artk_c3d_1017580_0001-tif„Wahrscheinlich ist dies Buch das schönste Buch des vergangenen Jahres“. Herausgeber ist Ulrich Johannes Schneider, der Direktor der Leipziger Universitätsbibliothek. Dort ist auch noch bis zum 29. Januar 2017 die Ausstellung geöffnet, zu der dieses Buch gehört. Bei beiden geht es um die Erfindung der gedruckten Buchseite. Die jetzt – ein halbes Jahrtausend später – dabei ist, wieder abgeschafft zu werden. Die Buchseite ist zu einem abgeschlossenen Sammelgebiet geworden, gleich nach der DDR und der Sowjetunion. Für eine jede noch zu schreibende neue Geschichte der Anfänge liefert „Textkünste“ ein unverzichtbares Exempel.

Dass das Neue mehr ge- als erfunden wird, das machen Herausgeber und Autoren deutlich. Das wird nicht nur dem Besucher der Ausstellung sondern auch dem Leser des Buches anschaulich vor Augen geführt.

Vor dem Beginn von Schneiders Einleitung steht ein Valéry-Zitat aus dem Jahre 1959, das in der dem Autor eigenen Verbindung von Abstraktion, Schönheit und Klarheit sagt, worum es im Folgenden gehen wird: „Eine Seite ist ein Bild. Sie vermittelt einen Gesamteindruck; sie stellt ein Geviert vor uns oder ein Gefüge aus Gevierten und Strichen, geschwärzter oder weiß gelassener Flächen, einen Fleck von mehr oder weniger glücklicher Bildwirkung und Eindringlichkeit.“

schriftenBild links: Ende eines Buches: Karlstadt, 1524. Bild mitte: Spaltenende mittig auf der Seite: Bibel, 1518. Bild rechts: Spaltenübergang im Text: Jacob ben Asher, 1490

 

Darauf folgen Schneiders erste Sätze. Sie gehen aus von heute, von dem, was nach der Druckseite kam: „Seitdem Texte elektronische Daten sind, die durch Computer bearbeitet werden, gibt es neue Anforderungen an die Formatierung von Texten. Wenn Buchstaben, Wörter, Satzzeichen und alle traditionell von Gestaltern und Druckern benutzten Merkmale des Textlayouts digital werden, steht deren Darstellung prinzipiell allem offen, was durch Textverarbeitungsprogramme realisiert werden kann. Die Wiedergabe auf Bildschirmen variabler Größe erfordert darüber hinaus eine programmierte Flexibilität der Textformatierung, die gewissermaßen im Dialog mit den Geräten ausgehandelt werden muss (daher der englische Ausdruck ‚responsive design‘ für sich den Geräten anpassende Text- und Bildformate). Auf den gängigen Bildschirmmedien gibt es inzwischen viele Formen der konsekutiven Verknüpfung von (Bildern und) Texten, die deren Verschiebung bzw. Fortsetzung nach links oder rechts, nach oben oder unten erlauben. Diese ästhetischen Anmutungen ähneln Schriftrollen (engl. scrolls) und entgrenzen die Druckseite, deren Existenz an ein Blatt bestimmter Größe gebunden bleibt. Neue Möglichkeiten der Lesbarkeit ergeben sich, weil Textseiten in neue Nachbarschaften zu anderen Textseiten gebracht werden können. Was einmal Umblättern war, ist im Bereich digitaler Texte durch Befehle ersetzt, die sowohl Weiterlesen wie Weiterspringen erlauben. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen; neue Geräte werden neue Lesegewohnheiten ausbilden, neue Programme noch ungeahnte Darstellungsmöglichkeiten eröffnen.“

Ein gar zu langes Zitat finden Sie? So lange brauchte ich, um zu begreifen, dass die Gegenwart aus der Vergangenheit erklärt werden mag, dass man sie aber erst verstehen wird, wenn auch sie zur Vergangenheit geworden ist, man also von der Zukunft her auf sie sehen kann. Selbst kritische Köpfe neigen dazu, wenn nicht gar die Gegenwart als die beste der möglichen Welten, sie doch als Endpunkt einer Entwicklung zu sehen. Kaum jemand kommt auf die Idee, sie als eine Durchgangsstation oder gar als einen bald wieder verlassenen Seitenpfad der Geschichte zu erkennen. Dem Blick des Historikers kulminiert alle Vergangenheit in der Gegenwart. Dagegen wissen wir doch nur zu gut, wie viel von dem angeblich längst Überholten in der Zukunft noch gewaltige Wirkungen getan hat. Fast zwei Jahrtausende kümmerte sich kaum jemand um die Tragödie des klassischen Griechenlands. Bis dann ein paar Künstler und Gelehrte sie wiederbelebten. Es war die Geburtsstunde von etwas radikal Neuem, der Oper. Rache fürs Amselfeld forderte Serbiens Milosevic und wieder war Krieg mitten in Europa.

