Google will alle Bücher dieser Welt einscannen. Wenn nicht bald etwas passiert, werden wir den gesamten Buchmarkt durch einen Suchschlitz sehen, den der Monopolist bereitstellt. Nicht nur die Politik ist gefordert.

Das von Richter Denny Chin in New York gefällte Urteil in Sachen Authors Guild (eine amerikanische Autorenvertretung) gegen Google hat viele Facetten. Zunächst scheint es so, dass Urheber und Verlage nicht viele Nachteile dadurch haben werden. Googles Versuch, ganze urheberrechtlich geschützte Bücher oder längere Abschnitte daraus gegen den Willen der Autoren einzuscannen und auf seinen Servern zu verbreiten, war schon nach dem früheren Urteil Chins wünschenswert klar für rechtswidrig erklärt worden.

Das jüngste Urteil erlaubt Google nur die Anzeige von Textschnipseln. Bei Gedichtbänden und Lexika ist selbst dies untersagt. Dort benötigte man unter Umständen nur wenige Zeilen, um den Mehrwert der kompletten Produktion abzuschöpfen und von der Herstellung solcher Gebilde abzuschrecken. Das hat Chin offenbar verstanden. Was die naiven Verteidiger der Googleschen Monopolpolitik als Erfolg, gar Durchbruch feiern, scheint bei näherer Betrachtung nicht ganz so schlimm zu sein.

Ein Fall von Fair-use?

Zudem mag beruhigend wirken, dass das Urteil noch keine Rechtskraft hat. Die Authors Guild wird in Berufung gehen; so lange kann Google zumindest nicht legal die Marge von zwanzig Millionen bislang eingescannter Bücher erhöhen. Aber die Uhren werden beim Gang in die nächsthöhere Instanz gleichwohl nicht auf null gestellt. Richter Chin war ja während des Prozesses um das Book Settlement an ein höheres Gericht befördert worden und durfte – weil es unzumutbar schien, einen weiteren Richter sich in die Tonnen von Akten einarbeiten zu lassen – nur ausnahmsweise den Fall in der untergeordneten Instanz abschließen.

Nun kommt pikanterweise die Revision genau an jenes Gericht, in das Chin aufgerückt ist. Zwar wird er mit dem Fall nicht befasst werden; aber um etwas über die Erfolgsaussichten der Revision prophezeien zu können, genügt es zu wissen, dass aus dem Kreis der dortigen Kollegen die Hilfestellung ausgegangen ist, das Verfahren der Authors Guild gegen Google im Sinne des Fair-use-Gedankens zu entscheiden. Ein Spezialist, Pierre N. Leval, der zu diesem Thema publiziert hat, sitzt in der Kammer. Ob anschließend der Federal Supreme Court eingeschaltet werden kann, liegt nicht allein in der Macht des Klägers.

Urheberrechte sind keine Patentrechte

Worin bestünden nun die Probleme für hiesige Autoren und Verlage, würde das Urteil von allen Instanzen bestätigt werden? Dass das vom Bundesgerichtshof bekräftigte deutsche Zitatrecht durch die Schnipsel außer Kraft gesetzt wird, ist das Erste. Ihm zufolge sind unkommentierte Zitate urheberrechtlich geschützter Texte unzulässig. Indem das Gericht so tut, als habe es nicht begriffen, dass die transnationale Medialität des Netzes gravierend in Rechtsbereiche eingreift, die nicht amerikanischen Zuschnitts sind, wendet es nationales Recht auf den ganzen Globus an, und zwar nicht nur in der scheinbar marginalen Frage des Umgangs mit Zitaten.

Die angelsächsische Copyright-Gesetzgebung berücksichtigt ausschließlich verwertungsrechtliche Gesichtspunkte, und einzig mit Blick auf diese ist das Urteil gefällt worden. Persönlichkeitsrechtliche Aspekte, die im deutschen und französischen Urheberrecht eine zentrale Rolle spielen, blieben vollständig unberücksichtigt. Insbesondere das Königsrecht des Autors, „nein“ zu einer ihm nicht genehmen Publikationsform (und auch Textschnipsel sind eine Publikationsform) sagen zu können, wird durch die qua Technik, gleichsam nebenbei, erreichte Unterwerfung europäischen Rechts durch amerikanisches mit Füßen getreten. Man geht mit Büchern und ihren Gehalten so um, als handelte es sich um Erfindungen, und behandelt die Rechte an ihnen, als ginge es um die an Patenten. Es ist allerhöchste Zeit, dass die deutschen und französischen Justizminister international vernehmbar darauf drängen, die absurden Auswirkungen des Territorialitätsprinzips im Urheberrecht einer Revision zu unterziehen. Solange die Distribution nicht global war, war es ein guter Gedanke, dass jenes Gesetz anzuwenden war, das in dem Land galt, in dem man ein Buch kaufte. Für deutsche Bücher, die man in den Vereinigten Staaten kaufte, griff die amerikanische Copyright-Gesetzgebung; für amerikanische, die man hier kaufte, das deutsche Recht.

