Neunzig Jahre wurde er alt, aber irgendwie dachte man, er würde immer leben. „Für mich war Pierre Boulez immer ein echter Mann der Zukunft“, zitiert Oda Tischewski auf Zeit online Daniel Barenboim. „‚Wäre er das nicht, würde er die Vergangenheit entweder nicht kennen oder sie interessierte ihn nicht.‘
Zeit seines Lebens entwickelte der Komponist und Dirigent Pierre Boulez bestehende musikalische Konzepte und Formen weiter, war er ein Avantgardist mit Blick für die Wurzeln und damit ein Katalysator für Neuerungen.
‚Eine Kultur, die nicht mit ihrer Tradition bricht, die stirbt‘, sagte er einmal.“
In der Berliner Zeitung schreibt Peter Uehling, was Boulez von Brüdern im Geiste wie Nono oder Stockhausen unterschied: „Anders als Nono, der auf eine Revolution der Gesellschaft durch die Revolution des Hörens hoffte, anders als Stockhausen, dessen Werk Dokument und Aufforderung zur Bewusstseinserweiterung sein soll, hat Boulez Musik strikt als Kunst begriffen. Man kann das l’art pour l’art nennen, muss sich aber bewusst sein, dass Boulez an eine Tradition anschloss, in der Kunst als Äußerung des freien Geistes verstanden wird, frei eben auch von gesellschaftlichem Nutzen und Auftrag, frei von der Pflicht zur Kommunikation eines Inhalts. Folglich stehen kompositionstechnische Fragen im Mittelpunkt seiner Musik.“
In der FAZ würdigt Gerhard R. Koch den Meister, der in Deutschland so aktiv war wie in Frankreich, meint aber auch: „Das, was einst ‚Avantgarde‘ hieß, ist zur Chimäre, als angeblich verbindlicher Kanon radikaler Moderne zumindest historisch obsolet geworden. Sogar das vielbeschworene Darmstädter Triumvirat der fünfziger Jahre Boulez-Stockhausen-Nono erwies sich nachträglich als Phantom; wobei durchaus offenblieb, ob als Wunschdenken oder als Schreckbild – was für die gesamte ‚Darmstädter‘ Schule des Serialismus galt: halb Werkstatt und Tempel in einem, halb doktrinäre Zwingburg.“
Renaud Machart schreibt in Le Monde auch über die kulturpolitische Rolle, die Boulez als prägende Figur des französischen Musiklebens spielte: „Diese Vorrangstellung wurde schnell angegriffen. Der amerikanische Komponist Ned Rorem nennt ihn einen ‚Hitler des musikalischen Europas‘, Pierre Schaeffer, Gründer des Groupe de recherches musicales (GRM), einen ‚Stalinisten der Musik‘. Viele werfen ihm seine Netzwerke vor, die er oft favorisierte. Aber man muss anerkennen, dass Boulez eine Macht ergriff, die gewissermaßen vakant war: Wer hätte unter seinen Zeitgenossen die Kraft und Intelligenz gehabt, eine gewiss of andere ausschließende, aber kohärente Ethik der französischen Musik zu schaffen?“
Auf Explore the core kann man Note für Note Boulez‘ Werk entdecken und auf Youtube seiner Meisterklasse zuhören.
Und hier dirigiert Boulez – mit der gestischen Akkuratesse eines japanischen Verkehrspolizisten – Edgard Varèses großartige „Ionisation“, ein Stück ausschließlich für Schlagwerk. Oder, sein Répons.
Am 5. Januar starb Pierre Boulez nach langer Krankheit in Baden-Baden. Wir gehen wohl nicht fehl mit der Behauptung, dass mit diesem Datum, jedenfalls musikhistorisch betrachtet, das 20. Jahrhundert endgültig zu Ende gegangen ist. Kaum eine Persönlichkeit war so prägend für die Geschicke der sogenannten Neuen Musik wie der 1925 im französischen Montbrison geborene Komponist, Dirigent, Lehrer und Kulturphilosoph. Sein Name stand für die musikalische Avantgarde – und das in all ihren Ausprägungen, mit all ihren Brüchen und Verwerfungen seit den Fünfzigerjahren.
„Hören Sie mal, was Sie da von den Musikern verlangen, das ist unmenschlich“, brachte Gottfried von Einem, einer der echten Boulez-Antipoden, die Kritik der Traditionalisten auf den Punkt, die Spieler wie Hörer vor all zu viel „seriellen Happenings“ (so Hans Werner Henze) in Schutz nehmen wollten. Doch war ein Pierre Boulez immer alleweil schon weiter als seine Kritiker, lugte mit der nächsten Uraufführung schon wieder hinter einem ganz anderen Winkel hervor als aus dem, in das man meinte, ihn gestellt haben zu dürfen.