Anne Dorn, geboren 1925 ist die älteste Autorin im Jahrbuch der Lyrik 2015. Jason Bartsch, der jüngste, wurde 1994 geboren. Von Urgroßmutter bis Urenkel reicht der Zeithorizont der Anthologie. Aber vielleicht stammen beider Gedichte ja aus demselben Jahr. Anne Dorn schreibt davon, dass sie jetzt immer nach Halt sucht: „Kein Schritt mehr möglich, ohne die Welt zu begreifen…“ Sie erzählt von ihrer noch jungen Stimme, die es ihr unmöglich macht zu schildern, „dass ich nunmehr immer präsent, äusserst anstrengend stets gegenwärtig lebe, damit kein Unglück geschieht, kein Sturz, keine Verbrennung, Ohnmacht oder dergleichen…“ Sie endet mit den Zeilen:
Ich narre Euch nicht und entschuldige mich
Mit eben der Stimme, dem Grund
Der Verwirrung. Verzeiht,
dass ich sie habe und noch nicht schweige.
Wir altern unterschiedlich. Aber auch unsere verschiedenen Körperteile altern unterschiedlich. Auch die ältesten von uns haben Hautpartien, die noch keine Falten geworfen haben. Oder sie haben wie Anne Dorn eine Stimme, der man ihr Alter nicht anhört. Wir sind Lebewesen, bei denen es sehr lange dauert, bis alle Teile richtig zusammengesetzt sind und so dauert es auch, bis auch das letzte Stück wieder zusammengefallen ist.
Jason Bartschs Gedicht ist kurz und sei in toto zitiert:
sätze über planken
Wir ziehen dir die worte aus der nase,
gemeinsam an einem strang der bohnenranke, jack,
schicken sätze über planken,
wanken in den wellen über haien,
die beissen unseren worten in die beine
Wir wollen nicht so tun, als gebe die unterschiedliche Schreibart zweier Autoren Auskunft über generationenspezifische Eigenheiten. Dazu brauchte man mehr Belege, einen meine Kenntnisse bei weitem übersteigenden Überblick. Christoph Buchwald wird ihn haben. Schließlich gibt er seit 1979 das Jahrbuch der Lyrik heraus. Er schreibt: „1979 glaubte ich schon (oder noch) zu wissen, was ein gelungenes Gedicht ausmacht. Im ersten Jahrbuch sind Gedichte zu finden, bei deren Lektüre mir heute die Schamesröte in den Kopf steigt. Inzwischen bin ich gut 187.500 Gedichte weiter, und das führt unvermeidlich zu einigen normativen Ablagerungen im Lyrikhirn. Dennoch wird die Beurteilungssicherheit nicht größer, vor allem nicht bei den Gedichten, die nicht gut und nicht schlecht sind.“
Auch das sind schöne Beobachtungen über das Altwerden und die ambivalente Rolle von Erfahrung. Ich mag auch den Hinweis darauf, dass die wahre Meisterschaft des ästhetischen Urteils sich nicht bei der Wahrnehmung einer außergewöhnlichen Qualität zeigt, sondern bei der Fähigkeit, Unterschiede im Grauingrau zu erkennen.
Sünje Lewejohann, geboren 1972 in Flensburg, Mutter zweier Kinder, hat in den vergangenen zehn Jahren nur zwei Gedichtbände veröffentlicht. Ich wünsche mir, dass es nicht an ihr, sondern an den Lektoren liegt, denn ich mag das Gedicht, auf das ich in dieser Anthologie stieß:
beeren/
du hast dir ein maul aus rosen gemacht,
die dornen ein rot lackierter kuss.
hast starr gelegen, wie ausgestopft
die augen zwei kugeln aus glas
mein leib warst du, lächeltest
über das land aus eis und nebel, es war
so etwas wie ein klirrender
morgen. Unter die haut triebst du die dornen.
setz jetzt den fuß nach draußen
und laufe mit tausend körpern ums haus.
Jahrbuch der Lyrik 2015, herausgegeben von Christoph Buchwald und Nora Gomringer, Deutsche Verlagsanstalt, München 2015, 221 Seiten, 19,99 Euro.