Hat die Demokratie noch Chancen in der Türkei?
Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei hat die Regierung rund 6.000 Menschen festnehmen lassen sowie mehr als 2.700 Richter und Staatsanwälte abgesetzt.
Dass sich ein großer Teil der Bevölkerung gegen den Coup stellte, war mitnichten ein Sieg der Demokratie, meinen einige Kommentatoren.
Andere sind erleichtert, dass eine Militärdiktatur verhindert wurde und setzen Hoffnung in die Opposition.
DEUTSCHLANDFUNK (DE)
Schlägertrupps verteidigten die Regierung
Mit ihrem Widerstand gegen die Panzer haben sich die Türken mitnichten zu demokratischen Grundprinzipien bekannt, warnt der Deutschlandfunk:
„Was auf den ersten Blick wie ein mutiger Widerstand von Demokraten aussah, entpuppte sich als eine Masse von Schlägertrupps, die bereit waren, für ihren Führer Erdoğan zu töten und, wenn es sein muss, zu sterben. Sie töteten Soldaten, urinierten vor laufenden Kameras auf ihre Leichname, und ganz in Manier des barbarischen IS enthaupteten sie sogar einen Soldaten. … Erdoğans Gefolgschaft stürmte auf die Straßen, skandierte lauthals Allah-u Akbar, zeigte den Gruß der Islamisten und Faschisten. In Istanbul zogen sie durch Stadtteile, wo Aleviten leben und durch Viertel, wo junge Menschen in Cafés und Bars Alkohol trinken. Dieser Putschversuch, von wem und warum auch immer er organisiert wurde, hat ein klares Ergebnis hervorgebracht: Er verhalf Erdoğan zur Zementierung seiner Macht und zur Stärkung des Selbstbewusstseins seiner islamistischen Anhänger.“
Kemal Hür Zum Originalartikel
HÜRRIYET DAILY NEWS (TR)
Erdoğan kleineres Übel als die Junta
Obwohl kein Fan der Erdoğan-Regierung, zeigt sich Kolumnist Yusuf Kanlı in der liberalen Hürriyet Daily News erleichtert, dass der Putschversuch in der Türkei gescheitert ist:
„Die schlechteste zivile Regierung ist besser als eine Putsch-Verwaltung. … Die Regierung ist eine gewählte und muss an der Wahlurne ausgetauscht werden. Die Türkei sollte das dieses Mal zustande bringen. … So seltsam und paradox es auch erscheint, die Erdoğan-Regierung wurde von den türkischen Medien gerettet, die sie in den letzten 14 Jahren so heftig attackierte. Hätten sich Sender wie CNN Türk, NTV und andere nicht den Putsch-Befehlen widersetzt, nicht ihre Sendungen fortgesetzt und Erdoğan und seinem Kabinett eine Plattform geboten, die Massen zu erreichen um sie aufzufordern, auf die Straßen zu gehen, wäre der Putsch höchstwahrscheinlich erfolgreich gewesen und statt der Junta und ihren Männern würden jetzt andere im Gefängnis sitzen.“
Yusuf Kanlı Zum Originalartikel
MEDIAPART (FR)
Opposition ist noch aktiv
Der Widerstand gegen Präsident Erdoğan ist auch nach dem vereitelten Putschversuch nicht vollständig verschwunden, zeigt sich der Journalist und Dichter Jean-Noël Cuénod auf seinem Blog bei Mediapart zuversichtlich:
„Erdoğan ist durch den Zuspruch an den Wahlurnen sowie auf der Straße gestärkt. Er wird nicht zögern, bei der Sultanisierung der Türkei aufs Gaspedal zu treten und das abzubauen, was in den Institutionen noch von der Laizität übrig ist. … Die Türkei der Städte verfügt über eine Mittelschicht, der Glaubensfreiheit weiterhin wichtig ist. Die Medien werden zwar von der Regierung zurechtgewiesen, doch stehen den Türken die sozialen Netzwerke und ihre Verbindungen zum Ausland zur Verfügung, um sich zu informieren und auszutauschen. Die Reaktion eines Teils der Armee gegen das Demokratur-Regime Erdoğans zeigt, dass die Opposition noch nicht vollständig ausgerottet ist. Auch wenn sie durch den gescheiterten Putschversuch stark geschwächt ist.“
Jean-Noël Cuénod Zum Originalartikel
CYPRUS MAIL (CY)
Putschisten waren zu ungeduldig
