Die Bevölkerung in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens – und nach Paris jetzt auch (was Wunder) in Europa – leidet unter Mord, Terror und Vertreibung, während Politiker nicht ganz altersgemäß „Schlapp hat den Hut verloren“ zu spielen scheinen. Ende Mai wurde in Washington ein – in Teilen zensiertes – Papier des Geheimdienstes der USA-Streitkräfte DIA (Defense Intelligence Agency) veröffentlicht, dessen Freigabe eine republikanische Gruppierung per Gerichtsbeschluss gegen die Regierung erzwingen musste, datiert auf den 1 2. August. Darin steht: „Die Salafisten, die Muslimbruderschaft und al-Qaida im Irak sind die treibenden Kräfte des Aufstands
in Syrien und anderswo“, und weiter: „Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition, während Russland, China und Iran das Regime unterstützen.“
Aja, so ist das also … In Washington wird jetzt gestritten, ob die US-Regierung, der Westen und seine Verbündeten damals al-Qaida im Irak – aus dem später der sogenannte Islamische Staat in Irak und Syrien (ISIS, oder nur IS) hervorging – unterstützt haben, oder ob die Regierung damals nur heuchelte, dass die militärische Opposition gegen Assad in Syrien von weltlichen, westlich orientierten Kräften getragen werde, während die islamistischen Kräfte, die von den Golfstaaten und der Türkei unterstützt wurden, längst das Heft des Handelns in der Hand hielten.
Der syrische Präsident Bashar al-Assad sagte am 20. April 2015 dem französischen Sender France 2, befragt, ob er den Islamischen Staat geschaffen habe, um sein Vorgehen hinter diesem zu verstecken, der IS sei „2006 unter der Aufsicht der USA im Irak geschaffen“ worden. „Ich bin nicht im Irak, ich habe den Irak niemals kontrolliert, das waren die USA, und der ISIS kam aus dem Irak nach Syrien, denn das Chaos ist ansteckend.“
Der IS ist in der Tat dreierlei:
Eine der stärksten Milizen im Irak und in Syrien, das konkrete Projekt einer Staatsbildung und eine „Marke“, die konservative, islamistische junge Männer und Frauen bis nach Europa „elektrisiert“.
Dem IS geht es – so scheint es jedenfalls ziemlich deutlich – tatsächlich um einen Staat. Die im Internet präsentierten Gewalttaten wären also nicht ausschließlich einfach barbarische Akte religiöser Fanatiker, sondern dienten als „Angstfaktor zur Erhöhung seiner Wirkungsmacht“ und sollen wohl als „grausame Werbespots einer andauernden und durchgeplanten Werbekampagne“ auf dem „weltweit hart umkämpften Markt für Gotteskrieger“ angesehen werden, womit sich denn auch erklären würde, weshalb junge Menschen aus Europa zu Tausenden in das IS-Reich strömen und andere in Nordafrika oder in Nigeria ihre dort verübten Untaten an den IS-Spots orientieren und sich selbst zu Ablegern des IS erklären. Hinter dem IS stehen (und wenn wir noch so sehr gerne wegschauen und das nicht wahr haben wollen – nicht nur religiöse Fundamentalisten, sondern sunnitische Offiziere und Geheimdienstler, die einst im Dienste Saddam Husseins mit Hilfe der USA ihr Handwerk gelernt haben und nun, da sie – dann – nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA von Saddam Hussein „befreit“ und „losgelassen sind“ sind tun, was sie – mit Waffen der USA ausgestattet – gelernt haben.
Wir diagnostizieren ein Versagen der arabischen Eliten und nennen die Vorgänge um den IS eine „Katastrophe“ und eine „regionale Kernschmelze“. Sie hätten drei Ursachen:
(1) Das Erbe der US-Invasion. Die USA und Europa bekommen jetzt die Rechnung präsentiert
für die wohl teuerste militärische Fehlentscheidung des Westens aller Zeiten. Der IS ist kein Produkt des syrischen Bürgerkrieges, sondern des Irak nach Saddam Hussein – mithin der USA und des dabbleju (und des Vaters) Bush.
(2) Die strukturelle Bigotterie der reichen Golfstaaten, die sich als Bollwerk gegen den Extremismus ansehen, tatsächlich jedoch mit ihrer puritanisch-islamistischen Weltmission militante Rechtgläubigkeit, Verteufelung Andersgläubiger und kulturelle Intoleranz fördern. Hier
fehlt die Feststellung, dass diese Staaten militant salafistische Gruppen auch heute noch direkt finanzieren
und den Konflikt mit den Schiiten, in Bahrein oder gegen den Iran, anfeuern.
(3) Die wichtigste Ursache sehen wir in den Defiziten der politischen Kultur im Nahen Osten –
das gleiche Machtgebaren nämlich aller Potentaten, ob gekrönt oder über einen Umsturz an die Macht
gelangt: Wer am Drücker ist, quetscht seine Kontrahenten so unerbittlich an die Wand, bis
ihnen die Luft wegbleibt. Mahnungen zu Mäßigung, Deeskalation und politischer Integration
werden – was Wunder, muss gesagt werden dürfen – als naive Moralpredigten belächelt, politische Ämter werden – auch dies gelernt – primär verstanden als Instrumente zur privaten Selbstbereicherung.
Dies ist der Hintergrund, vor dem sich am 2. Juni in Paris die Außenminister der „Anti-ISKoalition“
trafen. 24 Delegationen und Vertreter der UNO berieten die Lage um den IS, neun
Monate nach Gründung dieser Koalition und nachdem deren Luftwaffe 4.100 Einsätze gegen
Stellungen der IS-Einheiten geflogen hatte. Vermeldet wurde, über 1 0.000 IS-Kämpfer seien
durch die Luftangriffe getötet worden. Dennoch hatten diese kurz vor dem Pariser Treffen die
Stadt Ramadi im Irak und Palmyra in Syrien erobert. Das wurde von den Teilnehmern nun in
diplomatischer Zurückhaltung als „Rückschlag“ bezeichnet. Aber „unsere Entschlossenheit ist
hundertprozentig“, verkündete der französische Außenminister. Der IS kontrolliert
zur Zeit etwa die Hälfte Syriens und ein Drittel des Territoriums im Irak und steht etwa mal weniger, mal mehr 1 00
Kilometer vor Bagdad. Über die Hälfte der IS-Milizen kommt inzwischen aus dem Ausland.
Die „Werbekampagne“ funktioniert.
Der frühere Vize-Chef der CIA, John Edward McLaughlin, hat in der Washington Post vier Bedingungen erläutert, unter denen der Islamische Staat den Krieg gewinnen könnte:
(1) Die Koalition schickt keine Bodentruppen, obwohl die irakische Armee allein nicht in der Lage ist, den IS zu schlagen. Die Alternative wäre der Einsatz von US-Truppen, den aber weder die Bevölkerung der USA noch der derzeitige Präsident wollen.
(2) Der IS erobert Bagdad und setzt sich dort fest. Das wäre von hoher symbolischer Bedeutung.
(3) Der Irak zerfällt, weil die schiitische Regierung die Sunniten weiter von Staat und Armee fernhält, während die Kurden im Norden auf sich allein gestellt bleiben und nun ihre volle Unabhängigkeit anstreben.
(4) Der Iran zieht seine Kräfte zurück, die bisher bei den Kämpfen am Boden in Irak eine wesentliche Rolle spielen – woran aber weder den USA noch Saudi-Arabien gelegen ist.
In Paris waren der irakischen Regierung Waffen und Ausbildungshilfe versprochen worden. Eine stringente Strategie gibt es jedoch nicht. Verabredungen zu Vereinbarungen mit der Türkei wurden nicht getroffen. Über deren Territorium strömen aber vor allem die ausländischen Kämpfer zum Islamischen Staat. Und sie setzt den Schwerpunkt weiter auf den Sturz Assads, nicht den Kampf gegen den IS. Es hieß, der Schlüssel liege in Bagdad. Die irakische Regierung solle die Sunniten im Land stärker beteiligen. Das war auch die Bekundung des deutschen Außenministers.
Deutschland werde mit den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Arbeitsgruppe bilden und den Wiederaufbau fördern. Dafür sollen 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.
Nach Berechnungen der US-Regierung aber sind mindestens 500 Millionen erforderlich, um die schlimmsten Probleme wenigstens im humanitären Bereich und in der Infrastruktur zu bewältigen.
Schlapp hat den Hut verloren? Ja. Aber: – Wo ist er denn jetzt, Schlappsens Hut? – Nach diesem barbarischen Anschlag fürs Erste jetzt mal gerade in Paris? Wenn doch das alles nur so einfach wäre! Ein widerwärtiges Spiel, dies „Spiel“.
15.Nov..2015, 11:35
Das ist das Spiel, wenn die Kinder sich richtig ausgetobt haben und sich wieder ein bisschen konzentrieren können, denn es ist ein Sprechspiel, das in immer schnellerem Tempo gespielt werden soll. Ein Spieler ist der „Schlapp“, die anderen werden durchnummeriert, jedem Mitspieler wird also eine bestimmte Zahl zugeordnet. Dann sagt Schlapp: „Schlapp hat den Hut verloren – drei hat ihn!“ Worauf der Spieler mit der Nummer drei schnell sagen muss: „Drei hat ihn nicht – eins hat ihn!“. Eins reagiert schnell: „Eins hat ihn nicht – vier hat ihn!“ So geht es weiter, bis sich einer verspricht oder gar nicht oder zu langsam reagiert – bis sich zum Schluss zwei Spieler streiten, wer den Hut nun wirklich hat. Wer übrigbleibt ist Sieger und darf der nächste Schlapp sein.
