Noam Chomsky ist einer der bekanntesten linken Intellektuellen der USA. Sein neues Buch stellt die titelgebende Frage: „Was für Lebewesen sind wir?“ Die Antworten sind nicht so klar, wie man vermuten würde. Chomsky liest sich wie eine Mischung aus Sisyphos und Karl Marx. Fortschritt sei langsam, aber über lange Zeithorizonte hinweg dramatisch, befand er vor ein einigen Jahren. Der Linguist, politische Aktivist und weltweit vielzitierte Wissenschaftler gilt selbst als lebendes Beispiel für den Siegeszug geistiger Aufklärung.
Umso überraschter darf man sein, in Chomskys neuem Buch auf einen Fortschrittsskeptiker zu treffen. Darin beschwört der heute 88-Jährige nämlich die „Geheimnisse, die für die menschliche Intelligenz undurchdringlich sind“.
„Was für Lebewesen sind wir“ ist kein Buch im klassischen Sinn, bündelt der Band doch die vier Vorträge der Dewey-Lectures, die Chomsky 2013 an der New Yorker Columbia-University gehalten hat. Auf den ersten Blick gehören die vier Fragen, die er darin stellt, nicht zwingend zusammen. Doch was naturphilosophische Reflexionen wie „Was ist Sprache?“, „Was können wir verstehen?“, „Die Geheimnisse der Natur“ mit der politischen Frage „Was ist Gemeinwohl?“ verbindet, ist, dass die Antworten darauf immer unklarer werden.
Ein verkümmertes Konzept von Demokratie
Diese für die menschliche Intelligenz undurchdringlichen Geheimnisse lokalisiert Chomskys einerseits in der Sprache. Sie ermögliche dem Menschen zwar ein „unbegrenztes Spektrum hierarchisch strukturierter Ausdrücke“ und kreativer Assoziationen, die ihn vom Tier unterscheiden. Die meisten Prozesse in diesem „biologischen Objekt“ blieben uns aber ebenso unzugänglich wie der größte Teil dessen, was wir denken.
Seine „Unwissenheitshypothese“ gründet Chomsky aber auch auf Newtons Schwierigkeiten, Gravitation und Bewegung mit dem mechanischen Weltbild zu erklären, auf Darwins Problemen, sich Denken als „Sekret“ des Gehirns vorzustellen und auf dem Unvermögen der modernen Neurophysiologie, zu verstehen, wie das Nervensystem „rechnet“ und einen „freien Willen“ hervorbringt.
Diese Beschränkungen müssen die Menschen als „soziale Geschöpfe“ aber nicht davon abhalten, sich die „Glückseligkeit der anderen zum Bedürfnis“ zu machen. Gegen das „verkümmerte Konzept von Demokratie“, das die Bürger „als Zuschauer, nicht als Handelnde“ sieht, setzt Chomsky darauf, die „Plutokratie“ USA in eine „demokratische gesellschaftliche Ordnung“ zu transformieren.
Die USA als „Schurkenstaat“
Chomskys Überlegungen sind keineswegs neu. Mit ihnen reiht er sich ein in die Kette der Fortschrittszweifler von Aristoteles bis Daniel Stoljar. Trotz ihres rhetorischen Charakters sind diese Lectures aber vor allem das faszinierende Beispiel der Selbstprüfung einer Intelligenz: universal gebildet, unerbittlich logisch, souverän, aber immer selbstkritisch.
Chomsky stellt die These auf, dass die Welt letztlich nicht komplett verständlich ist. Trotzdem, argumentiert er, sollte man nicht aufhören, „verständliche erklärende Theorien“ über sie aufzustellen. Fortschritt wäre also nichts anderes, als das Denken auch dann nicht aufzugeben, wenn wir an „Grenzen des Verständnisses“ stoßen.
Da klingt der radikale Sozialist, für den die USA unbezweifelbar ein „Schurkenstaat“ sind, plötzlich wie ein gemäßigter Skeptiker: eine Mischung aus Sisyphos, Karl Marx und Karl Popper. dw
Noam Chomsky: Was für Lebewesen sind wir? (Blick ins Buch)
Aus dem Amerikanischen von Michael Schoffmann
248 Seiten, 26 Euro
Suhrkamp, Berlin 2016
ISBN: 978-3-518-58694-5
Auch als eBook erhältlich
Was ist Sprache? Was können wir wissen? Was ist das Gemeinwohl?
Noam Chomsky gilt als der Begründer der modernen Linguistik und als einer der Gründerväter der Kognitionswissenschaften. Zugleich ist er einer der meistgelesenen politischen Denker der Welt. Dieses Buch ist die philosophische Summe seines Lebens: Erstmals führt er alle seine großen Themen zusammen und begibt sich auf die Suche nach dem Wesen des Menschen.
Chomsky nimmt seinen Ausgang bei der Sprache. Diese ist für ihn ein angeborener Mechanismus, der ein keineswegs zwingendes Muster aufweist und unser Denken bestimmt. Wir alle denken gemäß diesem Muster – und daher können wir auch nur das wissen, was die menschliche Sprache zu denken erlaubt. Einige Geheimisse der Natur könnten uns deshalb für immer verborgen bleiben. Zugleich eröffnet die Sprache aber eine kreative Freiheit; uns ist ein Freiheitsinstinkt gegeben, der uns gegen Herrschaft aufbegehren und eine freie Entfaltung suchen lässt. In der libertären Tradition von Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill und Rudolf Rocker zeichnet uns Chomsky als anarchische Lebewesen, die nach einer Assoziation freier Menschen streben.
Im Original erschienen unter dem Titel What Kind of Creatures Are We? (Columbia University Press).
Noam Chomsky spricht in einer Veranstaltung des DAI am Sonntag, 30. Oktober 2016 um 14:oo Uhr in der Stadthalle Heidelberg