[1]Die junge Pip Tyler weiß nicht, wer ihr Vater ist. Das ist keineswegs ihr einziges Problem: Sie hat Studienschulden, ihr Bürojob in Oakland ist eine Sackgasse, sie liebt einen verheirateten Mann, und ihre Mutter erdrückt sie mit Liebe und Geheimniskrämerei. Pip weiß weder, wo und wann sie geboren wurde, noch kennt sie den wirklichen Namen und Geburtstag ihrer Mutter. Als ihr eines Tages eine Deutsche beim „Sunlight Project“ des Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum anbietet, hofft sie, dass der ihr mit seinem Internet-Journalismus bei der Vatersuche helfen kann.
Sie stellt ihre Mutter vor die Wahl: Entweder sie lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft, oder Pip macht sich auf nach Bolivien, wo Andreas Wolf im Schutz einer paradiesischen Bergwelt sein Enthüllungswerk vollbringt. Und wenig später bricht sie auf.
«Unschuld», eine tiefschwarze Komödie über jugendlichen Idealismus, maßlose Treue und den Kampf zwischen den Geschlechtern, handelt von Schuld in den unterschiedlichsten Facetten: Andreas Wolf, in Ost-Berlin als Sohn eines hochrangigen DDR-Politfunktionärs geboren, hat aus Liebe zu einer Frau vor Jahren ein Verbrechen begangen; ein Amerikaner, dem er in den Wirren des Berliner Mauerfalls begegnet, hat den Kinderwunsch seiner Frau nicht erfüllt und sie dann verlassen; dessen neue Lebensgefährtin kann ihrem Ehemann, der im Rollstuhl sitzt, nicht den Rücken kehren und pflegt ihn weiter … In diesem fulminanten amerikanisch-deutschen Gesellschaftsroman eines der größten, sprachmächtigsten Autoren unserer Zeit überschlagen sich die Ereignisse. Und bannen den Leser bis zum Schluss.
Purity Tyler hasst ihren Vornamen – wer will schon «rein» sein? Pip, wie sie von allen genannt wird, weiß weder, wer ihr Vater ist, noch weshalb ihre Mutter ein Freakleben führt. Auf Umwegen lernt sie einen Deutschen kennen, von dem sie sich Hinweise auf ihre Herkunft erhofft: Andreas Wolf, abtrünniger Sohn eines DDR-Politfunktionärs, ist nach dem Fall der Mauer als Whistleblower weltberühmt geworden. Pip bricht nach Bolivien auf, von wo aus der mit Haftbefehl Gesuchte seine Enthüllungsplattform «Sunlight Project» organisiert …
Glänzend übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, ist Jonathan Franzens Opus magnum. Ein Roman über familiäre Abgründe, das Internet und den Kampf zwischen den Geschlechtern – ein Buch mit dem «Anspruch, den Geist einer Epoche einzufangen.
