Sommer 1971, Baška otok Krk: Mit zwei Freunden brach ich zu einem Kurztrip nach Jugoslawien auf. Wir fuhren mit meinem VW-Käfer von Speyer, unserer Heimatstadt, nach Süden. In Baška auf der Insel Krk kamen wir bei einer alten, stets schwarz gewandeten Dame unter, die ein Zimmer vermietete, das passte und bezahlbar war.
Der Strand war nicht weit. Fast täglich gingen wir dorthin und badeten im wellenrauschenden Meer. So auch am dritten Tag, als wir eine kleine Bucht fanden, die links und rechts durch Felsen begrenzt war.
Keine Seele da. Bekleidet lediglich mit unseren Kappen setzten wir uns in den Sand und dösten sonnenbadend in der Hitze vor uns hin. Gerade der Pubertät entronnen, hingen unsere inneren Gedanken häufig beim anderen Geschlecht. Wir sprachen nicht viel. Die Stimmung war zeitweilig etwas gedrückt. Wir Jünglinge wirkten, ohne es so recht zu merken, wohl etwas unzufrieden, weil wir, immer mal wieder erfolglos auf der Pirsch, länger schon hormonell geplagt waren, um es mal so zu sagen. Drei junge Männer, ein Sanguiniker, ein Phlegmatiker und ein Melancholiker, wenn man diese Zuordnung so stehen lassen kann. Ich hatte in jener Zeit schon Adler gelesen und war drauf und dran gewesen, Psychologie zu studieren, es kam dann aber anders. Auf der Hinfahrt hatten wir uns spaßeshalber charaktertypologisch zugeordnet und feine Spitznamen gegeben: Sang, Phleg und Mel.
Während wir dösend auf die See hinausblinzelten, erschien ganz gemessenen Schritts und für uns doch ziemlich plötzlich die schlanke Silhouette einer jungen Frau vorne am Felsen nahe am Wasser. Auch sie war wie wir völlig nackt, näherte sich noch ein Stück weit und setzte sich dann auf einen Stein. Ein traumhaftes Bild und ja, wir meinten wirklich zu träumen. Eine Weile verging. Sang stand alsbald auf, durchmaß ziemlich rasch die zwanzig Meter Entfernung und gesellte sich zu der anmutigen Fremden, die in etwa unser Alter gehabt haben mochte, vielleicht etwas jünger. Sie unterhielten sich ein Weilchen ganz ruhig und, soweit wir auf die Distanz verstanden, auf Englisch. Dann stand sie auf, und die beiden Nackten, sie und Sang, gingen einträchtig nach links über die Felsen davon. Phleg und ich blieben nervös und gedankenschwer zurück, irgendwie erstorben.
Gut zwei lange Stunden später kam unser mutiger Freund lächelnd zurück. Wir freuten uns, als er sich wieder zu uns setzte. Er schwieg. Aber wir waren doch sehr gespannt und fragten ihn unruhig: „Und?“ Er gab zurück: „Was und?“ Daraufhin wieder wir: Na ja, halt …“ Sang schien nicht zu verstehen. Fast unisono machten wir also das Zeichen zu dem, was wir dachten und definitiv wissen wollten. Mit der flachen Handfläche der linken Hand patsch auf die geschlossene Faust der rechten Hand. Ach so, gab, unser Sanguiniker zurück, nein nichts, wir haben uns nur miteinander unterhalten. „Es war schön.“ Entgeistert drehten wir uns ab. Es war also schön gewesen, aha! Ich glaube, wir sprachen bis zum Abendessen nichts mehr mit ihm. Erst dann regten wir uns wieder ab. Insgeheim aber bewunderten wir ihn.
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Sommer 1971, Baška otok Krk: Ich hatte gerade das Abitur gemacht und war zur Belohnung mit meiner Familie aus Cambridge, wo wir damals lebten, nach Baška auf Urlaub gekommen, mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder. Täglich hatten wir uns andere Stellen am Strand ausgesucht, felsige oder flache, sandige oder solche, die an manchen Stellen mit Seeigeln übersät waren. Es waren wunderschöne Tage, wir hatten den Strand fast immer für uns, die Saison war schon zu Ende gewesen. Am letzten Tag unseres Aufenthalts hatten meine Eltern genug von Sonne, Salz und Wasser. Sie wollten sich nochmal das Städtchen ansehen und auf diese Weise verabschieden. Für mich aber war das Meer, insbesondere dort, wo es Felsen gab, ein besonderer Traum gewesen. Das Glitzern des Wassers, die bunten Farben, die stetig, aber arrhythmisch anschlagenden Wellen, das Rauschen und Schäumen. Ich hatte keine Lust auf Stadt und sagte meinen Eltern, dass ich es vorzöge, allein zum Strand zu gehen. Sie willigten ein, sie meinten ja ihre naturverliebte, manchmal etwas zu still daherkommende Joy sehr gut zu verstehen.
