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Vor allem im Vergleich zu früheren Ergüssen à la Erotica mit seinem Lounge-Flair, seinen Softporno-Saxofonen und Streichelzoo-Streichern, seinem Telefonsexgeschnurre und seinem fummeligen Pianogeklimper ist Rebel Heart ein durchaus avanciertes Stück Popkunst, bei dem die von Produzenten wie Neptunes und Timbaland seit den späten 1990er Jahren geprägte Simultaneität von Prägnanz und Varianz tonangebend ist. Mal schraubt sich Madonnas Stimme beschwingt eine G-Dur-Tonleiter herunter (Bitch I’m Madonna), mal verbreiten Lagerfeuer-Klampfen melancholische House of the Rising Sun- Stimmung (Devil Pray), mal schauen der Boxer Mike Tyson und die Hip-Hop-Legende Nas vorbei (Iconic, Veni Vidi Vici), mal bietet Ghosttown Fitnesscenter-Pop mit Armageddon-Einsprengseln, mal besticht Illuminati, einer der Höhepunkte des Albums, mit rätselhaft-sarkastischen Raps, zerklüfteten Beats, tief heulenden Synthie-Sirenen und atavistischen Videokonsolen-Sounds.
Ansonsten regiert auf Rebel Heart natürlich weiterhin der alte Diktator Viervierteltakt, ist weiterhin alles gestreamlined und warenförmig, auf Identifikation selbst in der Irritation getrimmt. Wenn es dirty wird, dann mit Soundkondom. Wenn von Schmerz die Rede ist, dann tut es nicht weh. Damit ist Rebel Heart dem zwischen Selbstverzuckerung und neoliberaler Härte schwankenden Westen genau angemessen. Für die Möglichkeit einer Personalunion von Geronten und Rebellen bietet auch das Wutbürgertum einen Beleg.
Dem Pastiche- und Bricolage-Charakter ihres Werks, zu dem die konsequente Inszenierung ihrer selbst als Powerfrau und Lolita, als Domina und Sklavin gehörte, attestierten Postfeministen einen durchaus emanzipatorischen Charakter, etwa was die Aneignung und Neucodierung alter Geschlechterrollen betrifft. Wenn Madonna die Hure gibt, wenn sie sich als Objekt darbietet, dann für ihren eigenen Erfolg, ihre eigene Macht, ihre eigene Unsterblichkeit. Die für sie obligate Verkörperung mannigfaltiger Männerfantasien ist zuallererst Mittel zum Zweck.
Schönheit ist ein Knochenjob in entzauberten Sphären
Doch ist Madonna wirklich nur postmodern? Ist sie nicht auch, vielleicht mehr noch, das Paradox einer Renaissance-Frau? Nicht zuletzt angesichts der synkretistischen Verfasstheit von Rebel Heart drängt sich dieser Gedanke auf. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts beschrieb der humanistische Gelehrte Pico della Mirandola den Menschen als ein Entwurfswesen und charakterisierte ihn mit genau jenem Wort, das an Madonna haftet wie kein anderes: Chamäleon. Der Mensch, so Pico, dürfe aus allen Quellen der Kultur und des Wissens schöpfen, könne sein Selbst frei wählen, zum Höchsten aufsteigen und zum Niedersten hinabsinken. Eine These, die Madonna sicherlich unterschreiben würde, widmete sich Pico doch überdies, genau wie sie, dem Studium der Kabbala. Aus Gender-Sicht ist es bemerkenswert, dass Madonna somit einen Typus verkörpert, der traditionell männlich besetzt ist – den Renaissance-Menschen, der sich souverän in mehreren Welten bewegt, an sich selbst arbeitet wie an einem Kunstwerk, Gestern und Morgen in Wort und Tat synthetisierend.
Mit Blick auf ihre Krebsgänge zwischen radikaler, lustbetonter Weltzugewandtheit und ihrem Hang zu Ritual, Religion und Mystik könnte man Madonna sogar Mittelalterlichkeit attestieren – nicht nur weil ihre geliebte Kabbala im Mittelalter entstand. Nimmt man die Diagnose ernst, dass es im Mittelalter keine klare Trennung zwischen Sakralem und Profanem gab, dass es im Adel – und mitunter auch im Klerus – sexuell überaus freizügig und experimentell zuging, dass der Mensch als Homo viator galt, als Wanderer, der ewig unterwegs ist, so erscheint Madonna weitaus weniger modern oder postmodern, als ihre Glitzermaskeraden und topaktuellen Produktionstechniken vermuten lassen. Madonna ist auch ein Paradebeispiel für die Dialektik der Aufklärung, für die typischen Atavismen des Fortschritts. Vielleicht würde sie sogar bestätigen, was Adorno und Horkheimer über die Kulturindustrie behaupteten: „Fun ist ein Stahlbad.“ Stets explizierte Madonna all die Mühsal und Arbeit, die hinter ihrem Mythos, ihrem Erfolg, ihrer Schönheit, ihrem Sex-Appeal stecken. Gottesmutter ist ein Knochenjob in entzauberten Sphären.
