332_55204_129472_xlEine polemische Abrechnung mit unserer Erinnerungskultur – Rundschau zum 9. November

Die Deutschen leiden an Hitler wie andere an Schuppenflechte. Aus dem Versuch, sich gegen die eigene Geschichte zu immunisieren, ist eine Autoimmunerkrankung geworden.

Ob es um den Einsatz in Jugoslawien oder in Afghanistan geht, um Atom- oder Gentechnik, Stammzellen, Sterbehilfe – immer steht das Nazi-Menetekel an der Wand und fordert seinen Tribut. Sehen Sie diesen Film (ARTE) ich habe geweint.

Das ritualisierte Gedenken verschafft keine Erleichterung, es ist nicht mehr als eine leere Geste, eine Ablenkung von der Gegenwart – oder noch Schlimmeres.

Das Interview mit Henryk M. Broder:

Herr Broder, Auschwitz steht als Metapher für den großen Zivilisationsbruch, den die Deutschen zu verantworten haben. In dem Gedenken an Auschwitz spiegelt sich das
Eingeständnis der deutschen Schuld. Jetzt geben Sie die Parole „Vergesst Auschwitz“ aus. Muss diese Provokation auch noch sein?

Ich sehe weit und breit keine Provokation. Was das Gedenken an Auschwitz angeht, so ist längst der deutsche „Sündenstolz“ (Hermann Lübbe) an die Stelle der deutschen Scham getreten – wenn es die je gegeben hat. Wir waren die größten Schurken, jetzt sind wir die größten Büßer.

Nochmals: Ist für Sie denn gar nichts sakrosankt?

Nicht dieses ritualisierte Gedenken. Ginge es nach mir, würde ich Auschwitz dem Erdboden gleichmachen. Auschwitz ist zu einem Disneyland der Gruselkultur verkommen. Zuletzt hat die Bundesrepublik 60 Millionen Euro zugesagt, um die Baracken vor dem Verfall zu retten und den verrosteten Stacheldraht zu ersetzen. Mich interessiert der letzte Holocaust so sehr wie der Auszug aus Ägypten. Mich interessiert, wie wir die Gegenwart meistern, den nächsten Holocaust verhindern.

Jetzt begründen Sie das mal!

Das Gedenken an die toten Juden hat sich vollkommen von den Opfern gelöst und dient nur noch dazu, den Tätern und deren Nachkommen ein gutes Gefühl zu verschaffen. Deswegen fangen alle Reden über Israel oder den Nahost-Konflikt mit der Formel an: „Gerade wir als Deutsche…“ Weiter geht es mit der Frage, wieso ein Volk, das dermaßen gelitten hat (die Israelis), nun ein anderes Volk (die Palästinenser) so schlecht behandelt. Und sie enden mit
der Aufforderung an die Juden, endlich die Lehre aus der Geschichte zu ziehen, so wie „wir“ es getan haben. Das deutsche Interesse an den Juden ist das eines resozialisierten Kriminellen, der zum Bewährungshelfer mutiert ist und seine ehemaligen Opfer mahnt, nicht in seine
Fußstapfen zu treten.

Haben Sie nicht Angst, mit solchen Schlagzeilen den alten wie neuen Rechten in die Hände zu spielen?

Ich wüsste nicht, wie und womit. Was Israel angeht, sind sich die neuen Rechten und die alten Linken doch einig: Das Ding muss weg. Mir geht es im Übrigen nicht darum, wem ich in die Hände spielen könnte. Im Grunde schreibe ich, damit mir eine Sache, die ich nicht verstehe, klarer wird. Beispielsweise warum die progressive Linke sich mit Gaddafi solidarisiert und kein Wort über die Massaker an der syrischen Bevölkerung verloren hat. Warum ein Provinz-Konflikt wie der im Nahen Osten so viele Energien mobilisiert, während wichtigere Konflikte unbeachtet bleiben. Warum Deutschland sich bei der Libyen-Abstimmung im Sicherheitsrat der Stimme enthält. Inzwischen kann ich mir dieses asymmetrische Phänomen von Wahrnehmung und Reaktion erklären. Es lässt sich mit einem Satz des isländischen Gen-Forschers Kari Stefansson ausdrücken: „Adolf hat die Deutschen noch immer fest im Griff!“
Henryk M. Broder, geboren 1946 in Kattowitz/ Polen, ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Als Publizist beschäftigt er sich mit den Themen Judentum, Islam, Nationalsozialismus und der deutschen Linken. Broder schreibt für die Welt sowie für den politischen Blog achgut.de. Er lebt in Berlin und Virginia/USA.

© Henryk M. Broder Knaus Verlag

© Henryk M. Broder Knaus Verlag

HENRYK M. BRODER
Vergesst Auschwitz!
Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage
Originalverlag: Knaus
Paperback, Klappenbroschur, 208 Seiten, 12,5 x 20,0 cm
mit Abbildungen
ISBN: 978-3-570-55204-9
12,99 [D] | 13,40 [A] | CHF 17,90 * (* empf. VK-Preis)

Nov. 2015 | Allgemein, Buchempfehlungen, Junge Rundschau | 4 Kommentare