Erst die Zukunft, in der wir leben, zeigt uns die Schwächen, die eklatanten Mängel der Druckseite. Zu denen, auf die Schneider uns hinweist, kommen noch viele andere. Eine der faszinierendsten Schönheiten des digitalen Textes ist die Möglichkeit, seine Geschichte einsehen zu können. „Frühere Fassungen“ ist das Zauberwort. Jeder Text, das sieht jetzt jeder Schreiber, ist ein Palimpsest. Er ist transparent. Auch seinem Autor. So schleppen wir unsere Vergangenheit immer mit uns mit? Nein. An der Oberfläche kann alles aussehen, als wäre es mit einem Schlag – „am Anfang war das Wort“ – geschaffen worden. Wer aber diesem Mythos nicht traut, der kann Lage für Lage betrachten und die Schichten des Bildes eine nach der anderen offenlegen und sich womöglich für eine andere Fassung begeistern als der Autor es tat.

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Bild links: Seite der Gutenbergbibel, ca. 1455, mit Textblöcken in zwei Spalten. Bild rechts: Seite aus Luthers Bibelübersetzung, 1522, mit deutlich erkennbaren Absätzen

Die Druckseite! Zurück zur Druckseite! Am Anfang des Buches steht eine Stelle aus dem Peloponnesischen Krieg von Thukydides. Es handelt sich um die lateinische Übersetzung des 400 v.u.Z. gestorbenen griechischen Historikers. Es ist der Erstdruck von ca. 1483. Mit welcher Liebe zum Detail Ausstellung und Buch gemacht sind, ahnt der Leser, wenn er erfährt, dass die gezeigte Textstelle davon handelt, dass eine Epidemie während des Krieges mehr Tote forderte als die Kampfhandlungen. Wie selten erinnern wir uns daran, dass das Gleiche gilt für die Grippe nach dem Ersten Weltkrieg. Und natürlich freue ich mich auch darüber, dass es Lorenzo Vallas (1405 -1457) Übersetzung ist, die in der Vitrine liegt. Zuvor hatte der römische Humanist, einer der Begründer modener, europäischer Textkritik, das Schriftstück, in dem Konstantin der Kirche angeblich Rom, Italien und den Erdkreis (daher „urbi et orbi“) geschenkt hatte, als Fälschung nachgewiesen. Die Thukydides-Druckseite ist ein geschlossener, absatzloser Block. Ein Meisterwerk der Abstraktion. Exakt das Geviert, von dem Paul Valéry sprach.

Ganz anders sieht die 1481 entstandene Druckseite aus der Naturgeschichte des Plinius aus. Hier gibt es Absätze, eine Überschrift über einem jeden der fünf. Dazu kommen Initiale. Eine völlig neue Unübersichtlichkeit, entstanden – wie so oft – beim Versuch, Übersichtlichkeit herzustellen. Wer zu sehr gliedert, kommt leicht durcheinander. Jedenfalls muss er sich neue Gliederungssysteme ausdenken. Man stelle sich Wittgensteins Tractatus mit Kapitelüberschriften und Unterkapitelüberschriften durchgestylt vor: Nichts wäre übrig von dem Schein der Luzidität, der dadurch erzeugt wird, dass nahezu jeder Satz in einem Zahlensystem seinen genauen Ort hat. Das liest sich dann so: „1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. 1.11 Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind.“ Gleichzeitig gilt aber auch 5.553 „Eine ausgezeichnete Zahl gibt es nicht“. Das lässt darauf hoffen, dass Ordnung und Hierarchie nicht immer eins sind. Wer aber bis zum Ende liest, der erfährt, dass er sich auf einer Leiter bewegte, die er jetzt, da er oben ist, wegwerfen muss, um die Welt richtig zu sehen. Wer hier, Satz 6.54, noch nicht begriffen hat, dass der Tractatus logico philosophicus eine Himmelsleiter, ein fast der gesamten Menschheit vertrautes Bildmotiv, ist, dem wird es mit dem nächsten, der Nummer 7, dem berühmten letzten Satz überdeutlich gesagt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

