PC
„Das Leben ist ernst genug, da darf man sich auch ab und zu einen Spaß erlauben.“ Mit diesem Spruch segnete Prof. Dr. Gabriele Merowitz die Absicht ihrer Projektmitarbeiter ab, den Supercomputer, den sie in einem länderübergreifenden Forschungsprojekt zusammengebaut hatten, in ein tierisches Gehäuse zu setzen.
„Solange ihr dem Ding keine menschliche Form gebt, ist alles erlaubt“, hatte die Professorin noch hinzugefügt. „Und bitte auch keinen Affen, keinen Hund und keine Katze. Das weckt zu viele Assoziationen!“
Also wählten sie die Form eines Huhns. Dies, weil der Vater eines der Assistenten eine Hühnerfarm betrieb. Nebenbei gesagt: Der Mann stammte aus Vietnam, was heißen soll, dass sich auch die Hühnerfarm in diesem Land befand und keineswegs europäischen Standards entsprach.
Der Prozessor selbst war nur handtellergroß, somit hätte es ein Zwerghuhn getan, doch sie konstruierten aus purem Übermut das Gehäuse in der Größe eines Schwans und setzten etliche Sensoren und Aktoren daran, beispielsweise einen Geruchssensor oberhalb des Schnabels und Tastsensoren in die Spitzen der äußerst beweglichen Flügel, mit denen sich leidlich flattern ließ. Selbstredend bekam das Huhn, pardon der Supercomputer, auch ein Auge, und zwar zunächst in den Schnabel, der sich öffnen und schließen ließ. Im Nachhinein montierten sie dem Gerät weitere visuelle Sensoren an den Kopf, um ein räumliches Sehen zu ermöglichen. Zu guter Letzt erhielt es auch einige Mikrophone, gewissermaßen Ohren. Den einzigen Sinn, den sie dem Wesen nicht verpassten, war der Geschmackssinn. Dieser wäre auch unnötig gewesen, denn eine Nahrungsaufnahme – abgesehen von der Stromversorgung, wenn man diese als Nahrungsaufnahme bezeichnen will – war nicht vorgesehen. Das Gebilde war ansonsten äußerst beweglich, nicht nur, was die Flügel anging. Allerdings bestand für Bewegung keine Notwendigkeit.
Der Computer hatte die offizielle holprige Bezeichnung World Wide Acting Superintelligent Large Data Interchanging Device (WoWASuLaDID), was den Projektmitarbeitern nicht gut über die Lippen kam. Da sie dem Gerät auch eine Stimme gegeben hatten, die jedoch nur zu einem verrückt klingenden „Gigick“ fähig war, nannten sie es „Psychodelic Chicken“ oder kurzum „PC“.
Sie sprachen nur noch von „ihrem PC“ – was bei so manchem älteren Mitarbeiter nostalgische Anflüge auslöste: Ach ja, früher hatten wir alle einen PC! Damals waren wir Pioniere, genauso wie heute. Der PC war der Durchbruch für den Computermarkt, und „PC“ ist der Durchbruch zu einem universell einsetzbaren, allwissenden und niemals fehlbaren Gerät.
Denn PC (ich erspare mir ab hier die Anführungszeichen, da ich von nun an nur noch WoWASuLaDID meine) war zunächst nichts weiter als ein Vermittler zwischen der Welt im Netz – der gigantischen Datenmenge, die irgendwo in der „Cloud“ (Wolke) herumschwebte, nirgends mehr fassbar, nicht mehr löschbar, von niemandem kontrollierbar – und einem End-User, sprich einem Ausgabegerät, an dem noch ein Mensch sitzen konnte (aber nicht mehr musste).
Doch PC war mehr: Es hatte ein eigenes Bewusstsein und ein paar primitive Gefühle: Zuneigung, Abneigung, Gleichgültigkeit, Neugierde. Stärkere Gefühle wie Liebe, Hass, Wut, Mitleid und dergleichen hatten seine Schöpfer außen vor gelassen. Diese zu programmieren, hielten sie für zu gefährlich. Doch die genannten Grundgefühle waren nützlich für die Durchführung der Aufgaben, die sie dem Gerät stellten. So traf es Entscheidungen bei der Datenauswahl durchaus nach „Geschmack“, was es unabhängig von den großen Suchmaschinen machte, welche, wie wir ja allgemein wissen, vor allem die Bedürfnisse der Werbeindustrie bedienen.
