jurgen-gottschling-150x150Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, Tage vor Landtagswahlen in den Bundesländer Baden-Würtemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am 13. März, gibt es viele Fragen und Meinungen.  Es sind die Jobverlagerer, die ihre eigene Haut retten, der jeweiligen Regierung, der es an handwerklicher Sorgfalt beim Formulieren der Gesetzestexte gebrach, auch jene, in deren Augen Deutschland bereits Schauplatz einer gewaltigen Gerechtigkeitskatastrophe geworden ist, das Opfer der kapitalistischen Entzivilisierung.

Angst geht um: „Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg und so weiter”

Erwerbstaetige-nehmen-Arbeitslosen-die-Arbeitsplaetze-weg_largeAngst hat jedenfalls nicht nur der Arbeiter, nicht nur der Arbeitslose und der Sozialhilfeempfänger, sondern inzwischen auch der Mittelstand, das alte und das neue Bürgertum, der Spezialisierte ebenso wie der Talentierte, von der vorauseilen – der Resignation des Uniabsolventen ganz zu schweigen.

Wenn Menschen Angst haben, ist es ganz sinnlos, darüber zu spekulieren, ob ihre Angst berechtigt sei oder nicht.

Sie ist eine soziale Tatsache, weswegen die schneidigen Verhaltensappelle der versammelten Deutschlandexperten, »Weg von!«, »Hin zu!«, »Da müssen wir durch!«, „Wir schaffen das” auch so hohl klingen.

Rot durch Schwarz mal Gelb + Grün = Braun?

Was wollen, was sollen denn solche Richtungsangaben bedeuten? Es gibt ja gar kein erkennbares Ziel in diesem Umbauprozess. Dass alles wieder so schön sozialwarm wie früher werden würde, mag wohl keiner glauben, auch verspricht niemand – nicht Angela Merkel und auch nicht Winfried Kretschmann – mehr Vollbeschäftigung und Wachstumsraten nämlich von fünf, sechs Prozent. Jahrzehnte über hätte Zeit gewesen sein können, sich über das Zusammenleben in Deutschland zu verständigen, und das meint auch über das Wozu von Veränderungen, sofern sie überhaupt noch politischer Einflussnahme unterliegen: Wovor genau wollen wir uns schützen, welche Einflüsse von außen sind (da hilft auch unsere Willkommenskultur rein gar nix) willkommen?

Stattdessen ist inzwischen jede Bewegung im Gemeinwesen fragwürdig geworden, ätzender Missmut macht sich breit, flankiert von medialer Übertreibungskunst.

Ökonomie auf Sinnsuche

Der Mauerfall war seinerzeit mit der »Großen Lüge« beantwortet worden, alles könne immer so weitergehen. Schon 1990 war abzusehen, dass die Zeitläufe die gesamte Bundesrepublik zausen würden. Das Einheitsgerede krankte immer an seinem säuerlichen Retro-Ton. Es ventilierte nur Konzepte, die von Demographie und gesellschaftlicher Wirklichkeit längst überholt waren: Nation, mal mit mehr, mal mit weniger Leitkultur, Sozialismus, mal mehr, mal weniger renoviert, Ordoliberalismus für alle, wenn nötig auch ohne Unternehmer und Beitragszahler.