So einleuchtend hat mir das mit dem Islamischen Staat, alledem und den Schlapphüten des Westens noch Keiner erklärt! Es ist nicht zu fassen, aber dies Bild stimmt als Metapher für das, was wir gerade erleben.
Constantin v. d. Au
15.Nov..2015, 19:26
Dies war in Paris ein Angriff zuvorderst auf junge Leute und deren als dekadent erachtete Kultur- und Sportstätten. Tage zuvor passierte es in Beirut, zuvor in Bagdad. Allenthalben viele, viele Tote.
Die Mörder, also Islamfaschisten, bedienten sich ihres üblichen martialischen Auftretens, das aus brutalen Digital Games bekannt ist: Schwarzes Outfit, Panorama-Szenarien, Schnellfeuerwaffen, Sprengstoff, wildes, aber auch konzentriertes Umherballern, Massenmord, Wort- und Gnadenlosigkeit, Harakiri-Action. In den Ursprungsländern nutzt der IS bei „Hinrichtungen“ die digitale Visualisierung. Die Enthauptungen der Opfer werden auf Videos in Szene gesetzt und in teuflischer Siegerpose im Netz präsentiert. Der luxuriöse westliche Lifestyle wird seit längerem in den heruntergekommenen Herkunftsländern hautnah über das Internet bzw. über Smartphones wahrgenommen, auch in den Banlieues Europas.
Tonnen an Bomben wurden über den arabischen Heimatstädten abgeladen. Drohnen mit „Kollateralschäden“ tun inzwischen ein Übriges. Heimat gibt es dort nicht mehr.
Über die Jahre hat sich so eine Strategie archaisch anmutender Blindrache herangebildet, vermittels derer nun auch völlig willkürlich selektierte „Zielgruppen“ in tödliche Kollektivhaftung genommen werden. Dagegen gibt es zurzeit kaum ein wirksames Rezept. Virtualität und Realität gehen an den diversen „Joy Sticks“ zunehmend Hand in Hand. Ja, es ist Krieg. Beileibe nicht nur bei uns.
Wie schon die Historie zeigt, setzt man zum Ausführen kriegerischer Brutalitäten immer bedürftige und desorientierte junge Männer ein. Richtet sie entsprechend ab. Hier wäre anzusetzen, wenn wir das Problem grundsätzlicher anpacken wollten. Das wird dauern. Bevorzugt werden Wortgefechte um Detaillösungen, die keine mehr sind – ganz im Sinne des obigen Beitrags. Es sind längst zu viele junge Krieger allenthalben: IS, Al Kaida, Taliban, Boko Haram und, und, und. Ihre Zahl wird weiter wachsen. Die der Waffen auch.
Was Paris angeht, so mag dieses Chanson von Serge Reggiani ein bisschen bei der Trauer helfen, auch wenn es keineswegs mit abwegigen Ablassgedanken in Bezug auf deutsche Geschichte anzuhören empfohlen wird (siehe Link). Um Wölfe aber – loups – geht es allemal, nur gelten die gemeinhin als menschlicher.
https://www.youtube.com/watch?v=hVkWgksDZDI
Was Beirut angeht, so empfehle ich die Lieder der betagten libanesischen Sängerin Feiruz. Zu Bagdad fällt mir nichts ein.
Beste Grüße
Fritz Feder
15.Nov..2015, 23:39
Als über Ägypten eine russische Passagiermaschine abgeschossen wurde, schrieb niemand -#PrayForRussia
Als in der türkischen Hauptstadt eine Bombe hochging und Dutzende Menschen ihr Leben ließen, schrieb niemand- #PrayForAnkara
Als in Beirut eine Bombe hochging und wieder dutzende Menschen starben, schrieb niemand – #PrayForBeirut
Als Israel mal wieder Gazza Angriff und durch die Angriffe hunderte Menschen starben, schrieb niemand – #PrayForGazza
Hunderttausende im Irak, Syrien, Afghanistan…
#PrayForIrak
#PrayForAfghanistan
#PrayForSyria
#PrayForTurkmenistan
Ja, es ist schlimm, was da gerade in Frankreich passiert ist und alle Angehörige der Opfer haben mein herzliches Beileid, doch wir dürfen den Rest der Welt nicht vergessen, denn es sterben täglich hunderte von Menschen und das sinnlos! Stoppt den Krieg und stellt euch gegen den Terror, aber nicht erst dann, wenn er vor der eigenen Haustür steht! #PrayForTheWorld
Und, zu guter Letzt, #PrayForAmerika, damit Obama nicht die gleiche Scheiße baut, wie derzeit Bush. Das walte Gott und das hülfe schon sehr …
Matthes