„Wer nicht genauso an den Führer glaubte wie ich, war nicht mehr mein Freund“, erinnert sich eine der Autorinnen des Buches. Die Propaganda der Nationalsozialisten hatte mehr noch als bei Erwachsenen ganze Arbeit bei Kindern geleistet. Sie waren stolz auf ihre Uniformen, stolz auf ihre Aufgaben bei Jungvolk oder BDM. Der „Kampf um das deutsche Vaterland“ war Ehrensache für sie. Doch dann fielen immer mehr Bomben auf Deutschland, verloren immer mehr Familien ihr Zuhause. Am Ende durfte auf die Flucht gerade mal die Puppe mitgenommen werden.
Die 40 Zeitzeugen-Erinnerungen spiegeln die ganze Bandbreite der Ereignisse in den Kriegsjahren wider – vom Glauben an Hitlers Versprechungen bis zum Verlust der Illusionen. Von Not und Entbehrungen ist die Rede, von Lebensmittelmarken und einer heimlich geschlachteten Gans. Die Abwesenheit der Väter, der Einfallsreichtum der Mütter beim schwierigen Organisieren des Alltags, der Aufenthalt im Luftschutzkeller und die Schrecken der Flucht – all das nimmt einen breiten Raum in den Berichten ein.
Doch es sind nicht nur schreckliche Erinnerungen, die hier von Menschen wie du und ich festgehalten wurden. Auch von idyllischem Landleben wird erzählt und von Streichen, wie sie Kinder zu allen Zeiten aushecken. Da wird in einem Flugzeugrumpf auf dem Güterwaggon Luftkampf gespielt oder Fallschirmspringen mit einem Schirm geübt – einschließlich Landung im Misthaufen. Manchmal gibt’s auch eine Ohrfeige, ohne etwas ausgefressen zu haben – wenn ein Junge beim Metzger, bei dem es gratis Wurstsuppe gibt, „Guten Morgen“ statt des „Deutschen Grußes“ sagt. Schnell stottert er dann mit hocherhobener Henkelkanne „Heil Hitler – Herr Metzger!“. Die gönnerhafte Reaktion des Fleischers: „Na siehste, bei uns gibt’s zwar immer Suppe ohne Einlage, aber nie ohne Heil Hitler!“
Den Wert des Buches machen die Schilderungen der vielen alltäglichen Kleinigkeiten aus, die ein buntes Zeitkolorit entstehen lassen und das Lebensgefühl der damaligen Zeit so lebendig
vermitteln. Dadurch sind die Texte ein wichtiger Beitrag zum Verständnis eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte.
Die Reihe ZEITGUT beleuchtet unser Jahrhundert durch Schilderungen von Menschen wie du und ich. Die Bücher fassen einzelne Zeiträume und Themen zusammen. Die Texte werden sensibel überarbeitet, ohne den Schreibstil der Verfasser zu verändern.
Gebrannte Kinder. Zweiter Teil.
Kindheit in Deutschland 1939-1945.
352 Seiten mit viele Abbildungen, Ortsregister, Chronologie.
3. erweiterte Auflage,
Zeitgut Verlag, Berlin.
Klappenbroschur
ISBN: 978-3-86614-250-1, EURO 12,90
Leseprobe
[Frankfurt/Main –Seckmauern, Odenwald; 1944]
Helmut Faust
Onkel Adam
In den Jahren 1943 und 1944 waren die Bombenangriffe auf Frankfurt am Main so häufig geworden, daß wir nachts in unseren Kleidern schliefen, um möglichst schnell in den Luftschutzkeller oder in den Bunker zu gelangen. Oft schafften wir es gar nicht bis zum Bunker und mußten unterwegs in den nächstbesten Keller flüchten. Mein kleiner Bruder war damals vier Jahre alt und entsprechend langsam, so daß er getragen werden mußte. Wenn sich ihn nicht unsere Nachbarin schnappte und vorauseilte, mußte ich mich mit ihm abschleppen, obwohl ich auch erst neun Jahre alt war. Meine Mutter trug indessen die stets gepackten Koffer mit dem Nötigsten für uns drei. Während unsere Mitbewohnerin mit meinem Bruder oft noch rechtzeitig den Bunker erreichte, hockten meine Mutter und ich in irgendeinem fremden Keller, in den uns ein eifriger Luftschutzwart hineinbugsiert hatte.
Obwohl es im Bunker sehr eng zuging, weil er immer überfüllt war und es zudem stickig und muffig roch, fühlte ich mich dort dennoch sehr viel sicherer als in einem Luftschutzkeller, der den Namen eigentlich nicht verdiente hatte. In einem solchen Keller hörte man die Explosionen der Bomben viel stärker: erst ein durchdringendes Pfeifen, dann ein Rauschen und fast zeitgleich ein fürchterliches Krachen, gefolgt von dunklem Grollen. Dabei vibrierten Wände und Fußboden, Staub und Putz rieselten von der Decke und von den Wänden. Alle sahen nach jedem Einschlag ängstlich nach oben, als fürchteten sie, daß die Decke gleich einstürze. Immer herrschte zudem die Ungewißheit, ob unser Haus getroffen worden war. Nachsehen war unmöglich, denn das Inferno dauerte an.
