globale bodenlos flusser chimpnolog y.jpg - Still © Cyriak Harris

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„Still“ – Pressekonferenz

In der Art eines Parcours lädt die Ausstellung Bodenlos – Vilém Flusser und die Künste dazu ein, die Bewegung der flüchtigen Existenz Vilém
Flussers als ein Modell für jene Gewalt des Zusammenhangs vorzustellen, den wir das 20. Jahrhundert nennen. In der Ausstellung treten zu
den Manuskripten, Bild- und Tondokumenten, digitalen Artefakten, Reiseaufzeichnungen und Korrespondenzen auch Arbeiten von rund 30 KünstlerInnen, auf die Flusser Bezug nimmt und die mit ihm korrespondiert oder zusammengearbeitet haben.

Bodenlas Vilém Flusser und die Künste ist in Kooperation mit der Akademie der Künste entstanden und wird kuratiert von Baruch Gottlieb
und Siegfried Zielinski.

Fr, 14.08.2015–So, 18.10.2015
Bodenlos – Vilém Flusser & die Künste
ZKM_Lichthof 1 + 2, 2. Obergeschoss

 

Vilém Flusser: Der Mensch als digitales Projekt

Vilém Flusser

Vilém Flusser

Unterstützt das Internet vor allem demokratische Prozesse oder können von ihm ebenso totalitäre Regime profitieren? Stärkt es wirklich das Individuum, weil es mehr Transparenz und neue Partizipationsmöglichkeiten schafft, oder wird es etwa den global agierenden Datenkraken auf dem Silbertablett serviert? Gibt es überhaupt einen nachhaltigen Kontrollverlust, der alte Strukturen und Hierarchien hinweg fegt oder ist die Konterrevolution bereits auf den Weg gebracht?
Entlang dieser Linien verläuft so ungefähr die argumentative Wasserscheide, die Internet-Befürworter von Internet-Gegnern trennt. Und die Lektüre einiger Essays Vilém Flussers, der als einer der Klassiker der Medienkritik des 20. Jahrhunderts gilt, zeigt: Diese Fragen bestehen länger, als viele glauben dürften. (Was eine positive Antwort nicht unbedingt wahrscheinlicher macht.)
Die folgenden Zeilen sind der Versuch, die Gedankenwelten bzw. das Medienverständnis Flussers nachzuvollziehen und ab und zu als Folie auf den gegenwärtigen Webdiskurs zu legen.

Kontext

Nach Frank Hartmann kann man Vilém Flusser einer Richtung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kommunikationsmedien zuordnen, die “sich gegen die subjektzentrierte Auffassung von Geschichte und ihre Privilegierung von Geist und Bewußtsein stellt.” Stattdessen rücke nun die “Veränderung sozialer und psychischer Verhältnisse und Wahrnehmungen” durch die Medien in den Blick. Anders gesagt: “Technologie prägt die Kultur einer Gesellschaft.”
Für Hartmann ist Harold A. Innis – Begründer der Toronto School of Communication, der auch Marschall McLuhan angehörte – einer der Klassiker dieser Herangehensweise. Für die späten 1940er, frühen 1950er Jahre sei folgende Aussage Innis` “fast revolutionär” gewesen, so Hartmann:
Wir können wohl davon ausgehen, daß der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt. Auch stellen wir fest, daß der überall vorhandene Einfluß des Mediums irgendwann eine Kultur schafft, in der Leben und Veränderungen zunehmend schwieriger werden, und daß schließlich ein neues Kommunikationsmittel auftreten muß, dessen Vorzüge eklatant genug sind, um die Entstehung einer neuen Kultur herbeizuführen.
Flusser wiederum sehe, so Hartmann weiter, anders als zum Beispiel McLuhan eine zweite industrielle Revolution erst mit der “Elektrizität der Speicher- und Übertragungsmedien”, also nach dem Zweiten Weltkrieg, gegeben. Sein Ansatz sei dabei phänomenologisch, und seine Kommunikationstheorie “ziele auf die Veränderung des unsere Kultur bestimmenden alphanumerischen Codes.”

