Die Boulevardtitel Bild sowie B.Z. und das „Spiegel TV Magazin“ haben beim Angebot der Kronen-Zeitung zugegriffen und das umstrittene Leichen-Foto aus dem Kühllaster in Österreich gekauft und veröffentlicht. Bei MEEDIA erklärt Bild-Online-Chef Julian Reichelt, weshalb sich die Redaktion für einen unverpixelten Abdruck entschieden hat. Fünf weitere Chefredakteure nennen Gründe, weshalb sie das Foto nicht gekauft haben. viele andere Chefredakteure hätten anders als Julian Reichelt und Kollegen entschieden.
“Wir halten die Veröffentlichung nicht nur für vertretbar, sondern für zwingend. Das Foto zeigt das erschütternde Ergebnis jahrelanger politischer Untätigkeit. Es ist unstrittig, dass wir den syrischen Kriegsflüchtlingen helfen müssen, und doch müssen sie sich in die Hände von Schleppern begeben, um sich zu uns zu flüchten, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Dieses historische politische Versagen wird durch das Foto dokumentiert. Der Skandal ist nicht die Veröffentlichung des Fotos, der Skandal ist, dass Flüchtlinge auf dem reichsten Kontinent der Erde so elendig sterben.”
“Es gibt historische Momente, in denen nur dramatische Bilder die Kraft haben, den Handlungsdruck auf Politik und Gesellschaft zu erhöhen. Das vor einem Napalmangriff flüchtende Mädchen in Vietnam war so ein Foto. Viele Medien würden heute davor zurück schrecken, es zu veröffentlichen: das Kind ist minderjährig, nackt, in einer grauenvoll entwürdigenden Situation, hilflos, die Eltern konnten der Veröffentlichung logischerweise nicht zustimmen – und dennoch war es richtig, das Foto zu zeigen. Es hat den Blick auf eine fatale Politik geprägt und dazu beigetragen, den Vietnamkrieg zu beenden, auch wenn es noch lange gedauert hat. Genauso wichtig ist das Foto der erstickten Flüchtlinge. Es dokumentiert untragbare Zustände so schonungslos, dass sich dem niemand mehr entziehen kann. Es wird dazu beitragen, die Flüchtlingspolitik in Europa hoffentlich zum Besseren zu wenden.”

“Der Express hat das von Ihnen erwähnte Foto bewusst nicht abgedruckt. Es handelt sich beim gesamten Aspekt Flüchtlinge um eine sehr sensible Thematik. Wir sehen uns in der Pflicht, groß und aufklärend mit viel Hintergrund zu berichten. Bei diesen Fotos handelt sich um die explizite Zurschaustellung von menschlichem Leid. Das ist beim Express grundsätzlich nicht gewollt.”
Andreas Rüttenauer, Chefredakteur taz:
“Bei der Berichterstattung über die in dem LKW zu Tode gekommenen Flüchtlinge stand ein Bild, das die Toten zeigt bei der taz nicht zur Diskussion. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, einzig den LKW abzubilden und damit eine emotionale Ansprache an die LeserInnen gewählt, die wir für eindeutig genug hielten. Das Bild allein hatte für uns einen kommentierenden Charakter.
Die Entscheidung, durch das Zeigen der Toten, an die Gefühle der LeserInnen zu appellieren, ist durchaus nachvollziebar. Ein grundsätzliches moralisches Urteil darüber abzugeben, ist äußerst schwierig. Auch wir haben bereits Bilder von toten Flüchtlingen gezeigt, die in Plastiksäcke verpackt in einer Kühlkammer aufeinandergestapelt worden waren. Natürlich haben wir über die Würde der Toten diskutiert. Die war ihnen indes längst genommen – und genau das wollte wir abbilden.”
Lorenz Maroldt, Chefredakteur Tagesspiegel:
“In Berlin war das Foto nicht nur in der Bild-Zeitung, sondern auch auf der Titelseite der B.Z. zu sehen, weshalb wir es intensiv in der Redaktion diskutiert haben. Uns war klar, dass wir das Foto nicht abdrucken würden. Bei Fotos, die man als voyeuristisch bezeichnen könnte, ist klar, dass wir uns zurückhalten. Wir sind eine Familien-Zeitung und verzichten bewusst auf Bilder, die Dinge auf drastische Weise beleuchten. Wenn Leichen in Ausnahmefällen abgebildet werden, dann nur verpixelt. Ein Grund für eine Veröffentlichung wäre, den Menschen die Augen öffnen zu wollen. In diesem Fall reicht alleine die Vorstellung, dass 71 Menschen auf engstem Raum qualvoll erstickt sind. Das Foto ist eine Zurschaustellung von Leichen. Das ist kein Ausnahmefall.
Letztlich finde ich die Veröffentlichung aber vertretbar. Man kann Gründe finden. Die B.Z beispielsweise hat sich an die so genannten “besorgten Bürger” gewandt, um zu zeigen, was sie anrichten würden. Diese Zuspitzung war zwar gewagt, da die Opfer nicht von Rassisten, sondern von Schleppern eingesperrt worden sind. Aber sie ist vertretbar. Die B.Z. setzt auf Emotionen und wendet sich auch in ihrer Zielgruppe an die “Besorgten”. Die Veröffentlichungen dieses Fotos werden sicher ein Fall für den Presserat, der meines Erachtens aber keine Rüge aussprechen muss.”
Lesen Sie hier, welche Meinung vier Medienethik-Experten zum Abdruck des Leichenfotos haben.