„Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne! Man muß an den Menschen verzweifeln“, schreibt Friedrich Kellner in sein Tagebuch. Verzweifelt stellte er fest, wie selbst klügerer Zeitgenossen auf die rechte Hetze hereinfielen.
Man könnte meinen, so ein Satz stamme frisch von einem an der postfaktischen Wirklichkeit verzweifelten Mitbürger, aber Kellner war ein Tagebuch schreibender deutscher Justizinspektor in der Nazizeit. Er schrieb diesen Satz am 26. September 1938 und sagte dazu später: „Ich konnte die Nazis damals nicht in der Gegenwart bekämpfen. Also entschloss ich mich, sie in der Zukunft zu bekämpfen.“ Mit seinen Augenzeugenberichten und Anmerkungen wollte er zeigen, wie es zur Nazibarbarei kommen konnte – als heilsame Mahnung für zukünftige Generationen.
Kellner, der nicht in die NSDAP eintreten wollte, wurde misstrauisch beäugt von den Nazibonzen seines Wohnortes in der hessischen Provinz. Man wollte ihn sogar in „Schutzhaft“ nehmen, kam jedoch letztendlich zur Ansicht, dass „Menschen vom Typ Kellner (…) viel zu intelligent“ seien, als dass man ihrer momentan habhaft werden könne. In der NSDAP- Ortsgruppe stellte man im März 1940 fest: „Wenn wir Leute vom Schlage Kellner fassen wollen, müssen wir sie aus ihren Schlupfwinkeln herauslocken und schuldig werden lassen. Ein anderer Weg steht zur Zeit nicht offen. Zu einem Vorgehen ähnlich dem seinerzeit gegen die Juden ist die Zeit noch nicht reif. Das kann erst nach dem Krieg erfolgen.“
Bis zum Kriegsende füllte Kellner zehn Hefte mit Kommentaren, Notizen, Zeitungsausschnitten, den sich mehrenden Todesanzeigen und Todesurteilen. Mitunter rechthaberisch, aber auch äußerst hellsichtig analysierte er die beschönigenden Heeresberichte und ordnete sie zumeist richtig ein. Interessant nicht nur seine Kommentare, sondern auch die Faksimile der Zeitungsartikel.
Das in zwei editierten Bänden erschienene 939 Seiten zählende Tagebuch
aus den Jahren 1939 bis 1945 ist ein außergewöhnliches Zeitdokument das zeigt, wie genau die Leute Bescheid wissen konnten, wenn sie nicht die Augen verschlossen. Kellner wusste sowohl von der Euthanasie im Reich, als auch von Massakern an russischen Kriegs-gefangenen und Juden im Osten.
Umso unglaubwürdiger ist das hartnäckige Leugnen im Nachkriegs-deutschland: von nichts gewusst.
Bereits am 28. Oktober 1941 berichtet Kellner: „Ein in Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in Polen.
Er hat gesehen, wie nackte Juden, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden und in den Graben fielen. Der Graben wurde dann zugeschaufelt, aus den Gräbern drangen oft noch Schreie!“
Kellner schrieb Ende 1941: „Die Nationalsozialisten sind stolz auf ihr Tierschutzgesetz.
Aber die Drangsale, die sie den Juden angedeihen lassen, beweist, daß sie die Juden schlechter als die Tiere gesetzlich behandeln.
Diese grausame, niederträchtige, sadistische, über Jahre dauernde Unterdrückung mit dem Endziel Ausrottung ist der größte Schandfleck auf der Ehre Deutschlands. Diese Schandtaten werden niemals wieder ausgelöscht werden können.“
Auch aus Kellners unmittelbarer Umgebung wurden jüdische Familien deportiert. Kellner wusste was ihnen blühte und schrieb: „Von gut unterrichteter Seite hörte ich, daß sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS-Formationen ermordet würden. Diese Grausamkeit ist furchtbar. Solche Schandtaten werden nie aus dem Buche der Menschheit getilgt werden können. Unsere Mörderregierung hat den Namen ‚Deutschland‘ für alle Zeiten besudelt.“
Die Tagebücher wurden zwar schon 2011 vom Wallstein Verlag veröffentlicht, sind aber gerade in heutigen Zeiten, in der es wieder genug vernebelte Hirne gibt, mehr als aktuell.
200 Seiten Anmerkungen ergänzen das Werk, das eine Anschaffung wert ist, um sich vor Augen zu führen, wie „die Verneblung der Hirne“ bei entsprechender Propaganda schnell voranschreiten kann.
Kellner zitiert Adolf Hitlers Satz aus „Mein Kampf“: „Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt.“ Mit Fakten hatte die von Kellner dargestellte Propaganda der Nazis, gerade am Ende des Krieges, nicht mehr das Geringste zu tun. Das Tagebuch endet am 17. Mai 1945 mit unverhohlener Freude über den Niedergang der Nazis. Für kurze Zeit wurde Kellner, der 1970 starb, stellvertretender Bürgermeister seines Wohnortes Laubach.
Sein in den USA gebürtiger Enkel, sorgte schließlich für die Veröffentlichung der Tagebücher. Zuerst in der George Bush Presidential Library in Texas.
Wie das zustande kam und das nicht so glückliche Schicksal der Nachfahren Kellners ist eine eigene Geschichte. Sie wird zum Schluss des zweibändigen Werkes kurz angerissen.
Friedrich Kellner, „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“, Tagebücher 1939-1945, herausgegeben von Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth, Wallstein Verlag, Göttingen, 2 Bde., 1134 S., 104 Abb., 59,90 €.