25 Jahre MauerfallIst schon einen Weile her, dass Henry Kissinger die alte Bundesrepublik »eine Ökonomie auf der Suche nach einem Sinn« genannt hat. Rückschauend könnte man freilich die DDR als einen Sinn auf der Suche nach einer Ökonomie bezeichnen. Vielleicht muss dieser Epoche des Herumsuchens in Erinnerungen etwas nachgerufen werden, um die Schwierigkeiten von heute vor Augen zu führen. In der Einheit nämlich wurde gar nichts »gefunden«. Und ebenso wenig kann die Frage nach dem inneren Zusammenhalt einer Nation durch einen Verweis auf normalisierte Außenbeziehungen beantwortet werden.
Der postklassische Nationalstaat, der einen Teil seiner Souveränität aus freien Stücken Bündnissen und Organisationen überträgt, hegt kein ewiges Deutschtum, eines, an dem auch noch eine politische Idee klebte, die immer schon alle geteilt hätten. Auf einfache nationale Interessen können sich die Deutschen nicht berufen, wie sie sich bei den Nachbarn so bequem aus glorifizierenden Selbstbildern, Verdrängungen oder Lebenslügen speisen. Und auch die „anderen” müssen schließlich die Fliehkräfte in ihren Gesellschaften zähmen.

Normative Leitlinien

bawüNach 16 Jahren deutscher Uneinheit und wenige Tage vor bundesrepublikanischen Landtagswahlen zeichnet sich ab, dass Gemeinsamkeit nicht der feste Grund ist, sondern etwas zu Erfindendes – in der Debatte, nach welchem Grundgesetz-Paragraphen die neuen Länder beitreten konnten, war das schon einmal angeklungen.

rheinl.Pfalz_Inzwischen lässt sich unter den Verängstigten kaum noch Übereinstimmung finden, welche normativen Leitlinien für das gesellschaftliche Zusammenleben unstrittig sein sollen – im Rahmen von Freiheitlichkeit, Rechtstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie, die in Deutschland nun wirklich nicht strittig sind, auch wenn einige vor – und nach zumal – jeder Landtagswahl gleich wieder Weimar an die Wand malen. Die Virtuosen des Status quo kabbeln sich mit sachsen-anhalt1pragmatischen Utopisten, die Apokalyptiker mit den neuen Fortschrittsfanatikern. Nostalgie prallt auf obrigkeitlich verordnete gute Laune. Realistische Alternativen kristallisieren sich dabei vorläufig und auch für die Zeit nach den Wahlen – egal, welche Bündnisse diesen steinigen Weg gehen zu müssen von den Wählern in die Verantwortung genommen geworden sein wird – nicht heraus.
Nicht einmal Unzufriedenheit kann mehr überzeugend zum Ausdruck gebracht werden. Im Lichte welcher Alternative sollte sie auch strahlen?

Krise, die …

Die Gesellschaft steckt einerseits in der Krise, sie ist in ihrem Innersten widersprüchlich, mithin  entzweit, zerrissen, mit sich uneins; zum anderen birgt ihr Uneins-mit-sich-selbst-sein ein Moment der Distanznahme, einen Abstand von sich, in dem sie über sich zu reflektieren und sich selbst zu kritisieren vermag und also zum Bewusstsein ihrer selbst zu kommen jedenfalls und zumindest in der Lage sein könnte.

Krise und Kritik, daraus besteht unsere tragische Verfassung:

Wir nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse als ein zu sich selbst gekommenes und insofern absolutes Wissen, das allem Unvollkommenen und in sich Aufgenommen in einen Zustand allumfassender Versöhnung überführt haben wird.

Nun weiß man allerdings nicht erst seit Hegel, sondern bereits seit der Antike, dass ein solcher Erkenntnisprozess nur dann tragisch heißen darf und dass Selbsterkenntnis entsprechend nur dann tief sein kann, wenn es Opfer gibt: Wahrheit muss das Leben kosten, oder – zumindest – ziemlich weh tun. Wer aber soll sich opfern? Merkel oder Gabriel oder – nun ja, wer oder was auch immer. Sich jedenfalls nicht.

