coverJahrhundertelang wurde Frankreich vorgehalten, es ruiniere durch Amoral und Freizügigkeit, die es aus der Aufklärung erbte, seine Gesundheit. Während sich die Länder ringsum unter frommen Gedanken vermehrten, senkte sich im frivolen Hexagon die demografische Kurve. Drei Kriege, darunter zwei – dem hohen angelsächsischen, russischen und afrikanischen Blutzoll sei dank – gerade eben noch gewonnene Weltkriege, erschienen wie eine Anklage gegen Voltaire und die Freidenker: Rächte sich der Himmel?
Dergleichen Reden waren keinen Pfifferling wert, das Frankreich von heute verzeichnet die stärkste Geburtenrate in Europa, und dabei ist der Anteil seiner Ungläubigen nicht gesunken, sondern seine Nachbarn haben es eingeholt.
Die einst so unfromme Nation war nicht krank, sie erwies sich lediglich als ihrer Zeit voraus.

 

Der Himmel versagt, der Alte Kontinent verliert den Glauben. Zumindest das, was die Vergangenheit als Glauben bezeichnete, also das unabänderliche Prinzip der Einheit – „ein Glaube, ein Gesetz, ein König“. Haben wir je eine solche Staatengemeinschaft gesehen (von fast dreißig Ländern, und es werden wahrscheinlich noch mehr), die in ihren gemeinsamen Angelegenheiten auf einen Bezug zu einem höchsten Wesen verzichtet? Nachdem Papst Johannes Paul II. mit Beharrlichkeit, Klarsicht und Mut den Kommunismus in seinem Land besiegt hatte, nahm er die Rechristianisierung des verlorenen Kontinents in Angriff. Predigten, Prozessionen, Pilgerfahrten, Welttage für die Jugend und alle anderen – nichts hat geholfen. Nach etlichen Anläufen musste der Heilige Vater betroffen eingestehen: „Die Europäer leben, als ob es Gott nicht gäbe.“ Wojtyla hatte Marx besiegt und ging vor Voltaire in die Knie.

Unnötig, den französischen Aufklärern einen übermächtigen, ja mephistophelischen Einfluss zuzuschreiben, die Hypothese vom abwesenden Gott geistert seit Ewigkeiten herum. Schon die Denker und Theoretiker der Renaissance wagten es oft genug, sich auf ein „Naturrecht“ zu berufen, bar aller göttlichen Garantien, ein „Gesetz“, das der Herrschaft der großen Konfessionen lange vorausging, ein „Gesetz“, das dem Ehrenmann einen bestimmten Lebenswandel vorschreibt, „selbst wenn es Gott nicht gäbe“, wie es Grotius vier Jahrhunderte vor Johannes Paul II. begründete. Voltaire war nicht der erste und er wird nicht der letzte sein, der die Theologen zum Schweigen brachte. Nach einem halben Jahrtausend Streit haben wir, durchaus zögernd und nicht unbesorgt, das Neuland eines agnostischen Kontinents betreten, ganz ohne himmlische Referenz.

André Glucksmann

André Glucksmann

Genauer. So wenig wie Voltaire macht auch das heutige Europa aus dem Atheismus eine Religion. Noch weniger einen Glaubensakt. Sein Wille zur Toleranz erfordert, dass jedem das Recht zugestanden wird, anzubeten, wen er will. Unter der Bedingung, dass niemand versucht, seine persönliche Definition des Höchsten allen anderen zu diktieren oder die Frage nach seiner Existenz denjenigen aufzudrängen, die sie leugnen oder darüber hinweggehen. Wie wir sehr wohl wissen, warf der Denker aus Ferney seinen Enzyklopädisten-Freunden vor, aus ihrem Atheismus einen Grundsatz des Lebens zu machen, und darauf eine Religion ohne Gott zu errichten, die ebenso beengend und ebenso fragwürdig wie jene wäre, die sie bekämpften. Das Europa von heute ist das von Voltaire, weil es nicht in dem Sinne atheistisch ist, dass es die Nicht-Existenz Gottes als ethisches Fundament des gemeinsamen Lebens vorschriebe. Wie der ruhmreiche Albaner Enver Hodscha haben das etliche in der Theorie gefordert – de Sade: „Franzosen, noch ein Versuch, ihr wollt doch Republikaner sein.“ Einige haben das mit unerhörter Gewalt in die Praxis umgesetzt – Lenin und Hitler, Trotzki und Mao. Nichts wäre Voltaire fremder gewesen als diese Grammatik des Wahns, nichts würde dem Europa der Gegenwart mehr schaden. Das Infame, das Voltaire am Ende seiner Briefe stets zerschmetterte, genau über seiner Signatur, der Fanatismus, den er verabscheute, kann religiös sein, politisch oder mafiös, oder alles drei zusammen.