Ich schlenderte mit meinem Handtuch gemächlich zum Strand und steuerte dann auf ein Sandterrain zu, das nach rechts durch einen lang gezogenen Felsen begrenzt war. Ich legte meine Kleider ab, setzte mich auf mein Handtuch und badete völlig allein Sonne. Ich dachte daran, dass nun bald der Urlaub vorbei sein würde und ein langes Studium auf mich wartete. Ich war gespannt und zugleich ein bisschen melancholisch gestimmt. Ich spürte eine innere Sehnsucht, die ich nicht näher eingrenzen konnte, es war fast wie ein kleiner Schwelbrand in meiner Seele. Nur das Grollen des Meeres und ab und an das Kreischen der Möwen waren zu hören. Ein letztes Mal ging ich ins Wasser, um etwas zu schwimmen. Ein herrliches Gefühl, so nackt allein im sprudelnden Nass!
Wie der Strand wohl auf der anderen Seite des Felsens aussah? Dort waren wir all die Tage nie gewesen. Ich beschloss, dies noch zu erkunden, ging am Wasserrand entlang zum Felsen und stieg über den Stein etwas hinauf. Ich sah sogleich, dass dort drüben Leben war, es gab Strandbesucher. Drei junge Männer lagen sonnenbadend auf ihren Handtüchern, nur mit ihren Kappen bekleidet.
Ich setzte meine Erkundung fort und stieg ganz langsam über den Felsen-ansatz zur jenseitigen Bucht hinab. Für einen kurzen Moment sah ich zu den drei Männern hinüber, die in etwa mein Alter haben mochten. Sie waren etwa 20 Meter entfernt. Auch sie hatten mich bereits bemerkt und einer von ihnen hatte sich aufgesetzt, wobei ihm seine Kappe heruntergefallen war. Ich setzte mich auf einen einzelnen Stein, der aus dem Sand ragte und blickte aufs Wasser. Nach einer Weile hörte ich hinter mir ein sachtes Knirschen im feuchten Muschelsand, das stärker wurde. Der trotz der Hitze frisch wirkende junge Mann ohne Kappe auf dem Kopf begrüßte mich mit einem „Hallo, darf ich mich setzen?“ Ja bitte, entgegnete ich auf Englisch. Wir plauderten eine Weile in meiner Muttersprache. Er sprach nicht sonderlich gut Englisch, aber ich sprach halt kein Deutsch. Er erklärte mir auch, warum. In einem altsprachlichen Gymnasium, ich glaube, er sagte so etwas wie Speyer, wo er, wie seine beiden Freunde auch, vor kurzem Abitur gemacht hatte, lernte man vor allem Griechisch und Latein. Das war spannend, welch ein Zufall, wollte ich doch Altphilologie in Cambridge studieren. In Griechisch und Latein hatte ich am College Bestnoten erzielt. Zur Freude meiner Eltern war ich in der Oberstufe gerade noch eine gute Schülerin geworden.
Wir beide, allzu prekäre Blicke in unserer Nacktheit geschmeidig vermeidend, erhoben uns, um ein bisschen am Ufer durchs Wasser zu waten und dabei weiter zu plaudern. Wir gingen langsam über den Felsen zurück, wo ich hergekommen war. Er war ein heiterer Typ, sehr anregend im Gespräch, lebendig. Und ich bemerkte erst jetzt, wie gut er aussah, so braun gebrannt, kraftvoll, fast etwas knochig. Ein Wuschelkopf. Während wir durchs flache Wasser streiften, legte er einmal ganz sanft und für Momente seinen Arm über meine Schulter. Es fühlte sich gut an.
Was mochten seine beiden Freunde denken? Wir bemerkten gar nicht so recht, dass schon gefühlte zwei Stunden vergangen waren, denn wir hatten uns so intensiv es eben auf Englisch möglich war, über Schule, Studium, unsere studentenbewegten Ziele und Kämpfe, Cambridge, Speyer und schließlich Gott und die Welt unterhalten. Sogar auf die berühmte Rede des Aristophanes bei Platons Gastmahl kamen wir irgendwie zu sprechen, die Sache mit dem Kugelmenschen und der Entstehung des Eros, wovon wir beide in der Schule gehört hatten. Wir waren uns nahe und überrascht, aber es wurde Zeit. Wir drehten wieder um und spazierten zurück in Richtung Felsen. Zum Abschied setzten wir uns nochmal in den Sand. Für Momente sah ich das Glitzern eines Sonnenstrahls in seinen Augen. Es war wie ein Blitzen, das elektrisierte …
Es war, hm, die Erinnerung, wie war das denn, ich muss nachdenken …
Wäre dieser junge Mann, denke ich, der sich als Sang vorgestellt hatte und den ich nie wieder gesehen habe, damals ein bisschen forscher gewesen, was ich ihm durchaus zutraute, sagen wir weniger kontrolliert trotz oder gerade wegen seiner während unseres Spaziergangs radarartig gewordenen Blicke, weniger, ja, das ist es, weniger nobel zurückhaltend, ich glaube, ich weiß nicht, hm … die überraschende Begegnung wäre vielleicht noch viel schöner geworden, als sie eh schon gewesen war – dort am Strand allein zu zweit auf dem warmen Sand. Sozusagen als Auftakt vielleicht für ein späteres, langes Wiedersehen.
Eigentlich schade, sehr schade, ich weiß nicht! Ach, Sang! So sang- und klanglos!
Fritz Feder