tenno_in_vino_veritas-2Das Land, das die Ausländer nicht beschützt, geht bald unter, schrieb Goethe im „West-östlichen Divan“. Was er damit meinte (und warum er recht hatte) wollen wir – Jahre, nachdem das restriktive Ausländergesetz den Bundestag „passierte“ (und „in die Jahre gekommen ist) – für diesmal unter die Lupe nehmen.
Lange bevor es „Deutsche“ überhaupt gab, lässt sich eine multikulturelle Gesellschaft nachweisen in Köln etwa, in Trier, Augsburg und Passau. Immer neue Einwanderer stießen hinzu. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts kamen die aus Frankreich ihres protestantischen Glaubens wegen vertriebenen Hugenotten‚

erst durch sie blühte Preußen wirtschaftlich auf, um 1900 erledigten Millionen Polen Knochenarbeit auf den großen landwirtschaftlichen Gütern östlich der Elbe, in der Schwerindustrie und in den Bergwerken des Ruhrgebiets. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden viele Vertriebene aus Osteuropa hier eine neue Heimat und trugen wesentlich dazu bei, das deutsche „Wirtschaftswunder“ blühen zu lassen. Ende der sechziger Jahre dann unternahm die westdeutsche Industrie massive Anwerbekampagnen in Italien, Spanien, Jugoslawien und der Türkei – erinnern wir uns der medial groß aufgezogenen Empfänge auf Bahnhöfen – und diese „Gastarbeiter“ sorgten Anfang der siebzieger Jahre nicht nur für eine Hochkonjunktur, sondern allemal auch für eine kulturelle Bereicherung in diesem unserem Land. Auch Flüchtlinge aus der DDR haben uns nicht ausschließlich aus der Fasung gebracht. Nicht nur, die täglich ins Land strömenden Flüchtlingsströme nun aber schon: impossibilium nulla est obligatio, im Bürgerlichen Gesetzbuch  § 275 Abs. 1 :“Unmögliches muss nicht geleistet werden“.  Unsere „Willkommenskultur“  hat weltweit Aufmerksamkeit erregt und trotz widerwärtiger Naziauftritte ein gutes Bild entstehen lassen. Aber, was ist zu tun – die Kanzlerin bleibt dabei: „Wir schaffen das“ – das möchten wir ja (wenn auch nur fast) alle. Was aber, wenn es nicht mehr zu schaffen ist, obgleich:

Deutschland ist ein Einwanderungsland.
Stoßen wir verkrusteter Strukturen wegen an unsere Grenzen? Das ist nicht auszuschließen! Aber, Deutschland  ist Einwanderungsland, und es war es schon immer gewesen. Und es hat davon in allen gesellschaftlichen Bereichen profitiert. Es ist immer wieder aufs Neue absurd anzunehmen, wir hätten ohne „die Ausländer“ mehr Arbeitsplätze, mehr Wohnungen, Verdienst und Konsum zur Verfügung. Dieser Irrtum läßt vor allem in der Ex-DDR Ängste in zumal von Ultrarechten geschürten Fremdenhass umschlagen. Dem ist – wir versuchen das – ein unbedingtes Plädoyer für Toleranz entgegenzuhalten:
Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall. Man kennt den Staeckschen Spruch. Aber: wenn, wie gesagt wird, jedes Volk seine eigene Art hat, zu denken, dann beweist uns der Umgang mit Ausländern hierzulande wie Anderswo, dass alle Völker die gleiche Art haben, nicht zu denken. Das „Anderswo“ aber – wo dann ja wir Ausländer sind – soll uns heute nicht interessieren. Kehren wir vor unserer eigenen Tür. Da sind nämlich wir die verantwortlichen Inländer. Wir haben aber auch allemal Verständnis dafür zu haben, wenn Menschen anfangen zu merken, dass es so (so!) nicht weitergehen kann. Und solche Menschen haben ein Recht darauf, nicht in eine – und schon gar nicht in eine rechte – Ecke gestellt zu werden. Auch dafür haben wir im Interesse  a l l e r  Beteiligten Sorge zu tragen. Dennoch:

Wer etwas verstehen will, der musserst einmal  verstehen wollen. Und dazu muss erst mal nach den Problemen der Ausländer gefragt werden, danach (für alle, die es noch immer nicht wissen) weshalb sie alles verlassen haben, nachdem sie von wem oder was ausgebomt wurden, Verwandte verloren haben und, na, eben nach alledem. Und wenn sie denn erst einmal hier angekommen sind ist zu fragen nach Isolation, Wohnsituation und Sprache. „Oikomene“  – Kirchen sagen Ökumene – das meint den „gesamten bewohnten Erdkreis“, das sagt freilich, dass auch die „Nichtgetauften“ eingeschlossen sind. Sein sollten jedenfalls!  Wird doch – den „Christen jedenfalls – in 2. Mose 22, 20 beigebracht: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken;“ und in 5.Mose 10, 17 könnten Christen, wollten sie nur lernen, lernen: „Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und hat die Fremdlinge lieb, da· er ihnen Speise und Kleider gibt“.

Fremde (wie Freunde):
Nicht instrumentalisieren!
Wollen wir „Fremde“ in unserem Land nicht zu Objekten – und wäre die Absicht auch eine noch so gute – degradieren, so können wir nur mit ihnen zusammen, partnerschaftlich, notwendige Veränderungen anstreben. Wir müssen also ausländische Mitbürger akzeptieren, wie sie sind, nicht, wie wir sie gerne haben wollen.

Das ist – zugegeben – nicht immer leicht. Zumal dann nicht, wenn Fremde, nicht wie die vordem ins Land gebetenen „Gastarbeiter“, sondern als Flüchtlinge, als nicht eingeladene Gäste, in unser Land kommen und Probleme vervielfachen, die wir hier ohnehin schon zur genüge haben (selbst wer als „deutscher Flüchtling“ nach dem letzten Krieg in den Westen verschlagen wurde, kann davon noch ein Lied singen).

Das mittlerweile auch von Politikern hoffähig gemachte rassistische Gerede und die Phrase vom „christlich-abendländischen Erbe“, das wir jenen zufolge hierzulande zu verteidigen haben, ist nicht allein Politiker-Credo, es ist längst eine große Koalition beträchtlicher Teile der deutschen politischen Klasse, den Neonazis und herumschlagenden Skinheads. Kampagnen gegen eine vorgeblich durchrasste und durchmischte Gesellschaft werden zunehmend hingenommen, wir müssen hilflos zusehen, wie Holocaustmahnmale geschändet werden, das Betreten großer Teile dieses unseres Landes mit seinen ausländerbefreiten Zonen ist für Nichtweiße zum tödlichen Leichtsinn geworden, wie das selbst in der frühen Nazizeit undenkbar war. Hier wären Kirchen und Parteien gefordert, die mit massiven antirassistischen Kampagnen einem radikalen Umdenken den Weg zu ebnen versuchen sollten, ja müssen.

Härtetest für Liberalität
Demokrit schrieb: “Der Weise gehört allen Ländern an, denn die Heimat der großen Seele ist die ganze Welt“. Eine große Seel‘ möcht‘ schon ein jeder gern sein. Und, wiewohl mehr als 2000 Jahre später diese Auffassung immer noch dem Selbstverständnis der Staaten, die sich wie die Bundesrepublik als offene Gesellschaft begreifen, entspricht, wird es tatsächlich immer schwerer, diesem Ideal zu genügen.

Der Härtetest für die Liberalität der Gesellschaften wird allüberall immer schmerzlicher, das müssen wahrlich keine „Ausländerfeinde“ sein, die da meinen, griechischer Geist habe noch Muße gehabt, diese Gesinnung unter nahezu statischen gesellschaftlichen Bedingungen zu entwickeln und Großherzigkeit gegenüber Fremdlingen zu beweisen; und dass dagegen jedoch heute die Industriegesellschaft des Westens unter permanentem Druck rapider Veränderungen in allen Lebensbereichen ihre Aufmerksamkeit für sich voll in Anspruch nehmen könnte. Es sei hier nicht rechtsradikalem Pack das Wort geredet; wenn aber dennoch Verständnis aufgebracht werden soll für Fremde, müssen wir auch uns fragen: Sind wir dann vermufft, provinziell, fremdenfeindlich oder gar rassistisch?