Google wird zum Monopolisten

Über die nationalen Grenzen hinweg operierende Firmen wie Google profitieren nun aber schon seit längerem ganz entscheidend von der erbärmlichen Energielosigkeit der hiesigen Justizministerien, die in Handelszusammenhängen nicht kraftvoll genug die europäischen Gesichtspunkte und Traditionen in Fragen des Urheberrechts vertreten. Eine dem Stand der Technik entsprechende Novellierung der Berner Konvention und eine sie vorbereitende internationale Konferenz sind überfällig, und man fragt sich, wie viele Kinder noch in den Brunnen fallen müssen, bevor die klare, unzweideutige Intention, darum zu kämpfen, aus Berlin und Paris endlich sichtbar wird. Vorauseilende Untätigkeit ist, auch hier, keine politische Tugend.

Nicht nur die Weigerung, sich die internationalen Folgen vor Augen zu führen, ist es aber, die an Richter Chins Urteil provozierend ist. De facto räumt er einer privaten Firma (deren Größe längst Frevel ist und nach Zerschlagung schreit) ein Monopol auf das Einscannen aller Buchbestände ein. Denn mögen auch auf der Oberfläche nur diese mit dem Kosewort „snippet“ versehenen Textfetzen erscheinen – in der Tiefenstruktur der Datenbanken sind die Bücher gleichwohl ohne Erlaubnis der Urheber und Verleger allesamt abgelegt. Die in deutschen Büchern typographisch eingravierte Impressumsredewendung „Alle Rechte vorbehalten“ wirkt vor diesem Untergrund nur noch putzig.

Autoren geraten in Abhängigkeit

Die Firma kann mit den seinen Servern einverleibten Büchern sehr wohl Geld verdienen („fair use“ für die amerikanische Volkswirtschaft!) – und das ohne jede Gewinnbeteiligung von Autoren oder Verlagen. Und sie wird damit viel Geld machen. Bücher einscannen ist lukrativ, weil man damit bequem an sehr viele Eigennamen herankommt, die im Gegenzug viele Treffer über die Suchmaschinenoberfläche des Quasi-Werbemonopolisten ermöglichen. Das erhöht die Attraktivität für jedermann, seine Recherchen über Google vorzunehmen, und das wiederum erhöht den Profit der Firma und so weiter. Damit aber wird der Googlesche Suchschlitz, den von Amazon ablösend, zum Nadelöhr für den weltweiten Buchmarkt – mit allen Folgen, die das dann hat.

Die politisch brisanteste ist eine nahezu vollständige Abhängigkeit der Verlage und Autoren von der Listung in dieser Suchmaschine. Wer dort nicht oder nicht an der richtigen Stelle (weit oben) gelistet ist, hat einfach Pech oder vielleicht auch nur nicht genug Geld gehabt. Und damit gewinnt Google in den Abgründen seines opaken Rankings als Rechercheinstrument eine Macht über den Buchmarkt, die „nicht wünschenswert“, „problematisch“ oder „fragwürdig“ zu nennen der blanke Euphemismus wäre. Hat man sich dem Gedanken kultureller Vielfalt und freier Produktion verschrieben, ist sie schlicht nicht hinnehmbar.

Selbstzensur droht

Kann dieser Wahnsinn, den zu befördern sich viele immer noch durch ihre tägliche Suchpraxis nicht zu schade sind, nicht gestoppt werden, dann bricht nach der Ära des zielgerichtet-blinden, alles einverleibenden Sammelns endgültig das Zeitalter der globalen Lenkung des Intellekts an, die Hochzeit von algorithmischer und kommerzieller Diktatur in der Abrichtung der Köpfe. Wie sähe nämlich eine monopolistische Suchmaschine aus, die nicht gegen „amerikanische Sicherheitsinteressen“ verstieße? Natürlich würden anstößige Textpassagen erst gar nicht mehr aufscheinen. Zensur und Selbstzensur würden allgemein werden. rr

Wer Beispiele braucht, schaue nur auf Facebook. Enthauptungen können gezeigt werden, nackte Brüste nicht. Kulturelle, schöpferische Produktion wird zu Unterwerfungsgesten gezwungen werden, die ihre Hervorbringungen bereits entwertet haben werden, wenn diese das Licht der Welt erblicken. Das ist dann das Ende nicht nur der europäischen Buchlandschaft, sondern wahrscheinlich von intellektueller Dissidenz überhaupt.

Das zu verhindern, ist nicht nur die Politik aufgefordert. Der erste Schritt beginnt bei einem selbst. Wer in diesen Suchschlitz sein mentales Kapital einwirft, hat sein Einverständnis mit der Entwicklung des Ganzen schon gegeben. Er kooperiert. Verantwortungsvolles Handeln im Zusammenhang kultureller Prozesse sieht anders aus.

Sep. 2014 | Allgemein, Feuilleton, InfoTicker aktuell | Kommentieren