Man könnte sich nun über den Albumtitel Rebel Heart mokieren und spöttisch fragen, was denn, bitte schön, an diesem Zirkus noch rebellisch sein solle – ausgerechnet heute, da Porno-Starlets aus dem Umfeld von kink.com vermöge brutalistischer Rektalakrobatik ganz andere Tabus brechen und dabei, wie einst Madonna, emanzipatorische Motive reklamierend, in hochkulturellen Zirkeln rezipiert werden. Doch ganz so einfach ist es nicht. Wenn eine bald Sechzigjährige wie eh und je als Überlolita posiert, anstatt sich brav ins Dämmerreich des Aquajoggings und der Bingohallen zu schicken, dann kann man das mit der üblichen pathologisierenden Breitseite zwar Jugendwahn oder Neotenie nennen. Aber eben auch Rebellion – gegen die von kulturkonservativer Seite unterstellte Flüchtigkeit des Pop, gegen die Indifferenz von Natur und Zeit, gegen den Defätismus der „So ist’s halt“-Sager.
Madonna ist mythisch im Sinne des Philosophen Leszek Kołakowski: „Jegliche Energie, die auf die mythische Welt gerichtet ist, trägt einen erotischen Impetus.“ Im Mythos, so Kołakowski, strebe der Mensch nach Vereinigung mit dem Ganzen, grenze sich aber auch von seiner als gleichgültig empfundenen Umwelt ab. Streben nach universeller Gültigkeit im Zuge individualistischer Rebellion – genau das ist Madonna, wie sie sich selbst oft charakterisiert hat: „Die Welt teilt sich in zwei Kategorien: in Menschen, die den Status quo leben und auf Nummer sicher gehen, und in Menschen, die auf Konventionen pfeifen und ihren eigenen Weg gehen. Ich habe mich der zweiten Kategorie angeschlossen.“ Natürlich, müsste man hinzufügen, mit dem Ziel, gerade bei den Opportunisten des Zeitgeistes zu punkten.
Madonna garantiert die Trennung von Kunst und Pop
Gewiss eckt Madonna heute nicht vergleichbar an wie 2003, als sie gegen den Irakkrieg Stellung bezog. Doch die Verlängerung der Provokation kann nicht das Ziel sein – vielmehr zählt nun das ungleich krämerischere Geschäft, Erreichtes zu bewahren und zu kultivieren. Die alternde Madonna ist nicht mehr nur Künstlerin und Kuratorin, sondern auch Konservatorin und Restauratorin ihrer selbst. Was ihr dabei zu fehlen scheint, ist jene direkte Verbindung zur zeitgenössischen Kunstwelt, die Lady Gaga durch das Branding ihres Schaffens als „Art Pop“ und ihre Kollaboration mit der Übermutter der Performance-Kunst, Marina Abramović, gegenwärtig zu spannen versucht. Madonna beruft sich zwar auf die Malerin Frida Kahlo als Vorbild, erwarb schon früh Kunstwerke, hatte eine kurze Affäre mit dem Popkünstler Jean-Michel Basquiat, ließ sich von Warhol und den Selbstmaskierungen der Konzeptkunstfotografin Cindy Sherman inspirieren. Sie sponserte sogar deren Ausstellung The Complete Untitled Film Stills 1997 im New Yorker Museum of Modern Art. Über Madonna und Sherman schrieb die Kunstwissenschaftlerin Hanne Loreck: „Wie Geschwister Spielzeug teilen, teilen Madonna und Cindy Sherman also Stereotypen einer Epoche.“
Dessen ungeachtet, scheint Madonna auf einem eigenen, einsamen Popstern um uns zu kreisen, unnahbar, hermetisch verkapselt in einem Mythos aus Musik, Mode, Film. Weder sucht sie die Nähe der Fans wie Lady Gaga, noch bedarf sie der Adelung durch die bildenden Künste. Aber vielleicht impliziert das – bisherige – Nicht-Aufgehen Madonnas in der offiziösen Kunst ja eine Form von produktiver Widerständigkeit? Solange die Sphären von Kunst und Pop, trotz unablässiger freundlicher Übernahmen, zumindest symbolisch getrennt sind, erzeugt Reibung Energie, ist wirklicher Austausch möglich. Wenn man so will, erhalten Figuren wie Madonna die Existenzgrundlagen der Avantgarde am Leben. Mit ihrem neuen Album „Rebel Heart“ kapert sie das Erbe der italienischen Humanisten – und den männlichen Anspruch auf Universalität.