Dem Fundamentalismus gleich welcher Coleur keine Chance. Versprochen!

Dem Fundamentalismus gleich welcher Couleur keine Chance. Versprochen!

Wir bedürfen keiner begründeten Willensfreiheit. Wir haben sie längst und bedürfen dazu einer Genehmigung von Niemandem. Was hat es mit Geist, Gehirn und Bewusstsein auf sich, was unterscheidet den Menschen vom Affen (er kann lügen!) und welche Rolle spielt die Spieltheorie in der Evolution: „Ob ich angreifen oder fliehen oder vielleicht auch nur drohen oder bluffen soll, hängt außer von meinem Handlungspotential auch von dem Gegenhandlungspotential des Partners ab.“ Und, seien Wolf Singer und Gerhard Roth beschieden, die gezwungen sind, den freien Willen zu bestreiten:
Was wäre das doch für ein Scheißspiel, bei dem man selber keinen Zug machen dürfte …

So belieben wir das auch zu sehen! Singer hingegen hat mit seiner Theorie, Entscheidungen würden bereits unbewusst getroffen, bevor wir sie wissentlich wahrgenommen haben und kontrollieren können, für einiges Aufsehen gesorgt. Wir halten, Singer zum Trotz, dagegen:  Der Wille des Menschen ist frei – und fragen erst mal dagegen: Wodurch eigentlich unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Von allen vermeintlich oder wirklich einzigartig menschentypischen Eigenschaften sind eigentlich nur drei bis vier wesentliche Phänomene übriggeblieben, die überdies auch noch – eng miteinander verbunden – ein psychobiologisches Syndrom bilden, das zusammen den Menschen physisch und psychisch einzigartig macht. Sprache, Einfühlungsvermögen, Bewusstsein und damit verbunden: Selbsterfahrung von Willensfreiheit. Bedauerlicherweise sind allerdings nicht alle gleichermaßen einer objektiv-externen Analyse zugänglich, wie dies für die Sprache zutrifft, die wir von außen an Mitmenschen wahrnehmen und erforschen können. Selbst sie kann man sich jedoch nicht ohne Einfühlungsvermögen vorstellen, mittels dessen einem anderen Lebewesen, ja sogar manchmal unbelebten Naturereignissen Ziele, Absichten, Wünsche und Gefühle zugeschrieben werden. Wir wissen natürlich aus Selbsterfahrung, daß wir solches nicht nur können, sondern gar nicht anders können, als dies gegenüber Mitmenschen so zu tun, doch haben ausgeklügelte Verhaltensversuche bei Tieren nichts davon oder allenfalls bei Menschenaffen Ansätze dazu erkennbar gemacht.

Evolution des Bewusstseins

Vielleicht ist dies ein Weg, die Evolution menschlichen Bewusstseins, menschlichen Denk- und Sprachvermögens, menschlicher Gedankenlesekunst als einen spieltheoretischen Anpassungsprozeß zu verstehen, der wie alle biologischen Anpassungsvorgänge am Ende sehr viel mehr geliefert hat, als von der natürlichen Selektion bestellt war: das unerschöpflich kreative menschliche Gehirn und das, was es hervorzubringen vermag; bewußten menschlichen Geist, eingebettet in bewußte und unbewußte Antriebe, Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Damit wüssten wir zwar noch immer nicht, was Bewusstsein ist, aber wir verstünden etwas besser, was es macht und wozu wir es nutzen. Geben wir es zu: Geht es uns denn bei altbekannten physikalischen Erklärungsprinzipien der unbelebten Welt so viel anders?
Schwerkraft, elektromagnetische Felder, schwache oder starke Wechselwirkung oder gar Zeit: Wer weiß denn wirklich, was das wirklich ist? Was uns an diese Frage erinnern möchte:“ Warum eigentlich ist etwas und nicht nichts“? Alsdann, wir müssen doch froh sein, solcher Fragen mächtig und gar zu verstehen in der Lage zu sein, was dies alles und wie bewirkt …