Eine solche Neutralisierung konfessioneller Konflikte wird oft auch für ein Eingeständnis von Schwäche gehalten. „Toleranz? Dafür gibt es doch Häuser“, höhnten in der Dritten Republik die Verfechter draufgängerischer Ideologien, von links oder von rechts. Der heiligen oder erleuchteten Richtungsweise beraubt, erweist sich der Alte Kontinent nunmehr als gewaltiges Durcheinander von widersprüchlichen und widerlegten Meinungen, Verhalten, Religionen und Zugehörigkeiten. Hegel, der Dompteur, sprach vom „Tierreich des Geistes“ und dachte dabei an das Paris Voltaires und der Enzyklopädisten.

Das Chaos ist für den Autor des „Candide“ keineswegs eine Etappe der Geschichte unter vielen, sondern ihr Ende, stets aufgeschoben auf einem Weg ohne Ziel, der übersät ist mit dem Glück der Einzelnen und gepflastert mit menschlichen und theoretischen Kadavern. Die „Gesellschaft“ in ihrer Vielfalt, als Nebeneinander von sozialen, politischen, religiösen, individuellen und moralischen Spannungen, ist eben nicht jenes überwindbare „Tierreich“, das der deutsche Philosoph zum Untergehen verdammte und zum Aufgehen in einer „Gemeinschaft“, das heißt dem Anbrechen einer idealen, einheitlichen und harmonischen Verbundenheit bestimmte. Die unmittelbare, widersprüchliche, universelle „Gesellschaft“ist keine abgeschlossene, auf sich selbst bezogene Stammeswelt. Für den jungen Voltaire trug sie einen Namen: England.


Die Niedertracht, unteilbar und universal

„Wir arbeiten in den Zuckerraffinerien, und wenn uns das Mühlwerk einen Finger abreißt, schneidet man uns die ganze Hand ab. Wenn wir fliehen wollen, hackt man uns das Bein ab; beides habe ich erlebt. Um diesen Preis esst ihr Zucker in Europa.“ („Candide oder der Optimismus“)

Worin besteht das „Infame“, die berühmte Niedertracht, die am Ende der Erzählung von Candide und seinen Schicksalsgefährten enthüllt wird? Die Vokabel kennt mehrere Beinahe-Synonyme: Intoleranz, Fanatismus, Unmenschlichkeit. Und eine ganze Reihe Beispiele: den Furor des Inquisitors, der den Pranger aufstellt; die Soldateska, die plündert, vergewaltigt, mordet; das Wüten des Despoten, der Unschuldige einsperrt, foltert und hinrichtet; die tobenden Massen, die der Barbarei beipflichten, ihre Unterwerfung genießen und über Quälereien frohlocken. Und außerdem? Angesichts der Vielfalt der Fälle, wäre es unrecht, Voltaires ganzen Ärger in einen einzigen Antiklerikalismus zu sperren. Gewiss, es ist nicht zu übersehen, dass der Philosoph kaum Sympathien für die Kirchen hegte, angefangen bei seiner eigenen, der Verbindung aus Jesuiten und Jansenisten; weder für Frömmler noch für Bigotte oder Heuchler brachte er Respekt auf, egal ob sie sich Juden, Christen oder Muslime nannten. Die Liste derer, die sein Spott traf, ist nicht kurz, und sie machte keineswegs Halt bei religiösen Überschreitungen. Wenn Voltaire in seinem Katalog der Schandtaten Mohammed einen besonderen Platz einräumt, dann hat er nicht den Koran im Blick, dieses „langweilige Buch“, sondern die mörderischen Taten des Kriegers, die mit ihrem göttlichem Segen nur umso größer wurden. Wenn er Kaiser Augustus, den ersten der römischen Cäsaren, zu den Raubtieren zählt, dann nicht wegen seiner trügerischen Hingabe an die Götter der Stadt, sondern wegen seiner realen Grausamkeit, die eine himmlische Herrlichkeit gutheißen und rechtfertigen soll. Und die Borgias nicht für ihre Papsttreue oder ihren Katholizismus, der durchaus auch mal schwächer werden konnte, sondern für ihre sexuellen und verbrecherischen Ausschweifungen – ganz urbi et orbi. Und die Despoten ohne Glaube und Gesetz, die Eroberer, die sich die Weltkarte einverleibten, die Sklavenhalter, die Straßenräuber, die allesamt ihr Werk verrichteten, ohne sich um Himmel und Hölle zu scheren. Niederträchtig ist, wer auch immer (ob Individuum, Sekte, Institution oder Partei) die Knechtung des Menschen durch den Menschen beabsichtigt und sich gegen die Freiheit des Einzelnen verschwört.