Codes

Alphanumerischer Code – das ist für Flusser die Schriftkultur des Westens, die nicht einfach alphabetisch heißen könne, da sie von Beginn an auch “formal-kalkulatorische” Elemente – sprich Zahlen – in sich aufgenommen habe, die sich der normalen, linearen Lesart von Texten widersetzten (zeitlos vs. linear). Denn das Neue an der Schrift sei im Kern das Aufrollen des vormodernen Bildes, zum Beispiel der Höhlenmalerei, in Zeilen bzw. Linien gewesen. Diese Linearität habe das Entstehen eines geschichtlichen Bewusstseins erst ermöglicht.

Doch dieses Bewusstsein, so Flusser, verflüchtige sich nun, da Techno-Bilder alphabetische Texte zunehmend ersetzten, die Gesellschaft aber von Texten programmiert sei. Dies sei eine revolutionär neue Lage:
Die gegenwärtig an der okzidentalen Gesellschaft Beteiligten (…) sind vorwiegend für lineare Codes programmiert – obwohl sie selbstredend auch Bildercodes, Raumzeitcodes usw. empfangen und senden können -, aber sie sind unfähig, die aus den Inseln der technischen Codes strömenden und sie täglich berieselnden Informationen zu speichern (…). Dadurch werden sie für diesen Typ von Informationen bloße Durchgangskanäle – nicht eigentlich Gedächtnisse, sondern Kanäle -, also das, was man gewohnt ist, “Empfänger der Massenmedien” zu nennen.
Mit dem Informationszeitalter und der Erfindung des Computers werde das prozessuale historische Denken (linear) nach und nach dem formal-kalkulatorischen (zeitlos) unterworfen – durch eine naturwissenschaftlich gebildete, neue Elite:

Eine Elite, deren hermetische Tendenz sich laufend verstärkt, entwirft Erkenntnis-, Erlebnis- und Verhaltensmodelle mit Hilfe sogenannter “künstlicher Intelligenzen”, welche von dieser Elite programmiert werden, und die Gesellschaft richtet sich nach diesen für sie unlesbaren, aber befolgbaren Modellen.
Das elitäre Denken (…) erkennt, erlebt und wertet die Welt und sich selbst nicht mehr als Prozesse, sondern als Komputationen, etwa als Ausbuchtungen von Relationsfeldern.

 Humanismus/Nächstenliebe

Flussers Weltbild ist nicht ohne Tücken. Wenn er zum Beispiel die Schriftkultur des Westens als Voraussetzung für historisches Bewusstsein sieht, schließt er gleichzeitig aus, dass andere, schriftlose Kulturen so etwas wie Geschichtsbewusstsein überhaupt haben können.
Ähnlich ist es mit seinem Bild, den Menschen als “digitale Streuung” und die Gesellschaft als naturwissenschaftlich geprägt zu begreifen:
Die Aufklärung beruht auf dem Glauben an die Fähigkeit der Vernunft – und vor allem der Logik und der Mathematik -, die Hintergründe zu erklären. Sie ist eine Tochter des Humanismus, der seinerseits auf dem Glauben beruht, der Mensch sei gut. (…) Wie Midas verwandelt die Vernunft [aber] alles, was sie berührt: zwar nicht in Gold, aber in Wertfreies, in ethisch Neutrales. Je weiter die Vernunft in die Hintergründe vordringt, desto mehr werden Ethik und Politik zugunsten einer Wissenschaft mit Totalitätsansprüchen abgesetzt: Einzig wissenschaftliche Erklärungen gelten. Und damit ist selbstredend sowohl der Aufklärung wie dem Humanismus der Boden entzogen.
Ohnehin passe angesichts der anzustrebenden (demokratischen) Medienkultur der reversiblen Kabel und der damit einhergehenden Dialogkultur der Rückgriff auf das jüdisch-christliche Konzept der Nächstenliebe besser.
Nichts gegen praktizierte Nächstenliebe. Aber Humanismus und Aufklärung als erledigt zu erklären, das ist schon – sagen wir – stark gewöhnungsbedürftig.

Quellen im Netz zu Flusser
Vilém Flusser Archive
Flusserstudies.net

 

 

 

Aug. 2015 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, Junge Rundschau | Kommentieren