[1]Im amerikanischen Wahlkampf kommen viele Journalisten ihrer Sorgfaltspflicht nicht mehr nach.
Sie setzen die erfahrene Clinton und den politischen Dilettanten Trump gleich. Doch diese Komplexitätsreduktion gibt es nicht nur in Amerika.
Nach der Präsidentschaftsdebatte zwischen Hillary Clinton und Donald Trump hielt man ihn endgültig für erledigt – eigentlich …
Clinton argumentierte sachlich und mit politischem Verstand. Ihr republikanischer Konkurrent schniefte, als habe er gerade gekokst, fiel Clinton ins Wort und fabulierte ziemlich viel zusammen. Kurzum, Trump war der Rüpel, den man nicht auf seiner Party haben will, geschweige denn im Weißen Haus. Sieben Tage später, liegen die Ergebnisse einer von CNN in Auftrag gegebenen Umfrage vor. Ist es das Aus für Donald Trump? Weit gefehlt. Immer noch wollen 42 Prozent der Amerikaner ihn wählen. Clinton führt mit nur mageren fünf Prozentpunkten.
Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass ein solches (und dafür entschuldige ich mich nicht): Arschloch neben einer in der Weltpolitik erfahrenen Frau wie Hillary Clinton überhaupt bestehen kann? Dass jemand wie er ernsthafte Aussichten hat, das wichtigste Amt der Welt zu übernehmen? Jemand, den Nicholas Kristof in der „New York Times“ vor kurzem als „Verrückten“ bezeichnete. Jemand, der zumindest eine so starke narzisstische Störung hat, dass er ihren Impulsen alles unterordnet, wie er 80 Millionen Fernsehzuschauern in der Debatte eindrücklich bewies?
Wir kennen die üblichen Begründungen: Die Regierung hat sich in den vergangenen Jahren vor allem auf Minderheiten fokussiert, während sich die Mittelschicht finanziell in die Enge getrieben fühlt. Ganze Industrien sind weggestorben. Die Arbeitslosen werden ins System eingepreist und verwaltet. Menschen fühlen sich von Politikern nicht mehr respektiert. Sie sehnen sich nach etwas völlig Anderem. Doch dass die amerikanischen Bürger diese Alternative in Trump sehen, haben auch Journalisten zu verantworten. Monatelang haben vor allem die großen Fernsehsender und Massenmedien den Amerikanern suggeriert, dass Clinton aus genau demselben Holz wie er geschnitzt sei.
[2]Jede ihrer politischen Dummheiten wurde zum Skandal aufgeblasen. Aufgeregte Moderatoren kauten selbst Vorwürfe, die sich bald als substanzlos erwiesen, wochenlang wieder, wie jenen, dass sie in Entscheidungen als Außenministerin Interessen der Clinton- Stiftung berücksichtigt habe.
Und plötzlich stand sie gleichauf mit einem politischen Dilettanten, der den russischen Autokraten Putin bewundert, für mehr Atomwaffen plädiert, Frauen, Muslime und Lateinamerikaner beleidigt, Spenden an seine Stiftung für private Zwecke nutzt und nachweislich in mehr als der Hälfte seiner Behauptungen lügt. Dennoch halten ihn 45 Prozent der Wähler für ehrlich und vertrauenswürdig. Clinton? Gerade mal 41 Prozent.