Im Kerker der Theologie und der Politik

„Infamie“ zielt mit einem Wort auf eine Vielzahl religiöser Triebkräfte und unterschiedlichste politische Gewalttaten, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben. Heute differenzieren wir Haarspalter den Fanatismus lieber bis in Unendliche; die Ungeheuer unserer Tage wollen offenbar in Einzelzellen gesperrt werden. Kommunismus und Nazismus über einen Kamm zu scheren, klingt in empfindlichen Ohren noch immer nach Häresie. Diesem monströsen Paar die Fundamentalismen der Schiiten und Sunniten hinzuzufügen, den Aberglauben der Sektierer und den Rausch der Nationalisten, widerstrebt der Komplexität reflexiver Gemüter. Macbeth, Richard III., Serientäter, Inquisitoren in Sutane oder Kaftan und die Multimillionäre des politischen Verbrechens miteinander zu vergleichen – darüber reden wir nicht einmal. Trotzdem hat Voltaire gut getroffen. In zahlreichen Varianten nährt sich die Fäulnis der Infamie aus Untaten, die sich ähnlich sind und manchmal miteinander verbinden.

„Der Zusammenschluss von Gottesreich und Kaiserreich ergibt das ungeheuerlichste aller Systeme“, betonte Voltaire in seinem Wörterbuch im Artikel „Pfarrer“. Das Bündnis von Thron und Altar, die Verbindung von Religion und Staat, allgemeiner gesprochen: die Einheit von weltlicher und geistlicher Macht, das war und ist die verlässlichste Schmiede der „Infamie“. Haben wir im Jahr 2000 nicht gesehen, wie Wladimir Putin, der neue Maulheld des Kremls, die Panzer segnen ließ, bevor sie in den Nordkaukasus ausrückten (um die aufbegehrende Bevölkerung niederzurollen) und sich dabei als drittes Rom aufspielte? Ob Imperator, Zar, Führer, Generalsekretär – die Herren können sich alle auf Waffengewalt stützen … und damit eine allumfassende Ideologie untermauern; sie können sich auch auf eine überirdische Ordnung berufen (auf einen Messias, Propheten, Gott, ein Proletariat, was weiß ich), um die irdische Allmacht zu steigern. In jeder dieser Versionen ist die Verschmelzung von Dogma und Schwert Methode und Ziel der fanatischen Strategien.

Die Textfrömmigkeit kümmert Voltaire wenig. Er erkannte in „Mahomet“ auf eine durch und durch politische Struktur, die im Namen des Himmels eine Macht auf Erden verankert. „Wenn Macht jemals für die gesamte Erde eine Bedrohung war, dann die des Kalifen, denn er verfügte über das Recht des Throns und des Altars, über Schwert und Begeisterung. Seine Befehle waren immer auch Weissagungen und seine Soldaten Fanatiker. Unter dem Banner des islamischen Propheten und des katholischen Großinquisitors scharen sich die Leute zu jeder Zeit und an jedem Ort. „Der Fanatismus, oder Mahomet der Prophet“, Tragödie in fünf Akten, geschrieben 1736, zeigt das Drama jener profanen und universalen Kräfte, auf denen die Macht der Waffen und die Macht über die Seelen ruht.

Bet an und triff! Der Herr der Heere waffnet,
Der Todesengel leitet deinen Arm.

Der alte Streit zwischen Thron und Altar, Säbel und Palmwedel, über den sich Kirche und Nation, Guelfen und Ghibellinen, Tempel und Parlamente entzweit haben, wird obsolet, erweist sich als porös, wenn der Freiheit bestimmte Bereiche entzogen werden dürfen. Dann besteht zwischen den Niederträchtigen nicht mehr das Gleichgewicht des Schreckens. Die festgefügte Einzigartigkeit des Propheten-Königs klingt sehr gegenwärtig für diejenigen, die die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erlitten (oder begriffen) haben. Die himmlische Hochstapelei und die irdische Gewalt verschworen sich gegen einen gemeinsamen Feind, den freien Geist:

Wer überlegt der lästert. Fern von mir
Vermess“ner Sterblichen beschränkter Zweifel,
Die eignen Augen, eignem Urteil traun!

Ein „religiöser“ Führer ist nicht nur die Inkarnation eines Messias oder eines Propheten, sondern auch eines Bandenchefs. Die Brandstifter in der Stadt und Folterknechte auf dem Lande sind aus demselben Holz geschnitzt, aber wenn es ihnen an monotheistischem Glauben oder manischem Laizismus gebricht, verfehlen sie die letzte Apotheose. Macbeth ist nach Solschenizyn ein Mörder kleinen Formats, der seine Opfer an nur einer Hand abzählen konnte und dem der Multiplikator fehlte, der für jeden Millionär an Morden unerlässlich ist, die Allmacht einer Ideologie.

