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„Macht kaputt, was euch kaputt macht“ – Erinnerung an eine deutsche „Rock-Ikone“

rio_reiserr_auftritt_koenig_von_deutschland [1]Vor genau 43 Jahren im Hinterhofgarten  in der GraGa 9 – wir fangen an, Tennos Wohnung zu bauen, Clemens brüllt den Titelsong zusammen mit der Band „Ton, Steine, Scherben“ – der aus einem kleinen, tragbaren Plattengerät mit miesestem Sound soufliert wird: …“wir werden immer mehr“ – wir hatten die Band für uns entdeckt. Eigentlich wollte der Gruppe Frontmann Rio Reiser nur eine bessere Welt. Liebe überall und dazu die Möglichkeit, seine Gassenhauer zu singen. Aber die Menschen, die sich hinter seinen Liedern verschanzten, hatten nie vor, diese Welt umzusetzen. Das hat ihn zerrissen. Heute ist sein 20. Todestag …

Rio Reiser war ein Träumer – ein radikaler Träumer, was seinerzeit noch eine wirkliche Referenz war. Rio sang Lieder gegen Unterdrückung, wie sie jeder verstand, und Lieder über das Leben und das Lieben und die Sehnsucht und das Sein. Und er sang sie so, wie der Zeitgeist ihm grad um die Ohren fegte.

Seit 1970 die erste Platte seines Kollektivs Ton Steine Scherben erschienen war, träumte Rio für Spontis und Anarchos, für Ökos und Hausbesetzer, für PDS-Linke und für gewöhnliche Rockfans, denn alle linken rebellischen Utopien wurden auf die Scherben projiziert und an Rio delegiert, der Songs daraus machte – so klar und ergreifend, das all die andern sich darin wiederfanden.

rino [2]Im Radio liefen sie natürlich nicht, denn Haltung machte bei Unterhaltung doch nur Probleme! Ton Steine Scherben wurden zügig zum Lebensmodell aller linken Bewegungen der 70er- und frühen 80er-Jahre: mit ihrer Politisierung des Privaten, dem Aufbau einer Kommune und dem alternativen Umzug aufs Land – auf einen Bauernhof in Fresenhagen nahe der dänischen Grenze.

In die Kommune fielen dann, zum Ruhm der Kommunarden, abwechselnd Freunde und Genossen, Obdachlose, langhaarige Touristen aus Westdeutschland und bewaffnete Polizei-Kommandos ein. Und während die Fans ihre Helden bei der Selbstverwirklichung auf dem Bauernhof wähnten, mussten die tatsächlich bei der Heuernte helfen, damit sie den Strom bezahlen konnten.

Doch jede Generation sucht sich ihre eigenen Sprachrohre, und die Jahre unter Helmut Kohl waren die Zeit, als Solidarität und Anspruchsdenken sich vermischten und die Protestkultur sich in Spaßkultur verwandelte.

Und irgendwann gab es dann diese Nummer mit dem Solikonzert: Die Scherben kriegten in der Berliner Wohnung einen dieser typischen Anrufe: Besetzerdemo, Leute verhaftet, können die Anwälte nicht bezahlen, würdet ihr vielleicht ein Solikonzert spielen? Und die Scherben: Aber klar doch!

rio_reiser (1) [3]Selbst grad wieder pleite, karrten sie ihre Anlage dorthin und trugen sie in den vierten Stock, wo die Soliparty stattfand – nicht, dass ihnen einer dabei half … Und als die Anlage stand und Rio fragte, ob er sich eine Schmalzstulle vom Büffet nehmen könne, und die gute Linksmenschin dahinter meinte: Ja, dann müsse er aber den Solibeitrag bezahlen – da schmiß Rio die Stullenplatten durch die Gegend, riß sich das Hemd auf, brüllte wütend herum und ließ sofort wieder abbauen. Und im Scherben-Plenum am nächsten Tag wurde beschlossen: Das war’s. [4]

Als Rio Reiser dann ohne die Band auf dem verschuldeten Hof in Fresenhagen saß, unterschrieb er, um die Schulden abzuzahlen, einen Plattenvertrag bei der großen Platten-Industrie. Als König von Deutschland wurde er so zum Popstar.

Seine Lieder waren so gut, so kompatibel, dass – als er tatsächlich zum Popstar wurde – den neuen Fans die Doppelbödigkeit vieler Songs gar nicht auffiel.

Die Grünen zogen mit diesem Schlager in den Wahlkampf. Aber die alten Fans bestraften ihr Vorbild mit Verachtung – erst recht, als er auch wunderbare Stücke für seine Freundin Marianne Rosenberg schrieb. „Anpassung“ war noch der geringste Vorworf: „Primitiver Verrat!“ riefen die Hausbeseter aus ihren Fenstern, und „Ausverkauf der linken Ideen“!

Rio Reisers Grab in Berlin - hinterm Stein hat wer diskret eine Flasche Riesling deponiert … [5]

Rio Reisers Grab in Berlin – hinterm Stein hat wer diskret eine Flasche Riesling deponiert …

Rio Reiser: „Das ist aber nicht wahr, es ist nicht primitiv, banal, sondern es sind Sätze, Schlagworte, die gesprochen werden und wo man in bestimmten Situationen erkennt, was damit gemeint ist und die dann agitieren können: Macht kaputt, was euch kaputt macht.“

Seine ursprüngliche Motivation hat den Sänger und Songschreiber nie verlassen – nur die Zuversicht, dass die Menschen, die sich hinter seinen Texten verschanzten, nicht wirklich vorhatten, mit ihm den Traum, den angeblich doch alle träumten, ernsthaft anzupacken.

Am 20. August ’96 fand sein Freund Rio Reiser tot neben seinen neuen Songtexten auf dem Fußboden. Da hatte er schon eine Weile Blut erbrochen und Stückchen von der Darmschleimhaut. Es hatte ihn wohl innerlich zerrissen.

RIO REISER, HANNES EYBER KiWi-Taschenbuch ISBN: 978-3-462-04860-5 Erschienen am: 09.06.2016 328 Seiten, Broschur Deutschland 9,99 € Österreich 10,30 € [6]

RIO REISER, HANNES EYBER
KiWi-Taschenbuch
ISBN: 978-3-462-04860-5
Erschienen am: 09.06.2016
328 Seiten, Broschur
Deutschland 9,99 €
Österreich 10,30 €

20 Jahre ist Ralph Christian Möbius, besser bekannt als Rio Reiser,  nun schon tot. Die Lücke die der große deutsche Künstler gerissen hat, ist nach wie vor beachtlich. Nun ist im  KiWi-Verlag die höchst lesenswerte Autobiografie von Rio Reiser neu aufgelegt worden. Eine Pflichtlektüre für alle Spätgeborenen und jene, die den Hit „König von Deutschland“ unwissend mitträllern. 

Es gibt etliche Bücher und  Dokumentationen über Rio Reiser, der als Sänger und Texter der Band Ton Steine Scherben für Furore sorgte und fester Bestandteil der politisch Linken Gegenkultur der Bundesrepublik Deutschland war. Die Scherben waren zu Beginn der 70er Jahre eigentlich die einzige ernstzunehmende deutschsprachige Rockband und ausgesprochen politisch. Wobei das Politische seinerzeit auch privat und das Private politisch war. Letztlich ist die Band auch an diesem Milieu eingegangen. Aber Rio Reiser schaffte tatsächlich ein musikalisches Comeback als Solokünstler. Leseprobe [7]