Eine polemische Abrechnung mit unserer Erinnerungskultur – Rundschau zum 9. November
Die Deutschen leiden an Hitler wie andere an Schuppenflechte. Aus dem Versuch, sich gegen die eigene Geschichte zu immunisieren, ist eine Autoimmunerkrankung geworden.
Ob es um den Einsatz in Jugoslawien oder in Afghanistan geht, um Atom- oder Gentechnik, Stammzellen, Sterbehilfe – immer steht das Nazi-Menetekel an der Wand und fordert seinen Tribut. Sehen Sie diesen Film (ARTE) ich habe geweint.
Das ritualisierte Gedenken verschafft keine Erleichterung, es ist nicht mehr als eine leere Geste, eine Ablenkung von der Gegenwart – oder noch Schlimmeres.
Das Interview mit Henryk M. Broder:
Herr Broder, Auschwitz steht als Metapher für den großen Zivilisationsbruch, den die Deutschen zu verantworten haben. In dem Gedenken an Auschwitz spiegelt sich das Eingeständnis der deutschen Schuld. Jetzt geben Sie die Parole „Vergesst Auschwitz“ aus. Muss diese Provokation auch noch sein?
Ich sehe weit und breit keine Provokation. Was das Gedenken an Auschwitz angeht, so ist längst der deutsche „Sündenstolz“ (Hermann Lübbe) an die Stelle der deutschen Scham getreten – wenn es die je gegeben hat. Wir waren die größten Schurken, jetzt sind wir die größten Büßer.
Nochmals: Ist für Sie denn gar nichts sakrosankt?
Nicht dieses ritualisierte Gedenken. Ginge es nach mir, würde ich Auschwitz dem Erdboden gleichmachen. Auschwitz ist zu einem Disneyland der Gruselkultur verkommen. Zuletzt hat die Bundesrepublik 60 Millionen Euro zugesagt, um die Baracken vor dem Verfall zu retten und den verrosteten Stacheldraht zu ersetzen. Mich interessiert der letzte Holocaust so sehr wie der Auszug aus Ägypten. Mich interessiert, wie wir die Gegenwart meistern, den nächsten Holocaust verhindern.
Jetzt begründen Sie das mal!
Das Gedenken an die toten Juden hat sich vollkommen von den Opfern gelöst und dient nur noch dazu, den Tätern und deren Nachkommen ein gutes Gefühl zu verschaffen. Deswegen fangen alle Reden über Israel oder den Nahost-Konflikt mit der Formel an: „Gerade wir als Deutsche…“ Weiter geht es mit der Frage, wieso ein Volk, das dermaßen gelitten hat (die Israelis), nun ein anderes Volk (die Palästinenser) so schlecht behandelt. Und sie enden mit
der Aufforderung an die Juden, endlich die Lehre aus der Geschichte zu ziehen, so wie „wir“ es getan haben. Das deutsche Interesse an den Juden ist das eines resozialisierten Kriminellen, der zum Bewährungshelfer mutiert ist und seine ehemaligen Opfer mahnt, nicht in seine
Fußstapfen zu treten.
Haben Sie nicht Angst, mit solchen Schlagzeilen den alten wie neuen Rechten in die Hände zu spielen?
Ich wüsste nicht, wie und womit. Was Israel angeht, sind sich die neuen Rechten und die alten Linken doch einig: Das Ding muss weg. Mir geht es im Übrigen nicht darum, wem ich in die Hände spielen könnte. Im Grunde schreibe ich, damit mir eine Sache, die ich nicht verstehe, klarer wird. Beispielsweise warum die progressive Linke sich mit Gaddafi solidarisiert und kein Wort über die Massaker an der syrischen Bevölkerung verloren hat. Warum ein Provinz-Konflikt wie der im Nahen Osten so viele Energien mobilisiert, während wichtigere Konflikte unbeachtet bleiben. Warum Deutschland sich bei der Libyen-Abstimmung im Sicherheitsrat der Stimme enthält. Inzwischen kann ich mir dieses asymmetrische Phänomen von Wahrnehmung und Reaktion erklären. Es lässt sich mit einem Satz des isländischen Gen-Forschers Kari Stefansson ausdrücken: „Adolf hat die Deutschen noch immer fest im Griff!“
Henryk M. Broder, geboren 1946 in Kattowitz/ Polen, ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Als Publizist beschäftigt er sich mit den Themen Judentum, Islam, Nationalsozialismus und der deutschen Linken. Broder schreibt für die Welt sowie für den politischen Blog achgut.de. Er lebt in Berlin und Virginia/USA.
HENRYK M. BRODER
Vergesst Auschwitz!
Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage
Originalverlag: Knaus
Paperback, Klappenbroschur, 208 Seiten, 12,5 x 20,0 cm
mit Abbildungen
ISBN: 978-3-570-55204-9
€ 12,99 [D] | € 13,40 [A] | CHF 17,90 * (* empf. VK-Preis)
09.Nov..2015, 09:41
Ein reißerischer Titel mit bombastischem Untertitel und die liebend gerne verübte, provokante Pose plus Mimik von H. Broder auf dem Deckblatt dazu.
Das ist mir Anlass genug, das Buch nicht zu lesen, selbst wenn Einiges an Wahrem darin stehen sollte, wie sich im Interview teilweise andeutet. Es gibt sicher bessere und angemessenere Krimis.
Und Broder liebt, wie mir scheint, die Aporie. In ihr sollen wir letztlich verfangen. Mag ich nicht, weil inzwischen ist bei Broder die Pose weitgehend zur Posse missraten.
Beste Grüße
Fritz Feder
09.Nov..2015, 17:03
Lesen Sie mal von Broder: „Kritik der reinen Toleranz. Das wird Ihnen gefallen und das werden Sie eben drum dann wahrscheinlich erst recht nicht gelesen haben wollen.
Ich schlage mal nach dem Zufallsprinzip auf (Seite 181):
„Das Toleranz-Prinzip , das sich im aufgeklärten Westen durchgesetzt hat, basiert auf der Verbindung von selektiver Wahrnehmung mit der Angst um das eigene Wohlergehen …“
wjs-Verlag – Besprechung in der SZ: http://www.sueddeutsche.de/kultur/buch-kritik-der-reinen-toleranz-freund-und-feind-1.691104
Beste Grüße
Marion Himmelheber
09.Nov..2015, 18:51
1. Wer ist mit „Sie“ gemeint: Kommentator Feder oder Jürgen Gottschling.
2. Sollte ich Kommentator gemeint sein, dann möchte ich antworten: ich kann dieses „Toleranz-Prinizip“, auf das Sie mit Broder verweisen, gerade in den letzten Wochen und Monaten nicht erkennen. Aber was meinen Sie genauer?
Mir ist es lieber, wenn Sie mit Ihrer Meinung reagieren, statt mir einen anderen Text von H. Broder um die Ohren zu hauen. Da gehts doch auch um ein Narzißmus-Problem! Diós mío! Bei ihm!
Mit den besten Grüßen
Fritz Feder
10.Nov..2015, 21:13
Ob Broders Werk dazu beitragen wird, für den Zionismus die Endlösung in Palästina herbeizuführen, darf bezweifelt werden.
Wenn also Broders manische Schrift in der Tat das letzte Aufbäumen der zionistischen Propaganda in Deutschland markiert, kann man getrost bilanzieren:
Der Zionismus hat fertig.
Malte Bruder