Sie hat zweifellos Fehler gemacht. E-Mails einer Außenministerin auf einem privaten Server zu horten, ist wahrscheinlich nicht nur dämlich, sondern riskant. Doch der Satiriker John Oliver bringt es wunderbar auf den Punkt. Wenn man Charaktermängel von Hillary Clinton und Donald Trump mit Rosinen vergleiche, sagt Oliver – gerade mit einem Emmy ausgezeichnet – dann könne man sich Hillary als einen dieser Cookies mit eingebackenen Rosinen vorstellen. Charaktermängel, die keiner möge, die jeder Politiker aber leider nun mal habe, sie wohl mehr als andere. „Trump dagegen?“, faucht Oliver in die Kamera, während er in herunterregnenden Rosinen zu verschwinden droht, „He is a fucking raisin monsoon.“
Vernachlässigen wir einmal die Frage, wie viel Sexismus in dem merkwürdigen Hang mancher Journalisten zur Gleichmacherei eigentlich steckt. Oder doch nicht. Man kann sie nämlich rasend schnell beantworten. Man stelle sich einfach vor, Donald Trump wäre die Frau und Clinton der Mann. Wo stünde Frau Trump heute im Wahlkampf? Wahrscheinlich nirgendwo mehr.
Daneben wäre interessant zu erfahren, wie sich die Tendenz zur Egalisierung mit der Aufgabe verträgt, die Journalisten (zu haben) haben. Nämlich Fakten zu erklären, einzuordnen und komplexe Sachverhalte so aufzudröseln, dass sie jeder versteht. „Der Leser muss seiner Frau beim Lesen seiner Zeitung zurufen können, ‚Hast du das schon gewusst?‘“ pflegte unser Lehrer in der Journalistenschule zu sagen. Heute würde der Leser rufen: „Hast du schon gewusst, dass Clinton und Trump korrupt und unfähig sind? Die sind beide völlig ungeeignet.“ Das ist objektiv nicht wahr.
Selbst wenn sich der Drang, alles über einen Kamm zu scheren, also aus dem Wunsch der betreffenden Journalisten erklärt, Bürger umfassend zu informieren und dabei beide Kandidaten fair zu behandeln, verfehlen sie ihr Ziel.
Ungleiches darf man ungleich behandeln. In diesem Fall muss man es. Weil man die Bürger sonst nicht informiert, sondern irreleitet. Es ist nicht alles gleich. Selbst wenn sich Verhalten ähnelt – gemessen an persönlichen Umständen, Motivation, Geschichte und anderen Hintergründen kann es sich einmal als unmoralisch darstellen, unredlich und undemokratisch, und ein andermal nicht.
Umfragen
Und mit hoher Wahrscheinlichkeit wissen die betreffenden Journalisten das. Sie wissen, dass es ihre Aufgabe ist, dieses Netz von Zusammenhängen zu durchdringen und zu entwirren. Und besonders denjenigen unter ihnen, die hochbezahlte Jobs in Fernsehsendern haben und somit noch alle Freiheit, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, muss man die Frage stellen, warum sie die Fehlinformation bewusst in Kauf nehmen. Und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten.
Auch deutsche Medien vereinfachen
Der Unwille, Bürger mit Komplexität zu behelligen, findet sich auch in deutschen Medien. Anstatt zu differenzieren und damit zum Verständnis beizutragen, wird eingeebnet. Egal, ob es um Religionen geht, um Männer, Frauen, Schwule, Juden, Muslime – es scheint immer schwieriger, Unterschiede zu benennen und damit auch Konflikte in Kauf zu nehmen. Ein solcher Journalismus achtet die Bürger nicht mehr, mutet ihnen nichts mehr zu, misstraut ihnen und züchtet damit genau die auf Event-Berichterstattung getrimmten Konsumenten, deren Existenz er anschließend beklagt. Und er verliert seine Berechtigung.
Wenn sich Journalisten nicht mehr nur der Wahrheit verpflichtet fühlen, sondern wenn sie Erwartungshaltung und befürchtete Rezeption der Leser und Zuschauer in ihr Rechercherepertoire und, schlimmer noch, in ihren Denkkodex einbeziehen, ergeben sich weder fruchtbare Auseinandersetzungen, noch schaffen sie eine Grundlage für eine Bewertung und Einordnung, die der Realität entsprechen. Journalisten schulden ihren Lesern und Zuschauern mehr. In den Vereinigten Staaten, da kann man sicher sein, wird die Diskussion darüber nach dem 8. November beginnen.