Über die morbide Kraft des Populismus

PopuIn Deutschland kehrt die soziale Frage zurück. Gefühle von Deklassierung verändern das Klima. Es scheint nur logisch, daß dies der Linken Auftrieb gibt. Nicht der Linken schlechthin, zu welcher sich ja immer noch auch Sozialdemokraten und Grüne als liberale Spielarten nach wie vor ins Spiel bringen, sondern der orthodoxen, der egalitaristischen Linken – jener, die Ernst Nolte die «ewige» genannt und deren Geschichte auf die Jakobiner zurückgeführt ist.
Ihr Antrieb ist – denken wir nur mal eben so zum Beispiel an die gerade wieder neu geschärft auseinanderklaffende Schere jener zehn Prozent Reicher, die soviel besitzen wie der Rest der Republik – die Empörung über soziale Ungerechtigkeit, ihr Ideal eine harmonisch integrierte Gesellschaft aus Gleichen, und ihr Heil sucht sie im Dirigismus: Der Staat hat für die Aufhebung spannungsreicher Unterschiede zu sorgen.

Renaissance des Sozialismus?

Das Projekt hat keinen guten Leumund mehr. Zeitweilig schien es, als sei der autoritäre sozialistische Dirigismus zu sehr diskreditiert, als dass er sich je wieder breiterer Anhängerschaft erfreuen könnte. Nach 1989 stand die Linke als ganze, wie unberechtigt auch immer, in kollektiver Haftung für die Übel des endlich zusammengebrochenen Staatssozialismus. Revisionismus war Pflicht. Auf Tagungen und in Artikelserien fragte man nach linker Identität und den noch tauglichen Beständen: «Whatʻs left?» Jahrzehnte sind seit dieser Selbstprüfung vergangen.

Oskar Lafontaine, damals noch Spitzenfunktionär der SPD, proklamierte Reformpolitik ohne Dogmen. Er forderte einen modernen, nicht allein auf den Erwerb fixierten Begriff von Arbeit, eine ökologische Marktwirtschaft und einen neuen Internationalismus, dessen kategorischer Imperativ lautete: «für das eigene Land keine Maßnahme zu beschließen und keine Forderung zu erheben, die nicht auch für fünf Milliarden Menschen möglich wäre». Diese Linke war noch selbstreflexiv, libertär, offen für Zuwanderung – und lebte im Wohlstand.

Jedenfalls im Westen. In den neuen Bundesländern trat die PDS das Erbe der dirigistischen Linken an. Versuche, auf dem Terrain der alten Bundesrepublik Fuß zu fassen, scheiterten. Langfristig sah es ganz so aus, als sollten die als postkommunistische Schmuddelkinder Attackierten auf den Status einer Regionalpartei herabsinken. Und nun dieser überraschende Auftrieb:

Mehr Keynes als Marx ?

Im Wahlprogramm der deutschen Linkspartei kommt der Sozialismus gleichwohl nicht vor. Nicht einmal als «demokratisch» solcher wird er noch beschworen. Auch bei sehr genauem Hinschauen sucht man alle typischen Vokabeln aus dem alten Arsenal klassenkämpferischer Rhetorik vergebens: Kein Wort von Ausbeutung und Entfremdung, es fehlen «der Arbeiter» und «die Reichen», von «Klassen» ist nur im Blick auf die Schulpolitik die Rede, und auch der Kapitalismus wird nicht erwähnt, also die Systemfrage nicht gestellt, sondern nur die «Übermacht des Kapitals» beklagt.

Vielleicht aber haben ja sich die Chancen für eine Renaissance orthodoxer Positionen in Wahrheit um keinen Deut verbessert, und für das Selbstverständnis der Linken gilt unverändert: «Die Idee des Sozialismus kann nur in der schwachen Restfassung eines normativen Ideals und einer Regulierungsidee überleben.» Stärkeres wird man auch im Wahlprogramm der Linkspartei kaum finden.
Das Ideal ist breite öffentliche Daseinsvorsorge in erklärter Opposition wider das «große Kartell der sozialen Kälte», und regulieren will man mit «gerechten Steuern» und einer Erhöhung der Kaufkraft. Darin steckt in der Tat mehr Keynes als Marx.

