regen_&_regenbogen

„beim spaziergang heut‘
duftete der weg schon nach herbst
der sommer weint“

Nicht nur Wetterberichte halten dagegen, dass er sich noch mal zeigt.  Alsdann: Hoffen wir! Aber worauf?

… duftete der weg schon nachHerbst! Foto: Philipp Rothe

… duftete der Weg schon nach Herbst!   Foto: Philipp Rothe

 

Altern ist Schicksal, biologische Notwendigkeit und auch ein grundsätzliches strukturelles Merkmal einer aus evolvierenden Strukturen bestehenden Welt. Alles altert – und stirbt: Fixsterne, Mineralien, Zellen, Lebewesen und Systeme von Lebewesen. Warum sollte das Altern des Menschen hiervon eine Ausnahme bilden und eine lästige Krankheit sein, die man eines Tages mit dem Fortschritt der Medizin würde heilen können? – Eine völlig unsinnige Vorstellung. Freilich kann der Mensch als  bewusst lebendes Individuum sich den Untergang seines Ichs, seines Geistes, seines Bewusstseins kaum vorstellen; eher schon den Verfall und Untergang seines Körpers, der Materie, der trägen Masse.

Religionen und der Tod

In der Weisheit der Upanishaden des Hinduismus lernen wir, dass der Mensch schließlich Brahma erlangen wird. Es ist die Lehre der Bhagavad-Gita, dass die Seele unsterblich und dass Erlösung möglich ist durch den Kreis von Wiedergeburt und neuem Tod. Der Jainismus lehrt die Unsterblichkeit der Seele. Der Eintritt ins Pari-Nirvana, wie ihn der Buddhismus verkündet, erlöst den Buddhisten vom Zyklus der Wiedergeburt. Das griechische Denken von Plato an bestätigte die Unsterblichkeit der Seele, und im Zoroastrismus findet sich ein starker Glaube an die Unsterblichkeit der materiellen Welt. Seit der Zeit des Frühjudentums bekennt sich die jüdische apokalyptische Erwartungshaltung eindeutig zur Auferstehung. Das Christentum hat stets die Unsterblichkeit der Seele, die Auferstehung des Leibes und das ewige Leben verkündet. Im Islam gibt es eine Lehre von Paradies und Hölle als ewigem Los der Toten. Und wir? Wir meinen, es gelte, den Materiebegriff im Angesicht der Ideen über Evolution zu revidieren: Materie ist kreativ.

Die träge Masse geht mit dem Tod und der Verwesung in den allgemeinen Materie-Strom über. Was aber – fragen wir (und wagen eine Antwort), geschieht mit der kreativen Materie? Vermutlich wird sie sich neu im Evolutionsfeld ordnen. Dies überschreitet jedoch deutlich die Grenzen unserer Betrachtungen. Und ist Metaphysik.

“Die Welt des Glücklichen” –

so Wittgenstein,”ist eine andere als die des Unglücklichen. Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört”. Und wer nun eben drum, oder weshalb auch immer, dies möchte: Aus welchem Grund auch immer austreten aus diesem Jammertal, nicht mehr weiterleben, dem wird keine Hilfe zuteil. Würdig sterben, davor hat unsere Gesellschaft Apparatemedizin, religiösen Zauber und (darauf basierend) Gesetze gesetzt. Und wer sich nun aber selber „auf den Weg begeben“ mag, ein potentieller “Selbstmörder” wäre? – den wir fortan lieber Freitod nennen wollen!

Kriminalisierung des Freitodes

Jesus nennt sich selber kurz und bündig „der gute Hirte“. Ist es nicht anmaßend, von sich selber zu sagen: „Ich bin der gute Hirte“?  Natürlich, es gibt also auch schlechte Hirten. Wer aber sind sie? Und gibt es nur einen, der es verdient, als guter Hirte bezeichnet zu werden? Wären also alle anderen schlechte Hirten?

Jesus nennt sich selber kurz und bündig „der gute Hirte“. Ist es nicht anmaßend, von sich selber zu sagen: „Ich bin der gute Hirte“? Natürlich, es gibt also auch schlechte Hirten. Wer aber sind sie? Und gibt es nur einen, der es verdient, als guter Hirte bezeichnet zu werden? Wären also alle anderen schlechte Hirten?

