Die Tür des kleinen Second Hand-Buchladens im Hamburger Stadtquartier Mühlenkamp unweit der Alster wird aufgestoßen und herein tritt ein fremdländisch aussehender, älterer Herr mit Schnurrbart, der nur wenig der Klientel gleicht, an die sich der Buchhändler, ein Pianist zudem, über die Jahre gewöhnt hatte. „Darf ich sie etwas fragen?
Nur zu, gerne, erwidert der Buchhändler. „Ich bin Regisseur aus Korea und möchte gerne eine kleine Szene für eine poetische Liebeskomödie drehen. In Ihrem Laden, wenn es möglich wäre. Das wäre prima.“ Der musikalische Buchverkäufer zögert etwas und fixiert den nicht unsympathischen Fremden einen Moment lang. Für gewöhnlich gibt er Menschen, die er nicht kennt in seiner Offenheit einen Vertrauensvorschuss. So auch jetzt. „Wir können es probieren, ich selbst habe aber kein Talent.“
Einige Tage später erscheint der Fremde mit einem Kamerateam und zwei jungen koreanischen Frauen, die für die Drehszene vorgesehen sind, wieder im Laden. Er bittet den Buchhändler, sich an das morsche Klavier zu setzen, das in einer Ecke steht. Die beiden Schauspielerinnen nehmen ebenfalls auf Stühlen Platz und – wie vereinbart – spielt der Händler ein Schubert-Stück aus seinem Repertoire. Die beiden Frauen hören ihm schauspielerisch lächelnd zu. Nach einer Weile ist die Szene im Kasten. Das Team verabschiedet sich mit Bezeigungen der Dankbarkeit und guten Wünschen.
Wenige Monate später stirbt der seit langem erkrankte Buchhändler, der mir den Vorfall erzählt hatte, im Hospiz an den Folgen eines schweren Sarkoms. Sein Laden ist nun verwaist, auch das Klavier. Auf der pompösen Berlinale, noch einmal ein paar Wochen später, läuft im Wettbewerb der Film „On the beach alone at night“ nach einem Gedicht von Walt Withman. Für ein paar Momente sieht man darin auch die im Mühlenkamp gedrehte Szene. Der Film gewinnt den Silbernen Bären für die beste Leistung der koreanischen Hauptdarstellerin. Das Filmteam lächelt in die Kameras.
Der Buchhändler, der Pianist, der auch 400 Bilder und Collagen hinterlässt, war mein Bruder. Er konnte den Film nicht mehr sehen. Im Film spielt er nun Mal um Mal kurz seine Musik. Das träumerisch-kosmische Strand-Poem des Dichters Walt Withman, der wie mein Bruder Männer liebte, schwingt dabei aus der Ferne immer mit.
ON THE BEACH AT NIGHT ALONE
Walt Whitman (1819-1892)
N the beach at night alone,
As the old mother sways her to and fro singing her husky song,
As I watch the bright stars shining, I think a thought of the clef of the universes and of the future.
A vast similitude interlocks all,
All spheres, grown, ungrown, small, large, suns, moons, planets,
All distances of place however wide,
All distances of time, all inanimate forms,
All souls, all living bodies though they be ever so different, or in different worlds,
All gaseous, watery, vegetable, mineral processes, the fishes, the brutes,
All nations, colors, barbarisms, civilizations, languages,
All identities that have existed or may exist on this globe, or any globe,
All lives and deaths, all of the past, present, future,
This vast similitude spans them, and always has spann’d,
And shall forever span them and compactly hold and enclose them.