38131869zVon Atlantis über Eldorado bis nach Ultima Thule: Umberto Eco führt durch Länder und Städte, die nirgendwo liegen und gerade deshalb höchst anziehend sind.
Könnten wir einen Blick in Umberto Ecos Kopf werfen, wir sähen nicht Gewebe und Nervenstränge, sondern eine Bibliothek. Endlose Reihen von Bücherregalen stünden da, bis zum Rand gefüllt mit jenen altmodisch papiernen Datenträgern, die manch einer schon voreilig ins Reich der Geschichte verbannt hat. Und welche Vielfalt würde sich uns präsentieren! Da stünden Abhandlungen zur

aristotelischen Naturphilosophie und Studien über mittelalterliche Ästhetik gleichberechtigt neben Klassikern der literarischen Moderne und Ian Flemings James-Bond-Romanen. Mitten im geordneten Chaos fänden sich auch manche seltenen Ausgaben von Werken aus vergangenen Epochen.

Ecos späte Bücher sind vollgepackt mit Wissen, wunderbar detailreich und liebevoll komponiert. Nur wenn, wie in den jüngsten Romanen bisweilen geschehen, Eco, der Erzähler, gegenüber Eco, dem Gelehrten, arg weit ins Hintertreffen gerät, wünscht man sich als Leser ein wenig Mäßigung – und bleibt doch entzückt. Da sich aber selbst die umfangreichen Romane nur begrenzt aufnahmefähig zeigen, hat Eco in der Vergangenheit immer wieder auch andere Wege beschritten. So erschien vor knapp zehn Jahren eine „Geschichte der Schönheit“ und drei Jahre später folgerichtig das Gegenstück, die „Geschichte der Hässlichkeit“. Beide Bücher meiden jeden akademischen Jargon. Zweifellos haftet den reichillustrierten Bänden auch etwas Anachronistisches an. Aber Eco ist kein Nostalgiker. Vielmehr ist er ein Connaisseur, der ungeachtet seiner Kennerschaft nie in Routine verfällt.

Geschichtsschreiber und Erzähler

Davon zeugt auch das jüngste Werk „Die Geschichte der legendären Länder und Städte“. Legendär sind für Eco solche Orte, an die sich „heutzutage oder in der Vergangenheit Hirngespinste, Utopien und Illusionen geknüpft haben, weil viele Menschen wirklich glaubten, dass sie irgendwo existierten oder existiert hätten“. Manche dieser Orte, wie die ägyptischen Pyramiden oder das Jerusalem der Bibel, lassen sich tatsächlich bereisen. Aber Eco geht es vornehmlich um die mit diesen Orten verbundenen Vorstellungen und Phantasien, um die Längen- und Breitengrade in den Köpfen der Menschen. So legt er dar, welche Theorien sich um die wahre Route des Odysseus ranken, nur um dann zu dem Schluss zu kommen, dass alle Versuche, die „Odyssee“ auf einer modernen Karte nachzuzeichnen, nur neue Sagen hervorgebracht haben: „Das Faszinierende ist, dass man sich durch die Jahrhunderte hindurch von einer Reise bezaubern ließ, die nie stattgefunden hat.“

Der Begriff „Geschichte“ ist seinerseits sowohl als Historie als auch als Erzählung zu verstehen. Historiographisch geht Eco vor, wenn er ausführliches Quellenstudium betreibt, seine zahlreichen Funde akribisch belegt und jedem Kapitel Auszüge aus Originaltexten beifügt. So kann man im Wortlaut nachlesen, was Johannes von Hildesheim in der „Historia de gestis et translatione trium regum“ von 1477 über die Herkunftsländer der drei Weisen aus dem Morgenland zu berichten weiß oder wie der römische Dichter Vergil die elysischen Gefilde beschreibt. Die zahlreichen farbigen, teils doppelseitigen Abbildungen vervollständigen das Kompendium und machen die Lektüre auch zu einem visuellen Erlebnis. An eine klassische Erzählung erinnert hingegen die spürbare Freude, mit der Eco vom Schlaraffenland oder von Avalon, dem Hort des heiligen Grals, fabuliert.

Wahrheit sagt allein die Literatur
Überhaupt: die Realität des Imaginären. Bekannt mutet dem mit Eco vertrauten Leser nicht nur die Fülle an, die sich auf jeder einzelnen Buchseite präsentiert. Das listige Spiel um Wahrheit und Illusion zieht sich wie ein roter Faden durch Ecos Werk, es findet sich in seinen literaturtheoretischen Arbeiten ebenso wieder wie in den Romanen. Dass die suggestive Kraft der Fiktion mitunter verhängnisvolle Folgen haben kann, davon handelte zuletzt „Der Friedhof in Prag“. In dem Roman erfindet ein windiger Fälscher die „Protokolle der Weisen von Zion“, jene unheilvolle Hetzschrift, die Antisemiten bis heute ideologische Munition liefert.

„Die Geschichte der legendären Länder und Städte“, die, wie es im Vorwort heißt, von der „Wirklichkeit von Illusionen“ handelt, stellt so gesehen einen optimistischen Gegenentwurf dar und vielleicht auch ein Eingeständnis: dass die Fiktion, nimmt man sie für bare Münze, zwar allerlei Unheil anzurichten vermag. Dass wir aber umgekehrt der Fiktion, um deren Schein wir wissen, darum nicht weniger, sondern höchstens auf andere Art verfallen. Die schönste Lüge hört auf den Namen Literatur. Aber gerade weil in den möglichen Welten der Literatur „absolute Gewissheit herrscht“, so Ecos Pointe, vermitteln sie uns zugleich „einen sehr starken Begriff von Wahrheit“.

Umberto Eco: „Die Geschichte der legendären Länder und Städte“. Übersetzt von Martin Pfeiffer und Barbara Schaden. Carl Hanser Verlag, München 2013. 480 S., Abb., geb., 39,90 €.

Dez. 2015 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton | Kommentieren