978-3-95757-150-2-x160xx400x-1450710737Zu den hervorragendsten Errungenschaften der europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg gehört die Herausbildung einer Erinnerungskultur: Das Gedenken an durchlebtes Leid und politische wie gesellschaftliche Gewalt ist wichtiger Teil unseres Selbstverständnisses und notwendige Bedingung für eine aufgeklärte und bessere Zukunft. An die Opfer von Verbrechen wird mit Gedenktagen erinnert, ihr Recht auf öffentliche Anerkennung findet Gehör in Stiftungen, politischen Parteien, Gedenkstätten, Forschung und Initiativen, in den Curricula von Schulen und Universitäten.

Doch was geschieht, wenn sich die berechtigte Forderung von Einzelnen und Gruppen, das an ihnen begangene Unrecht anzuerkennen und zu kompensieren, verselbstständigt und sich der Schutz zu einem Privileg pervertiert? Wie konnte es dazu kommen, dass solche grotesken Phänomene wie Opferstolz, Opferkonkurrenz und gar Opferneid um sich greifen? Der italienische Literaturwissenschaftler und Publizist Daniele Giglioli erörtert in seinem scharfsinnigen Essay, wie sich die Opferrolle in der gesellschaftlichen Diskussion zu einer politischen Trumpfkarte und entscheidenden Ressource gewandelt hat, mit der Identitätskollektive um Anerkennung und Reparationen kämpfen.

Gedenktag für die Opfer des Holocausts, Gedenken an die Bombardierung Dresdens, Gedenktag der Kriminalitätsopfer, Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, Tag der Wohnungslosen, Volkstrauertag: Die Liste der Opfergruppen und der öffentlich begangenen Gedenkstunden wird immer länger, und auch »Täter« wollen nun »Opfer« sein, wie im Historikerstreit zum ersten Mal deutlich wurde. Doch wie konnte es dazu kommen, dass solche grotesken Phänomene wie Opferstolz, Opferkonkurrenz und gar Opferneid um sich greifen? Fernab aller Schlussstrichdebatten erörtert Daniele Giglioli, wie sich die Opferrolle in der gesellschaftlichen Diskussion zu einer politischen Trumpfkarte und entscheidenden Ressource gewandelt hat, mit der Identitätskollektive um Anerkennung und Reparationen kämpfen. Giglioli zeigt auf, welche fatale Dynamik eine Gesellschaft erfasst, die sich bald vollständig in Schuldige und Unschuldige teilt und in der das vergangene Leid erinnert werden muss. Ein ebenso überfälliger wie provokanter Debattenanstoß von bohrender Exaktheit, eine scharfsinnige Kritik der Opferfalle, die nicht zuletzt den Opfern selbst schadet.

Daniele Giglioli
Die Opferfalle
imagesWie die Vergangenheit die Zukunft fesselt
126 Seiten, Hardcover (gebunden)

Übersetzung: Max Henninger
Erschienen: 2015
ISBN: 978-3-95757-150-2
Preis: 14,90 €
Auch erhältlich als Ebook

Jan. 2016 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton | Kommentieren