten Staatsbürgerschaft und die Stärkung der Moscheen und Islamverbände durch die deutsche Politik, besonders durch die Grünen und die SPD, schreibt Necla Kelek bei Emma: „Keiner dieser Fortschrittlichen und ‚Antirassisten‘ hatte bis gestern auf die antidemokratischen Strukturen der Islam- und Kurdenvereine hingewiesen oder gar etwas dagegen unternommen.
Dabei waren und sind sowohl die Moscheen – die von der Türkei gelenkten DITIB-Moscheen, wie die aus Saudi-Arabien finanzierten der Muslim-Brüder oder der Milli Görüs, – und die orthodoxen Islamverbände Brutstätten der Erdoganpartei und der Abgrenzungspolitik von Muslime und Türkeistämmigen in Deutschland. 64 Prozent der Ja Stimmen wurden in den Moscheen in Deutschland organisiert. “
Noch finsterer liest sich die Rechnung Hamed Abdel-Samads bei Facebook, die allerdings die geringe Wahlbeteiligung der Türken in Deutschland nicht einbezieht: „Nur 36 Prozent der Deutschtürken sind gegen das Ermächtigungsgesetz von Erdogan. Wenn man weiß dass 25 Prozent der hier lebenden Türken eigentlich Kurden/Aleviten sind, die so ein Gesetz aus existenziellen Gründen ablehnen und weitere christliche Assyrer und Aramäer, die auch gegen diese Verfassungsänderung sind, dann liegt die Zustimmungsquote für die Einführung der Diktatur bei den muslimischen nichtkurdischen Türken schon bei über 90 Prozent. Also sind die Türken in Deutschland gar nicht gespalten, was Erdogan angeht, wie es in der Türkei der Fall ist, sondern stehen geschlossen hinter dem Islamismus, dem Chauvinismus und der Todesstrafe.“
Bei einigen deutschen Politikern gibt das Referendum einen Anstoß zum Umdenken berichtet Josef Kelnberger in der SZ. Etwa bei der grünen Landtagspräsidentin von Baden-Württemberg Muhterem Aras: „Baden-Württemberg hat von allen deutschen Flächenstaaten den höchsten Migrationsanteil und gilt als Musterland der Integration. Aber nun: Nirgendwo in Deutschland sind so viele Türken Erdoğan gefolgt wie im Südwesten. Die Grüne ahnt, dass nun eine Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft beginnen wird. Sie hielte es für scheinheilig, sie den Türken wegzunehmen. Aber ansonsten müsse die ganze Integrationspolitik auf den Prüfstand. Ein strengeres Auge auf den Moscheeverein Ditib, keine Gemeinnützigkeit mehr für die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die als Hilfstruppe Erdoğans gilt. Keine türkischen Imame mehr in deutschen Moscheen.“
Für Thomas Schmid von der Welt steht das Ergebnis des Referendums in der Türkei in einer Reihe mit der Brexit-Entscheidung und dem amerikanischen Votum für Donald Trump: „Die ‚real people‘ haben die Eliten überstimmt, die Konservativen die Fortschrittlichen, die Gläubigen die Laizisten, die Fanatiker die Nachdenklichen, die Dummen die Schlauen. Polemisch formuliert: Die Nachzügler haben die Avantgarde, die Unproduktiven haben die Produktiven überstimmt. Der Staatsapparat hat gewonnen, die Wirtschaft verloren. Wie in Großbritannien und den USA auch wird diese Entscheidung das Land nicht einen, sondern noch weiter spalten. Und allen schaden.“
Jügen Gottschlich mahnt in der taz: „Es gibt eine Türkei jenseits von Erdogan und es sollte eine Zusammenarbeit jenseits des förmlichen Beitrittsprozesses mit den 50 Prozent der türkischen Bevölkerung geben, die für die Demokratie und den Anschluss an den Westen gestimmt haben.“
Höchst unglücklich über das Wahlergebnis zeigt sich der im Exil lebende türkische Journalist Yavuz Baydar in der SZ: „Im Rückblick lagen diejenigen richtig, die in einem nicht unproblematischen Vergleich die auffallenden Ähnlichkeiten zu den Ereignissen in Deutschland von 1933/34 betonten: der Reichstagsbrand, die Nacht der Langen Messer, das Referendum über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs. Kein Wunder, dass diejenigen, die angesichts dieser Vergleiche zunächst bloß mit den Schultern zuckten, nun in einen Schockzustand verfallen sind. Besonders, als sie die Siegesrede Erdogans am Sonntagabend hörten. Mit scharfer Rhetorik versprach da der türkische Präsident einer ekstatischen Menge, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe nun höchste Priorität habe.“
Aber. Und: Hätte die – unter anderem deutsche – Politik die Tür für einen Beitritt der Türkei in die EU nicht derart hermetisch zugeknallt, womit die liberalen Kräfte gestärkt hätten werden können, hätte wir dies Desaster nicht.
Hier in der Rundschau konnten Sie das seit Jahren lesen.
Mittlerweile fällt es uns aber (was Wunder) schwer, noch immer dieser unserer Meinung zu sein.
Aber, dennoch!
Und: Necla Kelek hat hier in der Rundschau bereits im Februar 2008 vor einer Situation gewarnt
die wir spätestens jetzt haben