Unschuldig ist hier keiner
In «Unschuld» geht es praktisch um alles. Um Stasi-Terror, sexuellen Missbrauch, Datenwahn im Intenet, Veganismus, WikiLeaks, Julian Assange und Edward Snowden, Feminismus und Antifeminismus, Sexsucht, Widerstand in totalitären Strukturen. Und natürlich um all das, was man in Ingmar Bergmans Film «Szenen einer Ehe» so unvergesslich und so unerträglich brillant fand. Was er zeigen wolle, erklärt der Autor im Interview, sei der «komplette Schiffbruch in all seiner Brutalität». Wie Jonathan Franzen in diesem aus sieben novellenartigen Unterbüchern bestehenden Roman all seine Figuren und Themen erzählerisch zusammenbringt, ist phänomenal:
Andreas Wolf, Jahrgang 1960. (Fiktiver) Neffe zweiten Grades des (realen) DDR-Spionagechefs Markus Wolf. Andreas‘ Eltern zählten in der DDR zur Elite: der Vater Staatssekretär, die Mutter linientreue Anglistikdozentin. Wegen seines Hangs zu regimekritischen Gedichten findet er Unterschlupf in einer Kirche, wo er an seinem Dissidenten-Image feilt und reihenweise junge Mädchen verführt. Nach dem Fall der Mauer wird er mit dem weltweit operierenden «Sunlight Project» in der bolivianischen Hochebene und einer ganzen Hacker-Armada zu einem der bekanntesten Whistleblower – und zum Gegenspieler von WikiLeaks-Guru Julian Assange. Aber der «blonde Prinz der Karl-Marx-Allee» schleppt ein düsteres Geheimnis mit sich herum, das nur einer kennt:
Tom Aberant, Chefredakteur des Online-Pressedienstes Denver Independent. Damals, in Ostberlin, wurde der amerikanische Investigativjournalist zum Mitwisser einer Mordtat: Um der unnahbaren, berückend schönen Annagret zu helfen, hat Andreas ihren pädophilen Stiefvater (und Stasispitzel) erschlagen. Auch wenn die Tat unentdeckt blieb: Als Mitwisser des Mordes ist Tom Aberant ein Leben lang an Andreas Wolf gekettet.
Purity «Pip» Tyler. Die 23-jährige Pip ist klug, lustig und erfrischend aufmüpfig. Sie lebt mit einer bunten Schar von Weltverbesserern in einem besetzten Haus in Oakland, Kalifornien, jobbt als Telefonvermarkterin für Ökostrom. Das Drama, die Leerstelle ihres Lebens ist der unbekannte Vater – ihre Mutter Anabel weigert sich, den Namen ihres Erzeugers preiszugeben. Die Suche nach ihrem Vater, dem großen Unbekannten, treibt sie in die Arme des charismatischen Deutschen. Als Praktikantin des «Sunlight Project» soll ihr Wolfs Spionagesoftware den Weg zu ihrem Vater bahnen …
Anabel Laird: Pips Mutter, Möchtegern-Avantgardekünstlerin und Feministin von militant-moralischem Zuschnitt. Um ihrer milliardenschweren Familie zu entkommen, erzieht sie ihre Tochter in Armut. Anabels ethischer Rigorismus, ihre erdrückende Mutterliebe treiben Pip von ihr fort, in vier exzessive Collegejahre hinein, an deren Ende sie mit einem Schuldenberg von 130.000 Dollar dasteht.
Geheimnis und Verrat, Schuld und Kontrollwahn
Wer Franzens «Korrekturen» oder «Freiheit» gelesen hat, kennt den 56-Jährigen als streitbaren, temperamentvollen Geist. Bekanntlich kann der bekennende Traditionalist, der Facebook- und Twitter-Verächter Franzen mit dem Social-Media-Hype nichts anfangen, auch mit Umweltschützern, wütenden Feministinnen, Oprah Winfrey und dem Chefkritiker der New York Times hat Franzen sich angelegt. Viel Feind, viel Ehr.
Es stört ihn nicht, dass seine Internet-Aversion von vielen als konservative Kulturkritik attackiert wird, im Gegenteil. «Die IT-Industrie ist eine Fabrik für Idiotie und falsche Versprechen», erklärt Jonathan Franzen kurz und bündig. Überraschend kommt die These von der Wesensähnlichkeit von DDR und Internet als zwei totalitären Systemen also nicht daher: So wie die untergegangene Ulbricht-Honecker-Republik ihre Bürger eingesperrt habe, so freiheitsbedrohend sei das Netz mit seinem totalitären Datenzugriff auf unsere Existenz. Eine Analogie, so waghalsig wie faszinierend:
«Unschuld», glänzend übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, ist Jonathan Franzens Opus magnum. Ein Roman über familiäre Abgründe, das Internet und den Kampf zwischen den Geschlechtern – ein Buch mit dem «Anspruch, den Geist einer Epoche einzufangen»
ISBN 978 3 498 02137 5 Leseprobe [2]