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Bild links: Johannes Eck: De primatu Petri adversus Ludderum [Für die Vorherrschaft des Papstes, gegen Luther lat.], Paris: Conrad Resch, 1521 [BmL: Rés 109182 / UBL: Syst.Theol.74]. Bild rechts: Plinius: Historia naturalis [Naturkunde, lat.], Parma: Andrea Portilia, 1481 [UBL: Med.lat.7 / BmL: Rés Inc 944]

Beim Versuch, eine Seite so zu gliedern, dass die Argumentation, der Gedankengang auch optisch erfasst werden kann, lässt sich verstehen, worum es geht, schon bevor man den Text liest. Wenn es verschiedene Hervorhebungssysteme gibt, dann entsteht ein verwirrender Schilderwald. Auf der Plinius-Seite dienen Überschrift und Initial dem gleichen Ziel: Sie markieren den Beginn eines neuen Kapitels. Die Überschriften sind nicht größer als der Fließtext. Sie sind nur mittig dazwischen eingeklemmt. Die Kapitel haben sehr unterschiedliche Längen. Die Initiale in einem Buch der insgesamt siebenundreißig Bücher umfassenden Enzyklopädie des Plinius haben in dieser Ausgabe stets die gleiche Größe. Nur wenn neue Bücher beginnen, werden sowohl Initiale wie Überschriften größer. Für die in einem weiteren Arbeitsgang abwechselnd in rot und schwarz wohl mit der Hand eingetragenen Initiale ließ der Drucker Platz frei. Wer genau hinschaut, sieht noch den Kleinbuchstaben, mit dem er dem „Maler“ mitteilte, welchen Buchstaben der hinzufügen sollte.

Beim Lesen in „Textkünste“ wird einem auch klar, dass die Gestaltung der Druckseite auch als mnemotechnische Hilfeleistung gedacht werden kann. Jeder Leser weiß, dass er sich noch erinnert: das Wort „Einzelkind“ stand rechts unten. Das geht auf einem E-Reader nicht mehr. Dafür gibt es die Suchfunktion. Sie versagt aber, wenn ich mich nicht mehr erinnere, an was ich mich erinnern wollte und nur noch weiß: auf irgendeiner rechten Seite des zweiten, dritten oder vierten Kapitels stand etwas, das ich mir unbedingt merken wollte. Aber das sagte uns ja Ulrich Johannes Schneider schon im letzten seiner vorne zitierten ersten Sätze: Neue Programme werden noch ungeahnte Darstellungsmöglichkeiten eröffnen.

Natürlich zeigen uns Ausstellung und Buch auch, wie Text und Bild zusammengefügt werden, wie Anmerkungen und Anmerkungen zu Anmerkungen auf einer Druckseite dargestellt wurden, dass Texte eingebettet wurden in ihren Kommentar. In manchen Drucken gibt es von späteren Leser hinzugefügte Anmerkungen, Korrekturen und verwandte Formen der Textverarbeitung. Die Ausstellung ist eine Gemeinschaftsarbeit der Universitätsbibliothek Leipzig und der Bibliothèque municipale de Lyon, auf deren offenbar riesigen Bestand früher Drucke auch zurückgegriffen wurde.

Unbedingt erwähnt werden muss Dona Abboud, die dieses Buch über die Textkunst um 1500 zu einem Meisterwerk des 21. Jahrhunderts gemacht hat. Die 34-jährige studierte von 2011 bis 2016 Typografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Zur Zeit ist sie in ihrer Heimatstadt Damaskus. Sie hat gerade ein Buch über Syrien herausgebracht über ihre Erfahrung, von Leipzig aus in erster Linie über Facebook zu erfahren, wie es Verwandten, Freunden und der Heimat geht: Dona Abboud: „Out of Syria, inside Facebook“ – 224 Seiten, 20 Euro.

Ein – zu guter Letzt – Wort an die Adresse der Stiftung Buchkunst: Das hier gehört zu den schönsten Büchern des Jahres! Es sollte unbedingt von Ihnen prämiert werden:

Textkünste – Buchrevolution um 1500, hrsg. von Ulrich Johannes Schneider, Philipp von Zabern, Darmstadt 2016, 224 Seiten mit ca. 300 farb. Abbildungen und 1 Ausklapptafel, Bibliographie und Glossar, gebunden mit SU. Zabern, 19,95 Euro. Zur Zeit vergriffen, Nachauflage in Vorbereitung.
ISBN: 9783805350273

 

Jan 2017 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton | Kommentieren