Wir für uns behaupten: Nichts von alledem. Jedoch sind wir alle von den Ereignissen überrollt worden – und das muss niemanden verwundern – weil die Politik seit Jahrzehnten in diesem existenziell wichtigen Bereich nur administriert, aber nicht führt.
Innere Distanzen zu ethnisch Andersartigen mögen  mit einem hohen Respekt für diese Andersartigkeit verbunden sein. Und dennoch lässt sich daraus nicht unabdingbar die Bereitschaft folgern, deren Ausdrucksformen täglich erleben zu wollen. Darüber zu räsonieren, ob eine solche Haltung nun christlich, menschlich oder weltoffen sei, das führt zu gar nichts. Rund um die Welt, in der Republik und in Heidelberg, zeigt sich doch ständig, dass es sich hier um harte, psychologische Grundtatsachen handelt. Und die, die stehen politisch nicht zur Disposition.

Jahre „danach“
Jahrestage sind lästige Rituale. Viele reden, keiner hört hin, weil schon alles gesagt und geschrieben ist. Warum soll es dem xten Jahrestag der Abschaffung des Asylgrundrechts anders gehen als dem Feiertag zum 25ten Jahrestag in der „Angelegenheit Mauerfall“? Kaum ein Argument, kaum eine Warnung, die nicht schon vor zig Jahren sowohl vorgebracht, wie auch bestätigt worden wäre. Stimmen aus den beiden großen Parteien, die fordern, Sozialhilfe auf Dauer beziehende Ausländer sollten abgeschoben werden, muss so begegnet werden dürfen: „Das Thema Sozialhilfe muss gerade von sowohl der CDU wie auch der SPD (und aller aneren Parteien auch) behutsam angegangen werden, nicht zuletzt deshalb, weil Dank ihrer katastrophalen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialabbaupolitik ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland zum Sozialhilfeempfänger gemacht wurde.“ In der Tat. Abschieben. Die deutschen Stützeempfänger am Besten gleich mit – wegen der Gleichbehandlung könnte man da ja argumentieren …

Zum ersten Mal seit der Grundgesetzänderung hat ein Machtwechsel stattgefunden. Das Rad der Geschichte ließe sich theorethisch zurück-, zumindest aber in eine andere Richtung drehen. Aber: Bitte wer will denn das ernsthaft versuchen? Selbst in dieser schwarzgrünen (sic) Koalition rangiert ein solches Vorhaben unter „ferner liefen“. Hätten nicht gerade Pro Asyl, Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen asylrechtliche Mindestanforderungen an eine wie auch immer gefärbte Regierung gestellt, kaum jemandem wäre dies aufgefallen: Jahrzehnt Jahre nach der Aushöhlung des Asylrechts hat sich in der Parteienlandschaft auch die kleine Koalition der Kritiker mit dem Status quo arrangiert. Und dazu müssen nicht Feigheit und/oder Resignation Steigbügelhalter gewesen sein, es gibt einfach einen Mangel an Alternativen.

Derweil schon vor Jahren nämlich die Asylrechtsänderung das seit Jahren heftigst umstrittene Thema war, hat sich heute – die Gesetzesänderung hat ihr Scherflein dazu nicht unwesentlich beigetragen – das gesellschaftliche Klima dermaßen nach rechts verschoben, dass kaum jemand ernsthaft den alten Zustand vor 1993 einfordern würde. Allenfalls Schadensbegrenzung muss eingeklagt werden dürfen. Offene Grenzen, eine Million asylsuchende Flüchtlinge, wer wollte das propagieren ohne die ernst zu nehmende Sorge vor weiterer Radikalisierung haben zu müssen.

Makaber:
Der umstrittene „Asylkompromiss“ – eine unverfrorene Formulierung vs Grundgesetz – hat nicht nur die Statistiken des Bundesinnenministers, sondern auch seine linken Kritiker von einem Konfliktfeld entlastet. Das aber muss auch von dieser Regierung eingeklagt werden dürfen: Dass nämlich die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskommission und der Europäischen Menschenrechtskommission in Deutschland wieder uneingeschränkt Geltung erlangen.
Geben wir uns denn also zu guter Letzt dies mit auf den Weg: „Dostluk“, das ist türkisch und heißt Freundschaft. Und die ist, weiß Jürgen Gottschling, nirgendwo billig zu haben. Wie schwer es auch immer fällt, wir haben den Versuch zu unternehmen, die auf uns zugekommenen Probleme in diesem Sinne zu lösen.
Und, zu guter Letzt: Wer sich befreunden will, der muss sich erst einmal befremden lassen! Das ist wie im Leben …a

Okt. 2015 | Allgemein, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen, €uropa | Kommentieren