- Neue Rundschau - https://rundschau-hd.de -

Brexit: €uropa quo vadis? – Das Institut mahnt vernünftige Kooperation innerhalb eines föderativen Staatenbundes an:

logo_mill_institut [1]Europa und seine Institutionen sind in eine schwerwiegende politische und ökonomische Krise geraten. Die Bürger sind, wie schon die Umfrageergebnisse des John Stuart Mill Instituts zum Freiheitsindex 2013 belegten, nicht nur skeptisch gegenüber der Europäischen Union und ihren Institutionen, sondern misstrauisch gegenüber dem gesamten europäischen Projekt geworden.

Eine Erkenntnis die wir seinerzeit gewannen, hat sich leider in der aktuellen politischen Debatte noch verstärkt: Europa wird immer weniger mit Zukunft assoziiert.

Populistische Parteien wie Ukip, FN, PVV, FPÖ, Jobbik, PiS, MoVimento 5 Stelle, Schwedendemokraten oder AfD bedienen sich bereits seit geraumer Zeit des antieuropäischen Ressentiments. Und nun der Brexit. Die Tücken und Fallstricke der Europäischen Union werden stets deutlicher: ein strukturelles Demokratiedefizit und schleichende demokratische Delegitimierung, die Erosion rechtstaatlicher Prinzipien, zunehmende Zentralisierungsdynamiken, Uniformisierung und Bürokratisierung, Regulierungswahn und Paternalismus. 

Doch wie darauf reagieren? Zum Beispiel mehr Subsidiarität als weitergehende Integration; mehr Föderalismus als die Verstärkung des Zentralismus; Besinnung auf die repräsentative Demokratie statt populistischem Ruf nach Volksabstimmungen. Patentrezepte können indes in der gegenwärtigen, von zahlreichen Unübersichtlichkeiten geprägten Lage sicherlich keine gegeben werden. Vielmehr sind schonungslose Analyse der Situation und das Stellen kluger Fragen über Europas Gegenwart und Zukunft das Gebot der Stunde. Streitbare Auseinandersetzung und das meinungsfreudige Ringen um das bessere Argument und die mehrheitsfähige demokratische Lösung statt des schadenfrohen Verweises darauf, man habe es ja eh schon immer besser gewusst, sollten den öffentlichen Diskurs prägen. Ganz im Sinne des überzeugten Europäers John Stuart Mill sind wir nämlich der Meinung, dass Europa der Vielfalt der Wege seine fortschrittliche und vielseitige Entwicklung verdankt – und dass, wenn wir kluge Fragen stellen und adäquate Antworten darauf finden, dies auch in Zukunft so sein wird.

* 1806 in Pentonville, Vereinigtes Königreich; † 1873 [2]

John Stuart Mill, * 1806 in Pentonville, Vereinigtes Königreich; † 1873

In seinem 1859 gemeinsam mit Harriet Taylor verfassten Essay Über die Freiheit setzte John Stuart Mill sich in noch heute äußerst erhellender Weise damit auseinander, warum Europa kein stagnierender Kontinent ist. Als Brückenbauer zwischen England und dem europäischen Kontinent schrieb er mit globaler Perspektive:

„Was ist es, das Europa bislang vor diesem Schicksal bewahrt hat? Was hat die europäische Völkerfamilie zu einem fortschreitenden anstatt zu einem stagnierenden Teil der Menschheit gemacht? Nicht eine überlegene exzellente Eigenschaft, die, wenn sie denn vorhanden ist, als Wirkung, nicht als Ursache besteht, sondern ihre bemerkenswerte Vielfalt an Charakter und Kultur. Individuen, Klassen, Nationen sind einander überaus unähnlich gewesen: Sie haben höchst verschiedene Wege eingeschlagen, von denen jeder zu etwas Wertvollem führte. Zwar waren zu jeder Zeit diejenigen, die sich auf verschiedenen Wegen bewegten, intolerant gegeneinander, und jeder hätte es für ganz ausgezeichnet gehalten, wenn der ganze Rest hätte gezwungen werden können, seinen eigenen Weg zu gehen. Doch haben ihre Versuche, jede andere Entwicklung zu vereiteln, selten einen dauerhaften Erfolg gehabt, und jeder hat es mit der Zeit ausgehalten, das Gute anzunehmen, das ihm die anderen anboten. Europa ist, meiner Auffassung nach, dieser Vielfalt der Wege in Hinblick auf seine fortschrittliche und vielseitige Entwicklung zutiefst verpflichtet. Aber es fängt bereits an, diesen Vorzug zu einem beträchtlich geringeren Maß zu besitzen. Es nähert sich entschieden dem chinesischen Ideal, alle Menschen gleich zu machen.“

Um die von Mill als zentralem Wert Europas benannte Vielfalt zu gewährleisten, ist es unserer Meinung nach auch weiterhin notwendig danach zu fragen, was die Europäische Union regeln muss, um ihre Mitgliedsländer erfolgreich und widerstandsfähig gegenüber globalen Herausforderungen zu machen. Und: Was darf sie gerade nicht regeln, um innere und äußere Kräfte zu stärken?
Die Fortsetzung der Staatsverschuldungspolitik und der schleichende Weg in die Transferunion können nicht der Ausweg aus der Krise sein. Nicht ein zentralisierter Bundesstaat sollte auf der Agenda stehen, sondern die vernünftige Kooperation innerhalb eines föderativen Staatenbundes. Für ein freiheitliches Europa brauchen wir die Briten und die Briten brauchen uns! Deshalb kann es nicht darum gehen, nach dem Brexit ein Exempel zu statuieren, sondern kluge Reformvorschläge zu erarbeiten, die beiden Seiten dienlich sind. Nur so können wir Europa und seine Vielfalt als Grundlage einer fortschrittlichen und vielseitigen Entwicklung bewahren. Gewiss nicht durch Spaltung, Abschottung, Zorn und Häme oder antidemokratische und antiliberale politische Lösungen von Vorgestern, sondern durch aufrichtiges und kritisches Hinterfragen des europäischen Status quo. Damit kann das europäische Projekt wieder in Richtung Zukunft geöffnet werden.

Ausführlichere Einlassungen zur aktuellen Thematik finden Sie auch in dem unter diesem Link abrufbaren Essay [3] „Mehr Einheit oder mehr Vielfalt in Europa?“ im Slider auf unserer Homepage: