[1]Die Außenminister der sechs EU-Gründungsstaaten haben sich am Wochenende getroffen, um einen Plan für eine EU ohne Großbritannien zu entwickeln.
EU-Kommissionspräsident Juncker und EU-Parlamentspräsident Schulz drängen London, die Austrittserklärung möglichst schnell einzureichen. Wer übernimmt die Führung in der künftigen EU und wie schnell sollte der Brexit über die Bühne gehen?
DEUTSCHLANDFUNK (DE)
Die Sinnsuche beginnt in Deutschland
Deutschland sollte bei einem Neuanfang in der EU eine treibende Kraft sein, fordert der Deutschlandfunk:
„Berlin, und das ist bemerkenswert, nimmt die Zukunft der EU aktiv in die Hand, lässt kaum Zeit verstreichen und versucht dabei zugleich, jedem allzu schrillen Ton vorzubeugen. Es ist von enormer Symbolkraft, wenn die Gründungsstaaten der Vorläuferorganisationen der Europäischen Union über die Wiese der Villa Borsig schlendern und am Ende in einer gemeinsamen Entschließung von einem Europa der unterschiedlichen Ambitionsniveaus sprechen. Es ist das Eingeständnis, dass diese EU sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Intensitäten und keineswegs geeint weiterentwickeln muss. Und: Es ist auch eine Art Eingeständnis, dass Europa in Deutschland ein behaglicheres Heim für die Sinnsuche findet, als in vielen anderen Ländern.“
Falk Steiner [2] Zum Originalartikel [3]
Europäisiertes Berlin muss Führung übernehmen
Bei der Konstruktion der künftigen EU muss Deutschland eine zentrale Rolle spielen, fordert Naftemporiki:
„Viele Europäer glauben, dass ihre Stimme keinen Wert hat, dass in den europäischen Institutionen niemand Verantwortung übernimmt, dass die EU existiert, um der Elite und der Bürokratie in Brüssel zu dienen. Kann die Krise als eine Chance betrachtet werden? Die Mächtigen der EU, und vor allem Deutschland, müssen die Post-Brexit-Epoche verwalten. Doch eine weitere ‚Germanisierung‘ der Union, mit den monolithischen monetaristischen Obsessionen, wird die EU zu ihrer Auflösung führen. … Stattdessen ist die Demokratisierung der EU und die ‚Europäisierung‘ Deutschlands der Weg, auf dem über die politische Einigung der Separatismus beendet werden kann und auf dem es neue Impulse für die Vision der europäischen Integration geben wird.“
Giorgos Hatzilidis [4] Zum Originalartikel [5]
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Union künftig schwach gegenüber Moskau
Um die geopolitischen Folgen des Brexits, insbesondere die künftige Einstellung der EU zu Russland, sorgt sich Gazeta Polska Codziennie:
„Der Brexit ist für Polen eine sehr schlechte Nachricht: Denn damit steigt von den vier größten Staaten der EU gerade der Staat aus der Gemeinschaft aus, der am realistischsten auf Moskau blickt (Deutschland, Frankreich und Italien schauen da nicht so hin). Es ist ganz klar, dass die EU ohne London weltweit gegenüber den USA, China und vor allem Russland schwächer auftreten wird als bisher. Die EU wird zwar in der laufenden Woche wahrscheinlich noch einmal die Verlängerung der Sanktionen gegenüber Moskau beschließen. Doch praktisch dürfte der Brexit nun bedeuten, dass dies das letzte Mal sein wird. Ab Januar 2017 werden sie wohl nicht mehr verhängt, im besten Fall vielleicht ausgesetzt oder eingeschränkt.“
Ryszard Czarnecki [7] zur Homepage [8]
Brexit schnell durchziehen
In beiden britischen Lagern, dem für den Austritt und dem für den Verbleib, mangelt es an verantwortungsbewussten Persönlichkeiten, kritisiert die liberale EU-Abgeordnete Sylvie Goulard in Le Point:
„Boris Johnson, den ehemaligen Schüler des Elite-Internats Eton, als Anti-Establishment-Kandidaten zu präsentieren, ist unmöglich. Cameron als Genie zu loben, bedeutet Führungskompetenz und Mangel an Kohärenz zu verwechseln. … Und sie machen sogar noch weiter. Seit Bekanntgabe der Ergebnisse spielen die Gewinner mit der Vorstellung, ’nichts zu überstürzen‘ (Johnson). David Cameron hat angekündigt, dass er nicht vorhat, die in Artikel 50 des EU-Vertrags vorgesehene Austrittsprozedur sofort einzuleiten, womit er seine Partner als bedeutungslos behandelt. Ist ihnen klar, wie weit diese lässige Haltung von echtem Verantwortungsbewusstsein und Respekt gegebener Worte entfernt ist, welche man von einem der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats erwarten können sollte?“
Sylvie Goulard [9] Zum Originalartikel [10]
Großbritannien jetzt nicht bedrängen
Mit ihrer Forderung nach einem schnellen Brexit haben EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Öl ins Feuer gegossen, kritisiert The Independent:
„Das ist kein kluger Kurs der EU. Eines ihrer größten Probleme ist ihr Demokratiedefizit – nicht nur in Bezug auf die Briten, sondern auf alle Völker der Mitgliedstaaten. Eine solche Haltung gegenüber dem Ausdruck einer demokratischen Meinung einzunehmen, ist töricht. Jeder Einschüchterungsversuch wird Anti-EU-Stimmungen in anderen EU-Ländern eher fördern, anstatt diese zu schwächen. Großbritannien braucht gute Beziehungen mit seinen europäischen Nachbarn, ganz gleich ob das Land nun in der EU ist oder nicht. Doch ebenso ist es im Interesse der EU, die bestmöglichen Beziehungen mit einem großen, reichen Staat vor seiner Küste zu bewahren. Juncker und Schulz sollten sich bremsen.“
Zum Originalartikel [11]
MEHR MEINUNGEN
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG (CH):
EU muss Briten Bedenkzeit geben [12]
Millionen Briten fordern neues Referendum
Das Volk hat gesprochen – doch will ein Teil von ihm das Brexit-Votum [13] jetzt wieder rückgängig machen. In einer Petition fordern mehr als drei Millionen Menschen eine zweite Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Kommentatoren diskutieren darüber, ob das möglich ist und ob man von Referenden zu EU-Themen nicht generell die Finger lassen sollte.
Wiederholung durchaus möglich
Die negativen Folgen des EU-Austritts könnten die Briten dazu bringen, das Brexit-Referendum zu wiederholen, meint The Irish Independent:
„Wenn jene Briten, die für den EU-Austritt gestimmt haben, in den kommenden Monaten und Jahren einen Bericht nach dem anderen darüber lesen, dass Arbeitsplätze an Irland und an andere EU-Staaten verloren gehen, dann werden sie ihre Entscheidung möglicherweise überdenken. Wenn die Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation spürbar werden und sich einige der Versprechen der EU-Gegner als Unsinn erweisen, dann wird die bereits bestehende Initiative für eine Wiederholung des Referendums zusätzlichen Schwung gewinnen. … In diesen unsicheren Zeiten kann nichts ausgeschlossen werden.“
Dan O’Brien [14] Zum Originalartikel [15]
Auch fatale Entscheidungen sind unumkehrbar
Allen Forderungen nach einem neuen Referendum erteilt Lidové noviny eine Absage:
„Was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das gilt leider auch für politische Aktionen, seien es nun Wahlen oder Volksabstimmungen. Gerade weil die Demokratie an Regeln gebunden ist, kann man jetzt nicht ein zweites Referendum ausrufen, auch wenn sich das Millionen Menschen auf den britischen Inseln wünschen. Man muss die Verzweifelten daran erinnern, dass einige unserer Entscheidungen fatal sind und sich auch im zweiten Anlauf nicht ändern lassen. Ein Referendum lässt sich nicht reklamieren wie ein nicht passendes Weihnachtsgeschenk. Und man kann es auch nicht über noch so laute Rufe in den sozialen Netzwerken erzwingen. Wenn wir optimistisch sind, dann sollten wir glauben, dass die Briten das schon alles hinkriegen werden. Wir übrigens werden daraus lernen.“
Martin Zvéřina [16] zur Homepage [17]
Volksabstimmungen riskantes Instrument
Volksabstimmungen verführen zu emotionalen Fehlentscheidungen, was man daran sieht, dass viele Briten ihr Brexit-Votum mittlerweile bereuen, schreibt Hürriyet Daily News:
„Ein Referendum ist eines der rückständigsten politischen Instrumente, bei dem eine Nation mit aufgeregten, kurzweiligen Gefühlen über ihre strategische Zukunft abstimmt. … Cameron hat einen hohen Preis dafür gezahlt, nicht nur für sich, sondern auch für das Vereinigte Königreich, dass er die populistischen Herausforderungen seiner Rivalen, wie Boris Johnson und Nigel Farage, akzeptiert hat. Nun haben die Briten schon begonnen über ein weiteres Referendum zu reden. … Mit oder ohne ein neues Referendum, ausgelöst durch den ‚Bregret‘, sind die Steine ins Rollen gekommen und es scheint als würden sie nicht aufzuhalten sein, bis man in Europa neue politische Gleichgewichte gefunden hat. Unterm Strich sind Referenden ein riskantes politisches Instrument, besonders wenn es um strategische Fragen geht.“
Murat Yetkin [18] Zum Originalartikel [19]
Der langsame Tod einer großartigen Idee
Referenden über EU-Angelegenheiten werden sich häufen, weil die Politiker nicht in der Lage sind, selbst Entscheidungen zu treffen, bedauert das Portal Webcafé:
„Es war nur eine Frage der Zeit bis diese Union sich aufzulösen beginnt. Diese Union, deren Tag mit einem ausgedehnten Arbeitsfrühstück beginnt, in dessen Verlauf ein Komma aus einem Bericht in den anderen verschoben wird, und der damit endet, dass ein dringender ‚Not‘-Gipfel in zwei Wochen anberaumt wird. … Die EU wird immer weniger als attraktive Gemeinschaft der Werte und Ideen gesehen und immer mehr als Gemeinschaft der Kompromisse und Deals. … Wenn die politische Führung nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, werden es stattdessen die Wähler tun, angeführt von niederen nationalistischen Gefühlen, Hass und Misstrauen. Das ist der langsame Tod der ansonsten großartigen Idee eines gemeinsamen europäischen Zuhauses.“
Viktoria Maier [20] Zum Originalartikel [21]