Die Offensive im Gazastreifen treibt Israel-Kritiker in der Bundesrepublik auf die Straßen. Dort entlädt sich wiederholt Judenhass. Besonders harsch ging es bei einem pro-palästinensischen Protestmarsch in Berlin zu. Julius Schoeps, Historiker und Vorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung, erkennt eine neue Qualität des Antisemitismus in Deutschland. Er befürchtet Ausschreitungen.

Julius H. Schoeps kam 1942 in Schweden zur Welt. Seit 1948 lebt der Historiker in Deutschland. Er ist Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch jüdische Studien an der Uni Potsdam und Vorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung. Foto: Gottschling
„Jude, Jude, feiges Schwein: Komm heraus und kämpf‘ allein“. Dieser Auswurf ertönte in der vergangenen Woche auf einer anti-israelischen Demonstration in Berlin. Laut Polizei handelt es sich nicht um Volksverhetzung. Wie sehen Sie das?
Julius H. Schoeps: (lacht) Ich möchte wissen, was das sonst sein soll. „Jude, Jude, feiges Schwein.“ Das ist eine Beleidigung mit einer deutlich antisemitischen Konnotation.
Wie erklären Sie sich, dass die Behörden diese Parole anders bewerten?
Betroffene von Antisemitismus wissen sehr genau, was solche Aussagen bedeuten: Es ist gefährlich geworden in Deutschland. Ich glaube, dass Polizei und Behörden wenige Kenntnisse von dem haben, was Antisemitismus eigentlich ist.
Wo verlaufen die Grenzen zwischen legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus?
Es ist ja in der Tat ein Problem, dass die Grenzen zwischen einer legitimen Kritik an der Politik Israels und antisemitischen Vorurteilen verschwimmen.Aber kommen wir nochmal auf das Beispiel zurück. „Jude, Jude, feiges Schwein.“ Bei Israelkritik müsste es doch heißen: „Israeli, Israeli, feiges Schwein.“ Da sieht man ganz deutlich, dass hier ganz andere Motive eine Rolle spielen.
Ein muslimischer Prediger hat in der vergangenen Woche in einer Moschee in Neukölln über Juden gesagt: „Tötet sie bis zum letzten.“
Das ist ein Aufruf zum Pogrom und zum Mord.
Es gab noch weitere derartige Wortmeldungen seit der jüngsten Offensive Israels im Gazastreifen. Aber ist das wirklich ein neues Phänomen oder brechen da nur Dinge hervor, die seit jeher latent in der Gesellschaft schlummern?
Ich glaube nicht, dass das etwas Neues ist. In bestimmten Situationen bricht der Antisemitismus, der in Latenz vorhanden ist, auf. Der Grund kann eine Buchpublikation sein, es kann ein Film sein oder wie jetzt der Gaza-Krieg.
Wie weit verbreitet ist Antisemitismus in Deutschland?
Es gibt schon seit Jahrzehnten Untersuchungen zu diesem Thema. Ich gehe von diesen Zahlen aus: Bei 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung offener Antisemitismus, bei weiteren 30 Prozent Antisemitismus in Latenz.
Deuten die jüngsten antijüdischen Proteste auf eine neue Qualität des Antisemitismus hin?
Ja, da ist durchaus eine neue Qualität zu erkennen, die sehr gefährlich ist. Wir erleben zurzeit, dass ganz merkwürdige Bündnisse entstehen. Da gehen plötzlich linksdemokratische oder sogenannte linksdemokratische Aktivisten mit muslimischen Gewalttätern und anderen Gruppierungen auf die Straße. Und, so hat es der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland formuliert: Wir haben es jetzt mit einem gewaltbereiten Judenhass zu tun. Es ist nicht abzusehen, in welche Richtung das explodiert.
Am Freitag findet der Al-Quds-Tag statt. Ein Feiertag, den der Iran etabliert hat, und der immer wieder Anlass zu judenfeindlichen Eskapaden war. In Berlin sind bereits mehrere Demonstrationen angekündigt.
Ich hoffe nicht, dass das aus dem Ruder läuft. Grundsätzliche Kritik ist erlaubt. Demonstrationen ebenfalls. Aber: Keine Gewalt, keine Ausfälle gegen jüdische Einrichtungen und jüdische Bürger.
Glauben Sie, dass es friedlich bleibt?
Ich befürchte, dass es zu Ausschreitungen kommt. Ich hoffe sehr, dass die Polizei und die Behörden entsprechende Maßnahmen treffen.
Was kann die Politik grundsätzlich tun?
Der Antisemitismusbericht [3], der bisher erst einmal vorgelegt wurde, sollte regelmäßig erscheinen. Aber es kommt noch etwas hinzu: Es ist nicht immer nur die Aufgabe der Juden, sich zum Thema Antisemitismus zu äußern. Ich erwarte, dass sich auch die Politiker verstärkt zu Wort melden: die zuständigen Innenminister der Länder, der Bundesinnenminister, bis hin zur Kanzlerin.