wertsacheSchaut man auf die Grafik links, bieten sich verblüffende Informationen: „Was bist du wert?“, fragt fragt sie und verwandelt den menschlichen Körper in ein verblüffendes Warenlager, indem sie den Marktpreis der einzelnen Organe  am «richtigen» Platz anbringt: 954 englische Pfund für ein paar Augen, 318 für eine Speiseröhre, ebenfalls 318 für Knochenmark, 763 für eine Gallenblase und 954 für eine Prostata.
Das Gehirn des Betrachters bündelt einen Wust aus Daten zu einer sofortigen Erkenntnis. Das funktioniert im Idealfall wie eine gute Pointe. Was Wunder, dass Infografiken nicht nur fest zum Vokabular von Journalisten gehören, sondern sich inzwischen auch in den sozialen Netzwerken ausbreiten. Ja doch, wenn ein Bild mehr wert ist als tausend Worte, dann ist eine Grafik mehr wert als tausend Zahlen. Wobei der Wert der Bilder in den letzten Jahren deutlich gesunken ist. Was wiederum ein Grund für den Boom der Infografiken ist. Denn der eigentliche Grund, dass man ihnen so vertraut, ist ein tiefes Misstrauen.

gesperrte_zoneDer Krieg war zunächst mal schuld, genauer gesagt, der Golfkrieg von 1990. Der Journalistikprofessor Alberto Cairo von der University of Miami schreibt das in seinem Buch «The Functional Art: An Introduction to Information Graphics and Visualization». Auch der Grafiker Juan Velasco kommt in einer Studie des Savannah College of Art and Design zu dem Schluss. Während der Operation «Desert Storm» gab es erstmals einen von Militärbehörden kontrollierten «embedded» Journalismus, der unabhängige Berichterstattung und vor allem die Kriegsfotografie alter Schule unmöglich machte. Zeitungen und Zeitschriften, allen voran die «New York Times», machten die Schwäche wett, indem sie laut Velasco eine «nie zuvor gesehene Lawine von Informationsgrafiken mit Kriegskarten, Waffenplänen und dergleichen» produzierten.

Es half, dass sich Bildbearbeitungs- und Grafikprogramme damals gerade rasant entwickelten und Grafiker nun so schnell wie Reporter arbeiten konnten. Gleichzeitig stellten in den Achtziger- und Neunzigerjahren viele Zeitungen auf Farbdruck um. So konnten Grafiken erstmals so richtig strahlen. Einige Neugründungen dieser Zeit bauten gleich von Anfang an auf diese Bildsprache, die 1989 gegründete spanische Zeitung «El Mundo» zum Beispiel oder das 1993 gestartete deutsche Nachrichtenmagazin «Focus».

Information und Unterhaltung

minimalistischFür viele Zeitungen waren Grafiken indes noch lange nur hübsches Beiwerk. Doch dann brachte die Infografik «Anatomy of a Collapse» von Steve Duenes und Mike Grondahl der «New York Times» 2002 einen Pulitzerpreis, weil sie das Zusammenbrechen des World Trade Center nach den New Yorker Anschlägen des 11. September 2001 auf einer halben Seite so verständlich machte wie eine mehrseitige Reportage. Zur selben Zeit wurden Infografiken zu Popkultur. 2002 produzierte die norwegische Gruppe Röyksopp das Musikvideo zu ihrem Song «Remind Me» als animierte Infografik. 2004 nutzte ein Werbespot der französischen Energiefirma Areva die Ästhetik der Infografiken als Anzeigentaktik. Infografiker wie Alberto Cairo, David McCandless oder Aaron Koblin wurden zu Stars der Branche.

Sie sind aber nicht nur Datenjournalisten, sondern auch Unterhalter. Gerade deswegen funktioniert die neue Infografik in der Flut der Medien heute so gut. Sie illustriert eben nicht nur, sondern informiert genauso souverän und künstlerisch wie Texte, die ja auch längst literarischen Ansprüchen genügen müssen.

Am Anfang war das noch leichter. Als erste Infografik gilt jene Illustration, die am 7. April 1806 die Titelseite der «London Times», nun ja, nicht schmückte. Sie zeigte den Grundriss einer Wohnung, in der sich ein Mord abgespielt hatte, der «Blight Murder Case», mit den Laufwegen des Verdächtigen während des Ablaufs der blutigen Ereignisse. So wurde aus dem Polizeibericht ein Krimi.

Die Infografik illustriert eben nicht nur, sondern informiert genauso souverän und künstlerisch wie Texte.
Wie weit der Weg der letzten 110 Jahre war, kann man gut nachvollziehen, wenn man durch einen der neuen Infografikbände blättert. Das im Taschen-Verlag erschienene Standardwerk «Information Graphics» (hrsg. von Julius Wiedemann und Sandra Rendgen, 480 S., ca. 80 Fr.) zeigt in 400 Beispielen, zu welcher Kunstform die Präsentation einer komplexen Fülle von Daten erhoben werden kann, wenn Witz, Kreativität und Präzision in einer Infografik zusammenfinden. Da wird sogar die bedrohlich wachsende Menge von Elektroschrott begreifbar, wenn sie in Form eines Totenkopfs aufbereitet ist. Inzwischen steht die Infografik gleichberechtigt neben dem Fotojournalismus. Das führt inzwischen sogar zu Personalknappheit. «Es gibt einen steigenden Bedarf an visueller Kommunikation», sagt Stefan Fichtel, Gründer der Berliner Agentur Ixtract. «Dementsprechend gibt es einen erhöhten Bedarf an Grafikern, die sie erstellen können. Doch da liegt das Problem.»

Fichtels Agentur ist auf Infografiken spezialisiert, die für internationale Grosskunden und Institutionen erstellt werden. Sein Problem besteht darin, dass er, um die starke Nachfrage nach solchen Visualisierungen bedienen zu können, Spezialisten benötigt, die beides sind: Grafiker und Informatiker, die Statistiken und Big Data lesen und erkennen können, wo im Rauschen der Daten die relevante Information liegt. «Eine Ausbildung zu Fachleuten, die diesen Spagat beherrschen», so Fichtel, «ist praktisch nicht vorhanden. Entweder kommen Leute aus dem IT-Bereich, dann verstehen sie das Problem, können es aber nicht visuell kommunizieren. Oder sie sind reine Grafiker, die schöne Wimmelbilder als Begleitillustrationen von Texten anbieten.» Das aber sei «Chartjunk», statistischer Müll als buntes Bild.

Um über eine Illustration zu einer Aussage zu gelangen, muss die visuell aufbereitete Information wie ein Text funktionieren. Ganz im Sinne übrigens von Jacques Bertin, der in «Semiology of Graphics» von einer «visuellen Form» spricht, die in kürzester Zeit Bedeutung transportiert. Drei Sekunden Aufmerksamkeit schenkt ein Betrachter einer visuellen Botschaft. In dieser Zeit muss er ein Bild begreifen.

Überfluss an Daten

Was hat eigentlich Fotografie und Film als Königsdisziplinen zur Darstellung und Erklärung der Welt entthront? Führen sie doch unmittelbar vor Augen, was ist und wie es geschah. Und was bedeutet diese Umorientierung zu visuell aufbereitetem Wissen, die Infografiken ja sind, für unser Bild von der Welt?

Eine pragmatische Antwort darauf ist sicherlich, dass die Digitalisierung zu einem Überfluss an Daten geführt hat, die Information nicht mehr aus sich heraus evident werden lassen. Nach Juan Enríquez, dem Autor von «As the Future Catches You», hat die Welt seit 1986 1,8 Zettabytes an Daten angehäuft (ein Zettabyte ist eine 1 mit 21 Nullen). Die überblickt kein Computer mehr. Es besteht also heute mehr denn je die Notwendigkeit, Übersicht zu gewinnen.

Zum andern aber sind inzwischen eben wegen dieser Digitalisierung auch Fotos Teil des nicht abreissenden Datenstroms geworden. Weil die im Zeitalter von Photoshop aber wieder und wieder manipuliert wurden, sitzt das Misstrauen tief. Das einstige Medium des dokumentarischen Belegs hat die Unschuld verloren. Weil aber Film und Foto nun unter dem Rechtfertigungsdruck stehen, ihre Wahrhaftigkeit beweisen zu müssen, während andererseits ein Übermass an Information nach Sichtung und Verdichtung verlangt, ist die Infografik das Reduktionsmittel der Wahl zur Informationsvermittlung. Damit schliesst sie wieder an die ursprüngliche Konzeption von Grafik an.

Neue Drucktechniken erlauben farbige Reproduktionen.

Wenn man die «Art Cyclopedia», das Referenzportal für Kunst- und Designgeschichte im Netz, danach befragt, was das «Goldene Zeitalter der Illustration» gewesen sei, dann erhält man die Antwort: zwischen 1880 und 1920. Denn ab da kamen – ähnlich wie beim Boom der Infografik in den Jahren zwischen «Desert Storm» und 9/11 – künstlerische und technische Faktoren zusammen. Neue Drucktechniken erlaubten farbige Reproduktionen. Die Bevölkerung verstädterte im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung immer mehr, und damit wuchs die Zahl der urbanen Leser.

Die Eisenbahn erleichterte die schnelle Verbreitung von Magazinen über Kontinente hinweg. «Harper’s Monthly», «Collier’s» oder «Scribner’s» erzielten riesige Auflagen. Für Künstler und Illustratoren ergab sich plötzlich die Chance, ein breites Publikum zu erreichen. Der entstehende Boom der Illustration adelte die Illustratoren. Auch für Analphabeten ?Und es entstanden Projekte wie das «Isotype», das in den Zwanzigerjahren um den Wiener Sozial- und Wissenschaftsphilosophen Otto Neurath und den Kölner Grafiker Gerd Arntz begründet wurde. Dieses International System of Typographic Picture Education wollte ähnlich wie das sachliche Bauhaus mit den klaren, schnörkellosen Mitteln des auf Minimalismus eingedampften deutschen Expressionismus und des russischen Konstruktivismus sogar Analphabeten dazu bringen, über das Medium der Grafik komplexe soziale, politische wie wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen.

Diese Rückbindung der Infografik an die Wurzeln der klassischen Illustration macht den Siegeszug der welterklärenden Bilder deutlich: Sie vermitteln ein Verständnis von Welt. Die oft schockierenden Bilder der Kriegsfotografie mögen die unmittelbare Wirklichkeit belegen. Doch gegen die Deutungshoheit der Infografik bleiben sie schlichte Dokumente. Brauchen wird man auch in Zukunft beide: die Fotografie als den Beleg von Geschehen und die Infografik als dessen Deutung. Nur wenn sie nebeneinander wirken, wird man die Welt wenigstens ein bisschen besser verstehen.

Jan 2017 | Allgemein | Kommentieren