Walsers neuer Roman als Summe und Bilanz: „Mit der Unwahrheit ein Glückskunstwerk zu schaffen, das ist die menschliche Fähigkeit überhaupt.“ Wer sagt das? Den Widerstreit von Interessen jedenfalls hat er hinter sich gelassen, Gegner und Feinde auch, sein Wesenswunsch ist, sich herauszuhalten, zu schweigen, zu verstummen.
Am liebsten starrt er auf eine leere, musterlose Wand, sie bringt die Unruhe in seinem Kopf zur Ruhe. „Mir geht es ein bisschen zu gut“, sagt er sich dann, „zu träumen genügt“.
„Statt etwas oder Der letzte Rank“ ist ein Roman, in dem es in jedem Satz ums Ganze geht – von größter Intensität und Kraft der Empfindung, unvorhersehbar und schön. Ein verwobenes Gebilde, auch wenn es seine Verwobenheit nicht zeigen will oder sogar versteckt. Ein Musikstück aus Worten, das dem Leser größtmögliche Freiheit bietet, weil es von Freiheit getragen ist: der Freiheit des Denkens, des Schreibens, des Lebens. So nah am Rand der Formlosigkeit, ja so entfesselt hat Martin Walser noch nie geschrieben. Das fulminante Porträt eines Menschen, ein Roman, wie es noch keinen gab. Kurz vor seinem 90. Geburtstag erscheint sein neue Buch „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Er hat dabei jede Handlung hinter sich gelassen – ale einen großen Wurf:
„Eine Magdalena aus Warschau und eine Alexandra aus Freiburg, und du ausufernd.“ Das Leben kann schon ein Kreuz sein, besser gesagt eine ständige Abfolge von Kreuzungen oder Weggabelungen, bei denen dann jede Entscheidung die falsche ist: „A liebte dich, B liebte dich auch. Du liebtest A, und du liebtest B. Du hättest es für eine ins Beleidigende reichende Unhöflichkeit gehalten, eine ernst zu nehmende Liebe nicht zu erwidern.“ Eine ganze Arrmada gegen alles Treue-Brimborium.
Unhöflich aber wollte dabei der Erzähler in Martin Walsers neuem Buch „Statt etwas oder Der letzte Rank“ in seinem Leben niemals sein, nicht nur als Erotomane, schon als Kind wollte er alle Erwartungen erfüllen: „Das lerntest du, ohne dass du schon wusstest, was du tust, wenn du dein Benehmen so inszeniert hast, dass du möglichst viel Liebe erntest.“ Was also noch soll man sagen über ein Buch, dessen Autor bedauert, dass er immer noch Sätze braucht?
„Erstrebenswert wäre gewesen: Satzlosigkeit. Ein Schweigen, von dem nicht mehr die Rede sein müsste.“ Wie das geht – in der Sprache zu Hause zu sein und zugleich über sie hinaus zu gelangen – darum geht es in „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Das ist nicht unbedingt die Summe eines Lebens, aber ein Zielpunkt des Schreibens:
Endlich hat Martin Walser alles Handlungshafte hinter sich gelassen. Schon in seinen vorigen Büchern schlotterte die Romanform wie ein durchscheinendes Mäntelchen um den Sprachkörper. Jetzt endlich entstehen die Sätze pur. Walser kann jetzt sagen:
„Ich wollte nichts mehr wissen, nur noch sein.“
Das ist zugleich Erfüllung des Lebens wie auch Verabschiedung von der Welt.
Der Mann, der da spricht, starrt eine „leere, musterlose Wand“ an. Das ist, wenn man so will, alles, was sich ereignet. Das Erstaunliche: Alle Themen Walsers sind dennoch vorhanden. Sie werden aber vom Geschichtlichen entschlackt und aufs Wesentliche reduziert.
Alsdann, worum geht es? Um das Gewissen, das immer gar nicht anders sein kann, denn ein schlechtes Gewissen (sonst ist es keins). Um die Öffentlichkeit als Draußen-Welt und Draußen-Sprache, die mit ihren Ansprüchen und Urteilen dieses Ich unter Druck setzt. Es geht um das Geständnishafte, das immer dann auftritt, wenn es Sieger und Besiegte gibt.
Vor allem aber geht es immer wieder um Frauen (in unterschiedlichen Erscheinungsformen, also immer um diese oder jene konkret erscheinende Schönheit und darin zugleich um alle Frauen, die Frauheit schlechthin). Es geht um Erwartungen (denen nie entsprochen werden kann), um Sehnsucht (und um die Sehnsucht nach der Sehnsucht), um Schmerz (als Daseinssteigerung), um Glück und Unglück (was erstaunlicherweise bei Walser dasselbe ist), um Einsamkeit und darin und dadurch und darüber hinaus: um die Sprache selbst, ohne die nichts wäre, am wenigsten wir selbst.
Das Buch hat 52 Kapitel, so viele also wie ein Jahr Wochen hat. Keine Passage ist länger als zwanzig Seiten, die kürzesten bestehen nur aus einem oder zwei Sätzen, so wie diese:
„Fühl dich so unwichtig, wie du bist. Wenn dir das gelingt, darfst du bersten vor Stolz.“
Auch der Ausgangspunkt, aus dem sich alles Weitere ergibt, ist so ein einzelner Satz:
„Mir geht es ein bisschen zu gut.“
Mal entstehen daraus kleine Geschichten oder Szenen, mal handelt es sich um Träume, meist aber sind es Gedankenpassagen, die auf Wahrheit zielen, ohne sich dabei aber zu Gewissheiten zu verfestigen. Denn:
„Wie soll es in einer Wörterwelt Freiheit geben, in der es Gewissheit gibt.“
Wenn es heute noch eine Philosophie gäbe, die mehr wäre als das Herbeizitieren und Befußnoten von Sekundärtexten, dann könnte sie so sein wie dieses Buch. Es ist ein Denken in Bewegung, das aus der Empfindung heraus entsteht und Denken und Erleben als Einheit begreift. Es führt am Ende zur ultimativen Tautologie: „Ich bin, also bin ich.“ Das ist der Punkt, wo die Sprache anfängt zu tanzen oder: Der letzte Rank. Nichts mehr wissen, nur noch sein. Mehr geht nicht …
Rowohlt Verlag, Reinbek – Januar 2017
172 Seiten, 16,95 Euro
ISBN-10: 349807392
ISBN-13: 978-3498073923