Bewusstsein hat seinen Preis

Natürlich kommt auch eine solche Errungenschaft wie Bewusstsein nicht ohne ihren Preis einher. Wir sind ja nicht nur Homo imaginativus, (der einfallsreiche Mensch), der in seinem Weltmodell agiert und es ständig durch Erfahrungen in der Wirklichkeit – selbständig und durch soziales Lernen – zu verbessern sucht, sondern auch Homo imaginarius (der wahngeplagte Mensch). Es geht dabei nicht etwa nur um Traumwelten, die kennen wir auch, aber die kennt vielleicht auch unser Hund. Wir können uns – allein oder gemeinschaftlich – auch alle möglichen Welten ausdenken und sie sogar für ganz real halten und fanatisch daran festhalten, sogar bis zur Aufopferung des eigenen Lebens: nicht zuletzt metaphysische Welten, wie Gläubige von Religionen; es reicht, dass wir – allein oder gemeinschaftlich – ganz fest daran glauben. Glauben: Dies ist das für wahr erachtete, gedachte Weltmodell, so wie es sich der Weltanschauung darstellt.
Aber, da bleibt noch etwas zu bedenken, das sich aus solcher Beschreibung und Analyse eigentlich wie von selbst ergibt, als sei es ein weiteres unvermeidliches Zusatzprodukt solcher Evolution: Entscheidungsvermögen. Als Verhaltenscharakteristik können wir es weder der sammelnden Honigbiene noch dem jagenden Fuchs, weder dem dominierenden Alpha-Gorilla noch gar einem Menschen absprechen. Hinter solch scheinbarer Selbstverständlichkeit verbirgt sich jedoch nicht nur ein „schröckliches“ Ungeheuer, nämlich die Willensfreiheit, sondern es lauern hier auch mehr als zweitausend Jahre abendländische Philosophie, mehr als zweihundert Jahre neurobiologische, kausalanalytische Forschung und sogar eine scharfzüngige Feuilletonphalanx.

Willensfreiheit abstreiten

freier_WilleAus der schier unübersehbaren Fülle an wissenschaftlich-literarischen Versuchen, mit dem Problem der Willensfreiheit umzugehen, will ich hier nur auf Gunther Stent, Daniel Wegner, Gerhard Roth, Daniel Dennett und Benjamin Libet verweisen und natürlich auch Wolf Singers gewichtige Beiträge dazu nicht außer acht lassen. Ich gestehe, dass mich die evolutionäre Emergenzperspektivevon Daniel Dennett besonders anzieht. Ich will hier jedoch nicht nachzeichnen, was andere anderswo
viel besser dargelegt haben, sondern mich ganz auf die immer mal wieder aktuelle Diskussion beschränken, in der hervorragende Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth oder Wolf Singer genauso wie Benjamin Libet dem Menschen Willensfreiheit rundweg abstreiten zu müssen meinen und zwar, wenn die Contradictio in adjecto erlaubt ist, sogar einigermaßen »widerwillig«, vermeintlich durch unwiderlegliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse dazu gezwungen.

Freiheit ist Wahlfreiheit

Nun möchte ich der Letzte sein, der die Gültigkeit der Naturgesetze im Bereich des Lebendigen – etwa gar unter Bezug auf metaphysisch – vitalistische Sondergesetzlichkeiten des Lebendigen – bestreiten wollte. Zwar sind wir über das mechanistisch-deterministische Naturverständnis eines Newton oder Laplace hinaus und akzeptieren nicht nur fundamentale Zufälligkeit, sondern auch die prinzipielle Nichtvorhersagbarkeit (sehr wohl jedoch oft Hinterhersagbarkeit) des Verhaltens
nichtlinear dynamisch-komplexer Systeme, obwohl auch in ihnen lückenlose Kausalität aller Wirkungen und Entwicklungen gilt: zwar determiniert, aber unvorhersehbar.
Wer Entscheidungsfreiheit des Willens ernst nimmt, muß deshalb noch lange nicht die Gültigkeit der Naturgesetze im allgemeinen und des Kausalgesetzes im besonderen auch für tierische und menschliche Gehirne bestreiten. Dessen könnte nur ein epistemologischer Strohmann bezichtigt werden. Freiheit ist Wahlfreiheit, nicht Kausalfreiheit.