Den etablierten deutschen Parteien, die mittlerweile sämtlich in der bürgerlichen Mitte fischen, fällt der Hohn über den Gegner am linken Rand umso leichter, als die Linkspartei die individuelle Eigenverantwortung klein schreibt. Deren Vorstellung, man müsse nur die Besserverdienenden schröpfen, dann wäre der Sozialstaat finanzierbar, hat wahrlich etwas Mumienhaftes, und sowohl die in die Jahre gekommenen Spitzenkandidaten wie die Wählerklientel verstärken den Eindruck, das Ganze sei Retro für Rentner. Aber auch der Hohn der Etablierten ist doch auch allzu hochfahrend. Der Linkspopulismus konfrontiert sie mit einem Erklärungsproblem.

Wie soll man sich dazu stellen, wenn es in den Nachrichten heißt, die deutsche Arbeitslosigkeit sei erneut gestiegen, auch fehlten mehr Lehrstellen für Jugendliche als im Vorjahr, und wenn zugleich ein Rekordhoch deutscher Aktien gemeldet wird? Ökonomisch kann man das sicher befriedigend erklären. Moralisch aber bleibt ein Stachel. Solange er Menschen zu Wut reizt, wird die «ewige Linke» nicht verschwinden. Seitdem sind die Probleme der Welt und die Ansätze zu ihrer Lösung nicht wirklich unkomplizierter geworden, der Modus der öffentlichen Duelle aber schon. Und, bieten wir der AfD die Stirn und Paroli – mehr gibt es dazu nicht zu sagen und zu schreiben !

Ach ja, und zu alledem haben wir jetzt auch noch eine irgendwie zu schaffende „Flüchtlingskrise an der Backe …

Landtagswahl 2016: Wer wird Heidelberg in Stuttgart vertreten?

Dies entscheidet sich am Sonntag, 13. März 2016, wenn in Baden-Württemberg der 16. Landtag gewählt wird. Rund 98.000 Heidelbergerinnen und Heidelberger sind dann aufgerufen, ihre Stimmen in einem der 95 Wahllokale abzugeben. Rund um die Stimmenauszählung sind allein im Wahlkreis 34 Heidelberg etwa 900 Wahlhelfer im Einsatz.

Jeder hat eine Stimme

Jeder Wähler und jede Wählerin hat eine Stimme und wählt damit in seinem beziehungsweise ihrem Wahlkreis einen von den Parteien nominierten Kandidaten. In jedem Wahlkreis ist die Bewerberin oder der Bewerber gewählt, der die meisten Stimmen erreicht hat. Die Summe der Stimmenzahlen der Bewerber einer Partei in den Wahlkreisen ergibt die Gesamtstimmenzahl der Partei im Land. Die 120 Abgeordnetensitze werden auf die Parteien im Verhältnis ihrer Gesamtstimmen im Land verteilt. Überhangmandate sind möglich. Der Landtag wird auf fünf Jahre gewählt.

Zehn Wahlvorschläge

Der Kreiswahlausschuss hat für den Wahlkreis 34 Heidelberg am 19. Januar zehn Wahlvorschläge zugelassen:

Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU), Bewerberin: Prof. apl. Dr. Nicole Marmé
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (GRÜNE), Bewerberin: Theresia Bauer
Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Bewerberin: Marlen Pankonin
Freie Demokratische Partei (FDP), Bewerber: Oliver Wolf
DIE LINKE (DIE LINKE), Bewerberin: Sahra Mirow
DIE REPUBLIKANER (REP), Bewerber: Fredy Halbroth
Ökologisch-Demokratische Partei / Familie und Umwelt (ÖDP), Bewerber: Dr. Johannes Engesser
Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative (Die Partei), Bewerber: Jakob Herpich
Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA), Bewerber: Edwin Bernd
Alternative für Deutschland (AfD), Bewerber: Matthias Niebel

Jan. 2016 | Heidelberg, Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik | Kommentieren