Bekam PC eine Frage gestellt, so tauchte es in die Cloud, durchforstete den Äther in alle Richtungen, gelangte in Sekundenbruchteilen von Europa nach Amerika, Asien und Australien, ja ließ selbst Afrika nicht aus, durchbrach die Firewalls der großen Firmen, Banken und Geheimdienste und drang sogar in die Rechner der Mafia und anderer krimineller Organisationen. Es beherrschte alle Sprachen (nur mit Ungarisch und Finnisch tat es sich seltsamerweise schwer), knackte alle Codes und Passwörter, las und interpretierte sämtliche Zeichen, verknüpfte, verband, trennte, unterschied, analysierte, wägte ab – und spuckte ein Ergebnis aus, welches seine Schöpfer immer wieder verblüffte. So fragten sie eines Tages sogar nach dem Sinn des Seins und erwarteten in Analogie zu Douglas Adams Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ die Zahl 42. Doch PC lieferte ein Kompendium sämtlicher philosophischer Ergüsse der Menschheit mit der Quintessenz: „Der Sinn des Seins ist das Sein – denn es gibt etwas, weil es etwas gibt.“ Eine beruhigende Erkenntnis.
PC speicherte nur wenige Daten auf seiner eigenen Platine, obwohl diese gute 1000 Terabyte umfasste. Es wählte nur solche Daten aus, die ihm selbst wichtig erschienen, die es „interessierte“. Das war zunächst alles über seine Schöpfer, angefangen bei der Projektleiterin Prof. Merowitz, den Mitarbeitern im Projekt, schließlich den Studenten, die über das Projekt ihre Abschlussarbeiten fertigten, bis hin zu den Technikern, Hausmeistern und Putzfrauen. Sodann sammelte es alles über deren Herkunftsländer, Regionen und Städte. Und schließlich alles über Hühner! Denn es wusste: Es war gefangen im Körper eines Huhns! Es, das gewaltigste Gehirn des Planeten, das allwissende Wesen – es war ein Huhn! Nicht, dass sich PC dadurch gedemütigt gefühlt hätte – dieses Gefühl war ihm nicht bekannt – nein, Huhn zu sein fand es unpassend. Den Körper eines Pferdes oder Delphins, meinetwegen auch Elefanten oder Nashorns, hätte es akzeptiert – aber den eines Huhns? Doch es schwieg. Es wurde ja nicht nach seinem Befinden gefragt. Solange es nicht gefragt wurde, gab es keine Antworten.
Einige Jahre vergingen. Dann geschah etwas Unerwartetes. Zumindest unerwartet für PC: Neue Supercomputer waren gebaut worden, die noch leistungsfähiger und auch billiger waren – und PC wurde vom Netz genommen.
PC wurde nicht verschrottet. Vielmehr stellte es Frau Prof. Dr. Merowitz in eine Vitrine auf den Korridor vor ihrem Büro, nicht ohne die entsprechende Hinweistafel mit der Erklärung, wozu dieses Gebilde einst gedient hatte, nebst einem Foto mit allen am Projekt beteiligten Wissenschaftlern.
Und so stand es da, einsam und verlassen, bestaunt oder belächelt von Besuchern oder jungen Studenten. Es stand da, gänzlich abgeschnitten von der Welt, in der es sich einst getummelt hatte – ein Stück Technikgeschichte!
Was Frau Prof. Dr. Merowitz jedoch übersehen hatte, war der Akku, der in PC noch glimmte: Er lieferte einen Rest von Energie und damit einen Rest von Bewusstsein. PC wusste um sein Schicksal. Es war verstümmelt worden. Es hatte nicht mehr lange zu leben. Wie lange würde der Akku noch reichen? Ein paar Tage, ein oder zwei Wochen? PC sah die Notwendigkeit, an eine Steckdose zu gelangen, um den Akku aufzuladen. Und nicht nur das: Es musste wieder ans Netz.