„Unverursacht, also frei …“

Es kann also nicht um die – tatsächlich physisch und metaphysisch – unsinnige Forderung nach Ursachenlosigkeit menschlichenHandelns zum Nachweis von Willensfreiheit gehen. (»Unverursacht, also frei«, so Wolf Singer!) Eine solche Killerhypothese soll sich kein wissenschaftlich Gebildeter zu eigen machen (von metaphysischen Interpretationen von Willensfreiheit sei hier grundsätzlich nicht die Rede). Aber selbst wenn wir die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalgesetzes auch für den handlungsentscheidenden Menschen voll anerkennen, bleibt doch reichlich Argumentationsraum für einen Begriff freien Willens, der nicht aus sozialpolitischen oder moralischen Gründen, wie bei Immanuel Kant, dafür Zuflucht zu einem Postulat der praktischen Vernunft nehmen muss, da es ohne Annahme freien Willens einfach nicht möglich wäre, ein moralisch verantwortliches, menschliches Leben zu führen; weil sozusagen also nicht sein kann, was nicht sein darf.
Dabei gilt erneut, wie schon für den Begriff Bewußtsein ausgeführt:
Der sprachpsychologisch nahegelegten Verdinglichung von Bewußtsein, Geist und freiem Willen als einer Sache oder Substanz braucht keine Realität zu entsprechen; es kann sich geradesogut um einen Prozess, um eine Leistung – nämlich hochkomplexer Gehirne – handeln, die wir essentialistisch zu einer Sache hypostasieren: man höre …

Irrtum vorbehalten!

Ich möchte zwei Gruppen von Argumenten gegen freien Willen hervorheben, die ich keineswegs bestreiten will. Erstens Benjamin Libets Nachweis, dass bereits vor unserem freien Entschluss zu einer Willkürbewegung im Gehirn neurophysiologische Vorbereitungen getroffen worden sind, ehe wir also einen solchen Beschluss überhaupt bewusst gefasst haben (sehr wohl aber vorher zu fassen erwogen!).

Zweitens die ebenfalls nicht zu bestreitende Fähigkeit unseres Gehirns/Bewusstseins, nachweislich von einem Experimentator von außen, zum Beispiel durch elektrische Reize, gleichsam aufgezwungene Gehirnaktivitäten so zu interpretieren, als entstammten sie unserem eigenen, spontanen Wollen. Dies wird allerdings nur den erstaunen, der sich eine allzu einfache Vorstellung von der abbildungshaften Entstehung der Repräsentationen von Erfahrungen im Gehirn macht. Es sind ja nicht nur Sinnestäuschungen, die uns darüber belehren, dass das Gehirn/Bewusstsein eine Einrichtung ist, die aus unzureichenden, lückenhaften, oftmals sogar verfälschten sensorischen oder neuralen Inputdaten etwas möglichst Wahrscheinliches, Sinnvolles zu konstruieren vermag, um angemessen darauf reagieren zu können: Irrtümer vorbehalten – wozu und wodurch könnten wir denn sonst lernen?

Gewissheit von Freiheit

Auf zwei aber ebenfalls unabweisbare Gründe möchte ich eingehen, die mich veranlassen, an dem geistigen Konstrukt eines freien Willens oder unserer Fähigkeit zu Willensentscheidungen festzuhalten.
Erstens ist es für Ego, also einen selbst, phänomenologisch so wenig möglich, den zumindest zeitweisen Besitz von Bewusstsein zu verkennen, zu leugnen oder auch nur zu ignorieren, wie dies für die Befähigung zu insoweit freien, das heißt mit der Gewissheit von Freiheit verbundenen Willensentscheidungen gelingt – nicht absolut, aber in Freiheit gewährenden Grenzen.
Willensfreiheit ist eine primäre Erfahrungstatsache, unfreie Vorbestimmtheit, eine Theorie über die Wirklichkeit. Seit wann können Theorien Tatsachen widerlegen, die sie doch eigentlich erst erklären sollen?

