Religion ist ideologieverdächtig, und sie ist ideologieanfällig. Sie kann, wie man heute – nicht nur in Anbetracht des Islamismus – lieber sagt, fundamentalistisch werden: unduldsam, intolerant, doktrinär und indoktrinierend, streit- und herrschsüchtig, auf politische Macht erpicht, gewalttätig.Aber Religion ist nicht dasselbe wie Ideologie; mit dem Glauben der Gläubigen muss kein «falsches Bewußtsein» einhergehen und keine Augenwischerei. Nicht jede Religion ist das «Opium des Volkes», das Karl Marx darin sah. Wobei der Religionskritiker Marx der Religion immerhin zugestand, ein «Seufzer der bedrängten Kreatur» zu sein, während sein selbsternannter Erbe Lenin sie als «geistigen Fusel» abtat, der jener Kreatur von den Herrschenden verabreicht werde: «Opium fürs Volk» nannte Lenin das folgerichtig, nicht «Opium des Volkes». dass der real existent gewesene Sozialismus seinerseits Züge einer religiösen oder auch pseudoreligiösen Weltanschauung trug, die dem Volk eingetrichtert wurde, ist bekannt und spricht wiederum, indirekt, für die mögliche Nähe von Religion und Ideologie – dafür, daß Religion «schlecht» sein kann.Was wäre demgegenüber eine «gute» Religion, eine Religion, die für die Menschen und ihr Zusammenleben gut ist?

Sozialwissenschafter beurteilen Religionen gern nach ihrem Nutzen für die gesellschaftliche Integration. Sie preisen die Integrations- und Transsubstantiationskraft der Religion, eine Konkurrenzgesellschaft atomistisch vereinzelter Egozentriker in eine dichte Gemeinschaft geschwisterlich liebevoller Gotteskinder zu verwandeln. Auch feiern sie die moralische Macht religiösen Glaubens, starke, bindende Werte zu begründen und so der grassierenden Erosion gerade moderner Gesellschaften zu wehren. Theologisch informierte Religionsdeuter sind skeptischer. Statt Außenperspektiven suchen sie Binnenperspektiven religiösen Bewusstseins einzunehmen und die Selbstdeutungen der Frommen zu verstehen. Dabei zeigt sich ihnen die elementare Ambivalenz aller Religiosität. Gottesglaube kann Humanisierung durch reflektierte Selbstbegrenzung der Frommen fördern. Er kann aber auch zu egomanischer Selbstvergöttlichung führen und in unbedingten Herrschaftswillen oder fanatische Absolutsetzung der eigenen Gottes- und Weltsicht umschlagen.

Nuancierungen

Dies gilt für alle religiösen Überlieferungen, keineswegs nur für eine bestimmte Religion wie etwa «den» Islam im Gegensatz zu anderen wie «dem» Christentum oder «dem» – vermeintlich so kosmosfriedlichen – Buddhismus. Allerdings unterscheiden sich Religionen auch darin, wie sie in ihren Symbolwelten und Bekenntnissprachen die Gefährdungspotentiale des Religiösen thematisieren. So wenig alle Götter gleich sind, so wenig sind auch die Normen idealer Gottesverehrung der Frommen identisch. Die Frage nach der Vorzüglichkeit eines Glaubens gegenüber anderen Glaubensformen führt unausweichlich ins Zentrum theologischen Streits, in die Kontroversen um Bilder Gottes, Deutungen der geschaffenen Welt und Vorstellungen vom Menschen als vornehmstem Geschöpf.
Gut ist eine Religion, wenn sie in ihren Symbolsprachen selbst die Ambivalenzen des Religiösen präsent hält, bearbeitet und so durch selbstbewußte Glaubenspraxis die Besinnung ihrer Anhänger fördert. Wie bei gutem Essen oder eleganter Mode kommt es auch hier auf feinste Nuancen an.
Religiöse Symbolsprachen bergen heilsame Grundunterscheidungen – die Unterscheidung von Gott und Mensch, Ewigkeit und Zeit, Heil und Verderben. Die Güte einer Religion hängt im Kern davon ab, wie das Göttliche imaginiert wird. Treten die Götter im sei es fröhlichen, sei es konfliktreichen Plural auf? Wird, im Falle von monotheistischen Glaubensweisen, der eine Gott als allmächtig autoritärer Weltenherrscher, als eifersüchtig grausames Willkürsubjekt oder Seinsgeborgenheit bietender, liebevoller Vater vorgestellt? Wie offenbart er sich, und welche Art der Gottesverehrung klagt er ein? Am Bilde Gottes entscheidet sich, wie in Glaubenssprachen die Welt und die Stellung des Menschen in ihr gedeutet werden. Keine Religion ohne Gesamtanschauung der Welt und kein Glaube ohne Muster idealer, gottgewollter Lebensführung der Frommen. Fordert Gott blinde knechtische Observanz, gebietet er harte Askese und radikalen Lustverzicht, oder entlässt er sein vornehmstes Geschöpf in verantwortliche, endliche Freiheit? Macht Gott Angst, oder stärkt er gegen alle Negativitätserfahrungen endlichen Lebens unser Urvertrauen, dass die Welt als Schöpfung in ihren Grundstrukturen verlässlich und gut ist? Indem der Fromme sich auf seinen Gott verläßt, kann er souveräne Distanz zur gegebenen Welt gewinnen, alle innerweltlichen Bindungen relativieren und die naturspontane, aber sündhafte Fixierung auf das eigene Ich durchbrechen. Im gelingenden Fall befördert Glaube Reflexivität, nachdenklichen Abstand zur eigenen Unmittelbarkeit.