Die Putschisten in der Türkei sind dem falschen Beispiel gefolgt, schreibt Cyprus Mail:
„Die Anführer der Putschisten machten denselben Fehler wie die ägyptischen Liberalen, als sie 2013 die Armee baten, dort den gewählten Präsidenten zu stürzen. Ägypten hatte einen Präsidenten, den die Bürger fürchteten und hassten. Sie hatten aber auch eine Demokratie, die ein friedliches Mittel vorsah, um ihn zu vertreiben. Erdoğans Popularität wäre mit der Zeit geschrumpft. Die türkische Wirtschaft stagniert, seine Syrien-Politik ist eine Katastrophe, und die offenkundige Korruption der Leute um ihn herum ist immer schwerer zu ignorieren. Früher oder später hätte er eine Wahl verloren. Aber wie die ägyptischen Liberalen hatten die Offiziere, die den türkischen Coup führten, nicht genug Vertrauen in die Demokratie, um abzuwarten.“
Gwynne Dyer Zum Originalartikel
EL PAÍS (ES)
Drift in Richtung Autoritarismus stoppen
Erdoğan sollte nun die Demokratie stärken und das Land einen, appelliert El País:
„Jetzt, wo die größten Spannungen abgeklungen sind und wir einige bedauerliche Szenen von Lynchjustiz an aufständischen Soldaten mitansehen mussten, ist es wichtiger denn je, dass allein die Justiz, in aller Unabhängigkeit, gegen die Aufständischen und ihre Unterstützer ermittelt. Doch die Absetzung am Tag nach dem Putsch von tausenden Richtern und Staatsanwälten und die Verhaftung von zehn Richtern des Obersten Gerichtshofs macht uns Sorge. Das könnte die an sich schon zweifelhafte Gewaltenteilung noch mehr schwächen, die ohnehin schon von Erdoğans permanentem Drift in Richtung Autoritarismus unterwandert wird. Der gescheiterte Putsch sollte die Demokratie und den Rechtsstaat stärken und das Land einen, angesichts der großen Herausforderungen, vor denen es steht. Und es nicht noch mehr polarisieren.“
Hat die Demokratie noch Chancen in der Türkei?
Wie müssen EU und Nato mit der Türkei umgehen?
Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei hat Präsident Erdoğan „Säuberungen“ in Militär und Justiz angekündigt, die sogleich mit einer Verhaftungswelle begannen. Kommentatoren rechnen damit, dass die Demokratie weiter eingeschränkt wird und diskutieren, wie EU und Nato darauf reagieren sollen.
HOSPODÁŘSKÉ NOVINY (CZ)
Europa wird weiter heucheln
Sollte die Demokratie in der Türkei nun weiter abgebaut werden, wird Europa beide Augen zudrücken, zeigt sich Hospodářské noviny ernüchtert:
„Mit Recep Tayyip Erdoğan werden wir in Europa neben Lukaschenko und Putin einen weiteren Diktator bekommen, auch wenn der auf unserer Seite steht, zumindest militärisch. Wir werden ihn zu unseren Gipfeltreffen einladen und uns heuchlerisch verhalten: Wir werden ihm die Hand geben und uns dabei im Stillen wünschen, dass ihn die Türken endlich loswerden. Möglichst demokratisch, im schlimmsten Fall – ja, geben wir es ruhig zu – auch anders. Auf dass sie möglichst einen besseren Führer finden, der sie nicht in ein totalitäres Regime führt, sondern in Richtung Freiheit, Pluralität und Wohlstand. Das wünscht man zwar jedem auf der Welt, aber jetzt ganz aktuell den Türken.“
Teodor Marjanovič zur Homepage
ROMÂNIA LIBERÂ (RO)
Wackelkandidat in einer wichtigen Region
Der vereitelte Militärputsch in Ankara hat gezeigt, dass man auf Staatschef Erdoğan nicht setzen sollte, wenn man Stabilität will, warnt România Liberă:
„Ohne die Türkei ist keine Kontrolle über Syrien und den Irak möglich, ebenso keine Aktion gegen die Terrormiliz IS. Ohne die Türkei kann die Südostflanke Europas und das Schwarze Meer nicht gegen die russische Expansion verteidigt werden. Ohne die Türkei ist das strategische Gleichgewicht der Welt in Gefahr. … Die westlichen Staatsführer haben dünne Presseerklärungen abgegeben, dass sie hinter der demokratischen und institutionellen Ordnung der Türkei stehen (nichts davon gibt es), denn einen gescheiterten Militärputsch kann man schwerlich unterstützen und ein stabiler Erdoğan scheint sicherer als Instabilität. Nur wissen wir nun, dass Erdoğan keineswegs stabil ist, sondern ein Faktor für nationale und regionale Instabilität. Der Westen kann sich nicht noch einen verrückten Diktator im Zentrum der Welt leisten.“
Cristian Campeanu Zum Originalartikel
DAGENS NYHETER (SE)
Jetzt Flüchtlingsdeal beenden
Wie die Ereignisse in der Türkei den Flüchtlingsdeal mit der EU beeinflussen könnten, überlegt Dagens Nyheter:
„Außenministerin Margot Wallström hat sich vorsichtig positiv über eine Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik geäußert. Aber das kann auch nur ein Zeichen dafür sein, dass es keinen Plan gibt. Die Türkei hat sich eigentlich schon für die Zusammenarbeit – oder wie man das nennen kann – disqualifiziert. Denn Erdoğan ist mehr als Erpresser denn als Partner aufgetreten. Der einzige Grund, warum die EU den launischen Präsidenten gewähren lässt ist, dass man keine Alternativen hat. … Die Ereignisse des Wochenendes könnten die EU dazu zwingen, eine bessere Lösung zu finden. Das wäre keinen Tag zu früh.“
Wie müssen EU und Nato mit der Türkei umgehen?
Wer steckt hinter dem Putschversuch?
Der türkische Präsident Erdoğan hat den im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich gemacht. Der frühere Verbündete Erdoğans wies die Vorwürfe umgehend zurück. Kommentatoren gehen eher davon aus, dass der Präsident und sein Umfeld hinter dem niedergeschlagenen Putschversuch stecken, weil er seine Macht nun weiter festigen kann.
NOVI LIST (HR)
Erdoğan hat Putsch selbst inszeniert
Dass Erdoğan selbst für den Putschversuch in der Türkei verantwortlich ist, glaubt Novi List:
„Klar ist, dass alles wie ein Versuch aussah, die Institutionen der Türkei mit Erdoğan an der Spitze abzusetzen und dass dieser Versuch nicht gelungen ist. Während man aber noch in den Morgenstunden hunderte Tote und tausende Verletzte zählte, wurden schon Offiziere, Soldaten und Zivilisten als Schuldige verhaftet. Am Morgen nach den Schießereien wurden 2.750 Richter verhaftet. Wer hat sie denn in der Nacht des Putsches so schnell für die Verantwortung eben dieses Putsches ausfindig machen und registrieren können? Niemand natürlich – die Liste war schon lange vorbereitet und man wartete nur noch auf den Augenblick, die Verhaftungen zu realisieren. … So wird eine Erklärungsvariante immer wahrscheinlicher: Die ganze Sache wurde inszeniert, um das Land zu ’säubern‘.“
Zlatko Dizdarević zur Homepage
PRAVDA (SK)
Vereitelter Coup als „Geschenk Gottes“
Erdoğan nutzt den Putschversuch eiskalt aus, betont Pravda:
„Wenn Erdoğan etwas zur totalen Beherrschung der Türkei fehlte, dann war es genau das. Er selbst sprach im Zusammenhang mit dem Putschversuch von einem ‚Geschenk Gottes, … weil das Grund genug ist, die Armee zu säubern‘. Und genau daran macht sich nun der türkische Autokrat, unterstützt von vielen Menschen, die er auf die Straßen gerufen hatte. 6.000 zumeist Armeeangehörige sind inhaftiert, 2.700 Richter verloren ihr Amt. Was das alles für die türkischen Medien und oppositionelle Politiker heißt, kann man sich leicht ausmalen. Die Regierung erwägt die Einführung der Todesstrafe. Und die Festgenommenen werden nicht nur der Teilnahme am Putschversuch beschuldigt, sondern auch der Mitgliedschaft in Terrororganisationen. Stoppt jemand Erdoğan, bevor die Türkei definitiv keine Demokratie mehr ist?“
Peter Javůrek Zum Originalartikel