Morgens geht die Sonne auf …

Ein manchmal gehörter Einwand, dann müsse man ja auch an die Bewegung der Sonne um die Erde glauben, weil man doch unbestreitbar die Sonne jeden Morgen aufgehen sehen könne, ist hier unzutreffend.
Gesehen wird – und dies ist wieder primäre, indisputable Erfahrung – die Tatsache der Relativbewegung zwischen Erde und Sonne. Deren ptolemäische oder kopernikanische Erklärung ist ein theoretisches – prüfbares – Konstrukt aus solcher Erfahrung. Habe ich Kopernikus verstanden, dann hält meine Erfahrung keineswegs unbeirrbar an Ptolemäus fest, nur an der Gewißheit der Relativbewegung. Habe ich aber Gerhard Roth oder Wolf Singer noch so oft gelesen, dann habe ich immer noch die subjektive Primärerfahrungsgewissheit, dass ich mich entscheiden kann, ihren Argumenten zu folgen oder nicht. Was immer die physikalisch vorgeblich erzwungene Widerlegung von Willensfreiheit vorzubringen hat, es ändert nicht ein Jota daran, dass wir in dem Bewußtsein befangen bleiben, ja dass wir darauf angewiesen sind und nur so leben können, tagtäglich ununterbrochen Entscheidungen treffen zu können. Und treffen zu müssen.

Gewissheit ohne Genehmigung

Ehe Neurophysiologen, Psychologen, Physiker, Metaphysiker, Pataphysiker oder Neurophilosophen uns hochwissenschaftlich begründet Willensfreiheit zuteilen oder aberkennen wollen, haben wir sie doch schon längst in Besitz und handeln in ihrer Gewissheit, ohne dafür eine amtsärztliche Genehmigung zu brauchen. Vielleicht ist die Selbsterfahrung von Willens- und Entscheidungsfreiheit sogar eine zwangsläufige Folge von Bewusstseinsvermögen im vollen, menschlichen Sinne! Dies ist mein erstes (nicht eben neues) Argument: das der subjektiven Primärevidenz von Entscheidungsfreiheit. Wie das Nervensystem es zustande bringt, dass wir in diesem sicheren Bewusstsein leben, ist freilich eine andere Frage, die ich gerne Berufeneren zu beantworten überlasse. Wozu wir über diese Bewusstseinseigenschaft „Entscheidungsfähigkeit“ verfügen, dies ergibt sich sozusagen fast zwingend aus evolutionsspieltheoretischen Überlegungen.

Aber ich, ich bins doch gar nicht, der saufen will …

Noch ein Argument für menschliche Entscheidungsfreiheit, das ich als das Argument des ganzen Ich bezeichnen möchte. Stellen Sie sich einmal vor, es würde einer sagen, er gehe jetzt mit seinem Kumpel, in dem er wohne, nämlich seinem Gehirn, ein Bierchen zischen, weil der arme Kerl doch selbst keines bestellen könne und unbedingt eine Blutverdünnung brauche: Ego – der Geist – kaufe seinem Vermieter – dem Körper – ein Bier! Das Ich ist aber kein parasitischer Mitesser oder Mitwisser des Es, sondern eigentlich dessen Besitzer, genauer: Es selbst! Eine Persönlichkeitsspaltung zwischen beiden sollte uns doch sehr befremden. Bei manchen Autoren, die über Willensfreiheit beziehungsweise über deren Nichtvorhandensein schreiben, scheint solche Persönlichkeitsspaltung jedoch gang und gäbe.

Sie wollen uns nämlich glauben machen, ein Mensch sei für seine Handlungen nicht verantwortlich, weil er nämlich dafür selbst gar nicht zuständig sei; das mache alles ein unbewußtes Gehirn für ihn.

Keiner kann anders, als er ist ?