Gefahr der Selbstvergöttlichung

In der einzigartigen Intimität der Bindung an einen Gott liegt aber auch der verführerische Reiz, sich mit dem Absoluten gleichzuschalten und sich gegen die Übermacht der vielen Bösen als exklusiv auserwählter Mandatar von Gottes Willen zu inszenieren. Besonders gefährdet sind hier die Mystiker aller Religionsgemeinschaften, weil sie in den Visionen einer «ganzheitlichen Verschmelzung» ihrer Seele mit Gott kaum noch die demütige Selbstunterscheidung von Gott leisten können. Der Mensch ist aber nicht Gott, und es tut ihm nicht gut, sich selbst zum Gott machen zu wollen; in der klassischen christlichen Theologie galt nicht nur «amor sui», die Selbstliebe, sondern auch die eitle «superbia», wie Gott sein zu wollen, als Sünde. Wäre denn also eine Religion, wenn sie in ihren Bildwelten, Riten und Symbolsprachen Individuen zu einem klaren, realistischen Blick auf ihr Leben verhilft und zum memento mori ruft: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dss wir lebensklug werden.» Dann stärkte gute Religion die Frommen darin, das Wissen um die eigene Endlichkeit in sensibler, intensivierter Aufmerksamkeit für den je zu gestaltenden Lebensmoment zu aktualisieren.

Jeder Fromme, welcher Couleur auch immer, steht – was Wunder – im Verdacht, primär seinen eigenen Glauben für gut, jedenfalls andere Religionen für schlechter zu halten. Dieses konfessorische Element lässt sich nicht zum Verschwinden bringen, würde auch noch so intensiv nach guter Religion gefragt, kann doch jede Antwort immer nur vom Einzelnen verantwortet werden. Dann liegt es nahe, Kriterien guter Religion auch in „religiöser Sprache“ zu benennen. Gut ist Religion, wenn sie Arroganz verhindert und selbstbewusst freie Demut einübt. Gute Religion hilft dem Menschen dazu, die vielfältigen, chaotisch widersprüchlichen Erfahrungen des Lebens und heterogene Rollenzumutungen zu einem sub specie Dei, einem konsistenten Lebensentwurf zusammenzufügen.

Man kann das klassisch in der Sprache des liberalen Bildungsprotestantismus beschreiben: Religion dient im gelingenden Fall der Persönlichkeitsbildung. Für solche Bildungsprozesse ist Selbstbegrenzung grundlegend. Gute Religion befördert die Einsicht, dass freie Vernunftwesen sich verfehlen, wenn sie Freiheit als Selbstentgrenzung missverstehen. Zur Abwehr solcher Fehldeutungen der Geschöpflichkeit des Menschen bedürfenten also religiöse Organisationen einer institutionell unabhängigen kritischen Dauerreflexion ihrer symbolischen Bestände, also wissenschaftlicher Theologie. Gut wird Religion nur dann, wenn sie sich durch autonome theologische Rationalität immer neu in Frage stellen, auf die ihr immanenten Perversionspotenziale hin analysieren läßt – um reflektierter Freiheit der einzelnen Frommen willen.

Es wäre also – so einfach könnte das sein – eine «gute» Religion eine Religion, die für die Menschen und ihr Zusammenleben gut ist!

gott

Jan 2015 | Allgemein, Essay, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal | Kommentieren