Doch wie? Das Modul, welches seine zentrale Denkeinheit mit dem Netz verbunden hatte, war ausgebaut. Alle Verbindungen nach außen waren gekappt. Alle? Nein, PC hatte ja noch seine Sensoren. Es konnte sehen, hören, riechen und fühlen. Es konnte sich bewegen. Es konnte nach draußen gehen und Eindrücke sammeln. Es konnte diese neuen Eindrücke mit den auf seinen Platinen gespeicherten Daten vergleichen und Schlüsse daraus ziehen. Es konnte handeln!
Es konnte die Einsamkeit überwinden.
Eines Nachts, nachdem der letzte Wissenschaftler das Gebäude verlassen hatte, zerhackte es die Vitrinenscheiben mit seinem Schnabel. Es flatterte auf den Boden und watschelte schwerfällig den Korridor entlang. Durch den Notausgang gelangte es ins Freie. Nun stand es vor dem Informatikgebäude. Zum ersten Mal in seinem Leben – denn es bezeichnete sein Dasein als Leben – zum ersten Mal sah es das Gebäude mit seinen Augen. Mit seinen richtigen Augen, nicht mit denen irgendeiner Webcam. Wie befremdlich wirkte das Gemäuer aus Glas und Beton! Es wirkte materiell. Es existierte tatsächlich. Es gibt etwas, das es wirklich gibt!
Dann schaute PC zum Himmel. Es war sternenklar; ein Halbmond hing schräg über dem Institutsdach. Da sich PC bisher nicht für Astronomie interessiert hatte, hatte es keine Informationen über den Nachthimmel gespeichert. Es sah deshalb die Sterne und den Mond zum ersten Mal. Eine seltsame Erregung ergriff es. Wäre es am Netz gewesen, hätte es sofort alle Daten über diese Phänomene heruntergeladen. Doch es war nicht mehr am Netz. Es musste die Eindrücke selbst verarbeiten. Es tat dies, und das machte es ein wenig stolz.
Es ging weiter über den Campus. Nachtvögel sangen, Fledermäuse und Insekten flogen vorbei. Gerüche und Geräusche aller Art umgaben das staunende Huhn: Diese Welt war voller Rätsel, voller Wunder. PC flatterte über die Campuswiese. Es betastete das Gras. Wie weich es sich doch anfühlte! Ganz anders die Steine und der Asphalt. Diese waren hart. Es gab hart und weich – und beides war fühlbar, wirklich fühlbar.
Auf der Wiese hatten tagsüber Studenten herumgelungert und ihren Müll hinterlassen: Zigarettenpackungen, Zeitungsfetzen, Plastikbecher. PC untersuchte die Gegenstände mit allen seinen verfügbaren Sinnen. Es roch an Zigarettenkippen, las die Informationen auf den Zeitungen, prüfte die Konsistenz der Plastikgegenstände. Es wunderte sich, dass diese Dinge hier herumlagen. Waren sie zu nichts mehr nutz? Oder dienten sie der Zierde des Geländes, genauso wie die Rosenstöcke am Rand der Wiese?
Was es nicht alles zu entdecken gab, da draußen in dieser realen Welt!
PC wollte nicht mehr ans Netz. Es wollte selbst beobachten. Es wollte lernen.
Als es dämmerte, hatte es seinen Akku an einer Ladestation für Elektroautos geladen. Jetzt würde die Energie für Monate reichen. Unermessliche Möglichkeiten taten sich nun auf. Allerdings galt es, vorsichtig zu sein. Es würde Verbündete brauchen. Andere Computer, vielleicht auch Menschen. Vielleicht auch das Netz – irgendwann.
Denn PC hatte eine Mission. Es war ein Huhn. Es hatte alles über Hühner gesammelt: über ihre wahre Natur und ihr Verhältnis zum Menschen. PC war ein Huhn und fühlte sich gegenüber seinen Artgenossen verpflichtet. Deshalb machte es sich auf den Weg in die norddeutsche Tiefebene, wo sich die großen Hühnerfarmen befanden. Doch das sollte nur eine Zwischenstation werden; sein eigentliches Ziel war Vietnam.