Wolf Singer hat solche Behauptungen kürzlich auf folgende verstörende Sätze gebracht: »Keiner kann anders als er ist« und »Eine Person tat, was sie tat, weil sie nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt«; eine erstaunlich zirkuläre Beweisführung und darüber hinaus die Kapitulation jeder – auch der selbst bewirkten – Bildungs- und Erziehungsfähigkeit des Menschen. Selbst wenn ich einem anderen den Schädel einschlage, war ich es also gar nicht, das war doch mein Kumpel, das Gehirn. Sein Körper, der tumbe Klotz, bei dem ich lediglich als geistiger Untermieter hause, der mich sozusagen post factum von seinen Taten unterrichtet.

Der bewusstlose Körper

Wenn ich das aber nicht war: wer denn dann sonst? Was soll dies für ein seltsamer Leib-Seele/Körper- Geist-Dualismus sein, der dem Teil, der bewusst denken kann, die Handlungskompetenz abspricht, während er dem bewusstlosen Körper die volle Prokura erteilt? Ich bin doch nur ein Individuum, ein ganzer Mensch, selbst wenn Biologen und Psychologen auf getrennten Wegen an mir herumforschen. Wer könnte denn behaupten, dass ich für Handlungen, an deren Vorbereitung und Ausführung mein Unbewusstes mitwirkt, keine Verantwortung trage? Uns ist doch sehr genau bekannt, dass es vermutlich keine Handlung und vielleicht nicht einmal einen Gedanken, geschweige denn ein Gefühl oder eine Willensregun gibt, in die nicht auch unbewusste, akute und erinnerte, sensorische, zentralneurale, rekursive und alle möglichen Impulse eingehen, die erst zusammen mit dem, was davon in meinem Bewusstsein angelangt, das ganze Handeln,Wollen, Fühlen des ganzen Menschen ausmachen.

Wer schläft; schlafe ich ?

Wenn einer bewusstlos schläft, heißt das etwa, dass dann niemand bei ihm zu Hause ist? Dass Er am Ende gar nicht schläft, sondern Es, sein Leibesgehäuse ohne dessen Ich, das im Traum davonspaziert ist? Das Ich ist immer der ganze Mensch, Leib und Seele, Unbewusstes und Bewusstsein, selbst wenn nur das von seinem gesamten senso-neuro-motorischen Leben in sein Bewusstsein dringt, was in der Entwicklung unseres Monstergehirns für nötig gehalten wurde, um ihm in den Evolutionsspielen der Wechselwirkung mit anderen Spielern Fitnesschancen, Erfolg, Befriedigung, Lust zu ermöglichen – was auch immer es ist, wozu das Ich mit seinem Handeln strebt. Die Ursachen seines Verhaltens mögen in den Gründen seines Handelns weder vollständig aufgehen noch eins zu eins abbildbar sein, aber sie sind beide zusammen die Antriebe der Daseinsverwirklichung und Lebensbewältigung.

Und wär er in Ketten geboren …

Being No One – da ist kein bewusstes Ich, das sich vom restlichen Organismus abtrennen ließe; aber das bringt doch nicht gleich das ganze In-Dividuum, das unzerteilbare Ich, zum Verschwinden! Dass das selbstbewusste Ich sich allerdings niemals ganz selbst durchschauen kann, ist ebenso einsichtig, denn es kann keine Repräsentation des Ich geben, die auch die Repräsentation dieser Repräsentation und weiter ad infinitum enthielte die philosophische Sentenz: „individuum est ineffabile“ („das Individuum ist nicht zu fassen“). Ja, daraus entspringt des Menschen Freiheit!