In den Luftschutzräumen stand stets eine Zinkwanne mit Wasser. Wir hatten alle Tücher dabei. Da wir befürchteten, daß Gas geworfen wurde oder durch Bomben eine Gasleitung beschädigt sein könnte, tauchten wir die Tücher ins Wasser und hielten sie uns vor Mund und Nase. Man konnte zwar Gasmasken kaufen, aber nur wenige besaßen eine. Entweder gab es zu wenige oder sie waren zu teuer. Einmal setzte ich im Keller eine auf – das war ein furchtbares Gefühl!
Ich glaubte, ersticken zu müssen und vertraute lieber dem feuchten Tuch.
Angesichts der heftigen Bombardierungen entschloß sich meine Mutter, mit meinem Bruder und mir bei den Großeltern mütterlicherseits in Seckmauern, einem kleinen Dorf im Odenwald, Schutz zu suchen. Auch meine Tante war mit meiner Cousine und meinem Cousin bereits dort. Nach den Erfahrungen der Bombenangriffe in der Stadt war es befreiend, in Feld, Wald und Wiesen grenzenlos umhertoben zu können. Obwohl wir keine Spielsachen hatten, wurde es nie langweilig. Natürlich hatten wir auch Aufgaben: Ähren sammeln als Hühnerfutter, Kartoffeln lesen für einen Bauern, der uns dafür Milch, ein paar Eier oder etwas Mehl gab, Futter für die Kaninchen besorgen oder Tannen- und Kiefernzapfen sammeln, um Feuer zu machen.
In unregelmäßigen Abständen mußte meine Mutter für einige Tage nach Frankfurt, um nachzusehen, ob unsere Wohnung noch stand und zu verhindern, daß die Wohnung beschlagnahmt wurde. Bei diesen Aufenthalten in Frankfurt mußte ich als „der Große“ sie immer begleiten, da mein Vater im Herbst 1942 eingezogen worden war. Solche Reisen hielten stets Überraschungen bereit. Mal mußten wir vorzeitig aus dem Zug aussteigen, weil die benachbarten Städte bombardiert wurden, mal fuhr der Zug nicht weiter, weil die Schienen nach einem Bombenangriff in den Himmel ragten.
Bei einer dieser Fahrten war Onkel Adam, ein jüngerer Bruder meiner Mutter, dabei. Er war Offizier und befand sich auf Heimaturlaub. Die schicke Luftwaffenuniform mit den glänzenden Schaftstiefeln stand ihm gut. Ich war mächtig stolz auf meinen Onkel. Es war im Sommer 1944. Heute weiß ich, daß es kurz nach dem 20. Juli, dem Attentat auf Hitler, gewesen sein muß. Wir waren zu Fuß auf dem Weg zum Frankfurter Ostbahnhof. Meine Mutter und mein Onkel trugen einen mit Einweckgläsern gefüllten Wäschekorb. Mitten in der Trümmerwüste, nicht mehr weit vom Bahnhof, wurde Fliegeralarm ausgelöst. Die folgende Auseinandersetzung zwischen meiner Mutter und meinem Onkel ist mir bis heute wortwörtlich im Kopf geblieben:
Meine Mutter setzte den Korb ab: „Schafft es denn niemand, diesen Sauhund (gemeint war Adolf Hitler) umzubringen?“, schimpfte sie.
„Wenn du nicht meine Schwester wärst, würde ich dich hinbringen, wo du hingehörst“, antwortete mein Onkel prompt. Ich stand dabei und hatte keine Ahnung, wo das sein sollte.
Meine Mutter kam in Rage und schrie ihren Bruder an: „Was hast du da gesagt? Was fällt dir Lümmel ein? Habe ich dir dafür deinen verschissenen Arsch abgewischt?“
Mit der flachen Hand schlug sie ihm links und rechts auf die Wangen. Bevor mein verdutzter Onkel etwas sagen konnte, schrie meine Mutter zornig: „Nimm den Korb und sieh zu, daß wir zum Bunker kommen, bevor uns die Brocken um die Ohren fliegen!“
Ich war mehr als erschrocken, denn eines wußte ich oder ahnte es zumindest: Wenn jemand gesehen hätte, daß eine Frau einem deutschen Offizier auf offener Straße ins Gesicht schlägt, hätte das ein sicheres Todesurteil bedeutet. Ich glaube sogar, mein Onkel hätte sie, ohne daß es für ihn Folgen gehabt hätte, auf der Stelle erschießen können.
Für ihn jedoch hatte es Folgen, wenn man an Schicksal glaubt. Kurz nachdem er wieder an der Front war, kam die Nachricht. Er wurde vermißt, auf der Rollbahn von Minsk nach Bobruisk – bis heute.