Seinen Gegner herausfordernd, den „Scheich“ und Statthalter von Mekka, rückte Voltaires Mahomet mit seinen Eroberungen vor und bewies seinen Willen, die versprengten Stämme zu annektieren und vereinen.

Und unter Einem König, Einem Gott, Vereint es mein Gesetz.
Wie es mir dient; So soll es herrlich werden auf der Erde.

Der von ihm propagierte neue Glaube hat nichts von einer Rückkehr zu den Wurzeln. Der Heerführer war nicht konservativ, sondern revolutionär. Er bediente sich des Himmels, um die Waffen sprechen zu lassen. Die angestrebte Einigung rechtfertigte den schlimmsten Zynismus, auch den Missbrauch des Dogmas.

Die Menschen bedürfen des Irrtums;
meine Lehre – ob richtig oder falsch- ist notwendig.

Richtig oder falsch, Wahrheit oder Lüge, ihm ist es gleich. Politik und Religion, beides vermischt sich, der Fanatiker steht über der Wahrheit. Wahr ist, was er sagt, weil er es sagt. Der Fanatiker kann jede Doktrin infizieren, egal welche Religion, keine ist davor gefeit. Dostojewskis „Großinquisitor“ erklingt als christliches Echo auf Voltaires „Mahomet“. Was die antiken Hebräer des Alten Testaments betrifft, die Vertreter des „auserwählten Volkes“, so verabscheute der Autor des „Candide“ sie mehr als die Juden seiner Zeit. Das christliche Ungeheuer gezeugt zu haben, fällt auf sie zurück: „Im Grunde sind wir nur Juden mit Vorhaut.“ Wenn Voltaire „wir“ schreibt, das heißt „wir, die Katholiken“, dann ist das eine schlichte Feststellung seiner Herkunft, in keiner Weise eine Auszeichnung, noch weniger ein Anspruch. Den realen Juden billigte er mildernde Umstände zu, die er den Christen versagte: „Obwohl ihre berühmten Rabbiner Maimonides, Abrabanel, Aben-Esra und andere über die Christen geschrieben hatten: „Wir sind Eure Väter, unsere Schriften sind die Euren, in euren Kirchen werden unsere Bücher gelesen und unsere Lieder gesungen“, antworteten wir ihnen, indem wir sie jagten, ausplünderten und zwischen zwei Hunden aufhängten. In Spanien und Portugal verlegte man sich darauf, sie zu verbrennen.“ Wenn Candide den Juden Isaschar umbringt, dann nicht aus Antisemitismus, sondern wegen seiner unangenehmen Methoden und wegen des grauenhaften Paktes, den er mit dem Inquisitor geschlossen hat: mit ihm fifty-fifty zu teilen, freiwillig oder unter dem Einfluss Kunigundes. Liegt der jüdische Bankier erst einmal am Boden, durchbohrt Candide sogleich den despotischen Jesuiten.

Der Fanatiker taucht nicht überall und jederzeit auf. Er ist eine Antwort in Zeiten, in denen die Ordnung aus dem Gleichgewicht geraten ist und der Muff traditioneller Gesellschaften die Oberhand gewinnt. Der Fanatismus ist Zeichen für eine Krise der Globalisierung und für ein Unbehagen an der Kultur. Octavian errang als Kaiser Augustus den Thron mit Schwert und List, als Rom nicht mehr in Rom war. Die Grundpfeiler der Republik waren im Zuge der Eroberungen fortgetragen worden, das Imperium globalisierte sich, überschritt die Ränder des Mittelmeers, unterwarf die gesamte bekannte Welt; es verlangte in einem Geist geführt und verwaltet zu werden, den die Moral bisheriger Sitten nicht vorgesehen hatte; es tobte der Bürgerkrieg. Die großen Umwälzungen ermöglichen die Freiheit. Zugleich lassen sie eine grenzenlose Infamie zu. Die Entscheidung liegt bei uns allen.

André Glucksmann

Aus: „Voltaire contre-attaque“, Robert Laffont, Paris 2014.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
„Essai sur les moeurs“.

„Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète“. Alle folgenden Übersetzungen aus „Mahomet“ halten sich im folgenden mit einer Ausnahme an die Übersetzung des Dramas durch Johann Wolfgang von Goethe.

Apr 2017 | Allgemein, Buchempfehlungen, Junge Rundschau, Senioren | Kommentieren