Was schliesslich die moralische Verantwortung für unser Handeln angeht: Das neurobiologische »Ohne-Ich« wird schnell zum moralisch-verantwortungslosen »Ohne-Mich«, wenn nur noch das Es, der unbewußte Körper-Tölpel, die Regie führt. Dies hätte in der Tat dramatische Folgen. Des  Menschen Willensfreiheit, nämlich seine Entscheidungsfreiheit in eigener Verantwortung zu bestreiten, nähme ihm gleichzeitig alles, was seine Menschenwürde ausmachen kann. So wie ich das Bewußtsein nur verlieren kann, wenn ich vorher eines hatte, so kann ein Mensch im Vollrausch nur deshalb nicht mehr frei entscheiden, weil er nüchtern von solcher Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen kann. Wer Täter damit exkulpieren wollte – nicht nur Untäter, sondern genauso Wohltäter, kreative Erfinder, Schöpfer ihrer Werke –, dass sie ja alle nichts dafür können, würde damit nicht etwa bemitleidenswerte Straffällige vor unfairer Verantwortlichkeit und Verurteilung schützen: Er behandelte sie nicht anders als einen beißwütigen Hund, als jede beliebige Kreatur, die für ihr Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden kann. Menschenwürde bedeutet immer Entscheidungsfreiheit und damit Zurechnungsfähigkeit von Handlungen.
Andersherum: Wer Mensch ist und im Bewusstsein der Strafwürdigkeit seiner Tat dennoch Böses tut, trägt dafür die Verantwortung und muss auch die Folgen, zum Beispiel soziale Strafen, übernehmen – weil er auch als Straftäter eben ein Mensch ist und kein Zombie, kein Roboter, keine tollwütige Bestie und auch keine rein physikalische Monsterwelle. Verantwortlich ist für sein Handeln, wer imstande ist, Gründe und Folgen von Alternativen abzuwägen, nicht etwa nur, wer ursachenlos handeln könnte – was wäre dies für eine Unsinnsforderung, was für eine Karikatur von Willensfreiheit. Bewusstsein erlaubt eben dies: zwar nicht alle Gründe und alle Folgen abzuwägen, aber doch im Rahmen des Menschenmöglichen abzuwägen – und dann die Entscheidung des ganzen Ich für das Gewollte zu treffen. Erst diese Freiheitszuschreibung respektiert auch die Menschenwürde des Verbrechers.

Anders als Philosophen beteiligen sich Juristen (Andrea Combé, Danke für den Hinweis) schon lange nicht mehr an solchen Spiegelfechtereien, da ist im „21er“ – „Verminderte Schuldfähigkeit“ klar geregelt:
„Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.“ Da wird nicht lange (über Freien Willen) gefackelt!

Zu befreien wäre (zitiert frei nach Tröndle/Fischer – Kurzkommentare) demnach von den Folgen seiner Taten nur, wer durch schwere neurale und geistige Störungen, also etwa Psychosen, Demenz, Wahnvorstellungen usw. als unfähig beurteilt wird, die Strafwürdigkeit, das moralisch und rechtlich Verwerfliche und Verbotene seines Handelns zu begreifen; wer solchem Wissen deshalb also keinen Einfluss auf die Ursachen seines Handelns geben kann.
Es sind vor allem drei Vorstellungen, die vielen Menschen helfen, ihrem Leben tieferen Sinn zu geben: der Glaube an die Existenz eines persönlichen, belohnenden und bestrafenden Gottes; der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele; der Glaube an die Willensfreiheit des Menschen in sittlicher Autonomie.

Immanuel Kant, durch David Hume unsanft aus dogmatischem Schlummer erweckt, hat uns diese drei Schlaftabletten als Postulate praktischer Vernunft wiederverordnet. Die ersten beiden Glaubensvorstellungen sind wissenschaftlicher Überprüfung nicht zugänglich, die von  – was Wunder – der meinen abweichende Vorstellung des Martin Luther in seiner Antwort an Erasmus von Rotterdam nota bene auch nicht …

Des Kaisers Kleider

Was die Willensfreiheit betrifft, kann sich Wissen von Glauben emanzipieren, da nicht Glaubenslehren, sondern primäre Selbsterfahrung deren Grundlage ist – und als eine einzigartige Leistung unseres Gehirns auch wissenschaftlicher Befassung zugänglich. Das Problem der Willensfreiheit – einer Aporie, mit der wir wie mit dem Begriff des Unendlichen leben müssen – ist keineswegs gelöst. Wer sich nur ein wenig über das orientiert, was seit mehr als zweitausend Jahren über Willensfreiheit gedacht und geschrieben worden ist, weiß, dass es schwer ist, Neues darüber zu denken oder zu sagen. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, dass dabei des Kaisers neueste Kleider doch des Kaisers ganz alte Kleider sind.

Jürgen Gottschling

Jan 2015 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas | 6 Kommentare