Der Beitrag der Kirche zur Kriminalisierung des Freitodes ab dem 5. Jahrhundert ist ebenso eifrig, wie brutal – und verspätet. Mit durchaus nämlich einigem Recht darf die Urkirche verdächtigt werden, durch den Märtyrerkult zum Freitod angestiftet zu haben, der als Eintrittskarte ins Reich der Seligen galt. Hatte nicht der Heilige Petrus – seinem göttlichen Mentor gleich – freiwillig den Tod gesucht? “Niemand entreißt mir das Leben, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es zu lassen und habe Macht, es wieder zu nehmen”, legt der Evangelist Johannes (10,18) Christus in den Mund. Auch, dass der “Tod besser ist, als ein bitteres Leben”, lässt sich in der Bibel (Sirach 30,17) lesen. Im 3. Jahrhundert spinnt Tertullian, einer der Kirchenväter, das Thema weiter aus: “Der Gott Christus ist nur deshalb gestorben, weil er damit einverstanden war. Gott steht nicht unter der Herrschaft des Fleisches”.

“Du sollst nicht töten”

Im 4. Jahrhundert dann aber kommt es Augustinus in den Sinn, nachzuweisen, dass der “Selbstmord eine abscheuliche und verdammenswerte Schlechtigkeit ist” und das biblische Gebot “Du sollst nicht töten” auch für die eigene Person zu gelten habe. Diese plötzliche theologische Entdeckung, die – was Wunder – als ewige Wahrheit präsentiert wird, veranlaßt Jean-Jaques Rousseau – dem wir uns ausdrücklich anschließen – trotzig zu polemisieren: “Die Christen haben die Grundregeln über den freiwilligen Tod weder aus den Prinzipien ihrer Religion noch ihrer einzigen Richtschnur, welche die Heilige Schrift ist, sondern allein aus den Werken heidnischer Philosophen entnommen: Lactantius und Augustinus, welche zuerst die neue Lehre verkündet haben, von der Jesus Christus und die Apostel nicht ein einziges Wort gesagt hatten, stützten sich nur auf die Beweisführung im Phädon; auf daß die Gläubigen, welche hierin der Autorität des Evangeliums zu folgen glauben, nur der des Plato folgen.”

Herrschende Ideologie & Wende

Die verbreitete Lehrmeinung, Freitod sei vom Teufel, fällt in die Periode, in welcher Kirche – im römischen Reich lediglich subversive Sekte – zur Macht aufsteigt und die herrschende Ideologie produziert. Von Stund an widmet sie sich der Beherrschung dieser Welt, statt ihre Schäfchen zu ermuntern, sich der jenseitigen (“… mein Reich ist nicht von dieser Welt”) anzuschließen. Von Konzil zu Konzil wird nun das kanonische Recht der Selbsttötung repressiver, greift noch heute in die längst notwendige Diskussion um Freitod und Sterbehilfe ein. Freitod und Sterbehilfe, von Religionen und nicht zuletzt eben deshalb auch von der Gesellschaft verdammt, lässt diese Privilegien des Humanen als ein Vergehen erscheinen, als unnatürlichen und absurden Akt. Hat nicht aber schließlich auch der “natürliche” Tod sein Unnatürliches und Skandalöses?

Freitod als Todesart noch frei

Noch im Schraubstock der Zwänge ist Freitod als Todesart allemal frei: Kein Karzinom frisst mich auf, kein Infarkt fällt mich, keine Urämiekrise nimmt mir den Atem. Freitod oder die Möglichkeit zum Freitod: Vielen durchaus jetzt und hier noch gerne Lebenden gilt das am Horizont als die allerletzte und vielleicht auch einzig realisierbare dauerhafte Freiheit. Und auch als der letzte Widerstand, dem keineswegs etwas von Resignation anhaften muss. Wie lange noch müssen Menschen Angst haben, mitten im Leben, weil zu befürchten ist, dass kein Arzt bereit ist, sie eines Tages durch aktive Euthanasie zu einem würdigen, vom Kranken ersehnten und durch sorgfältige Sicherungsmaßnahmen geschützten Tod zu geleiten? Ist es wirklich unabdingbar, dass Menschen niemals gelassen, ruhig und furchtlos leben dürfen, weil die Angst vor dem Tod in Würdelosigkeit und unverschuldetem kindischen Gebaren ständiger Begleiter ist?

In Würde sterben

Warum darf ein Mensch nicht sterben, sondern muss sich sterben lassen? – einem Entsetzen preisgegeben, das mit Leben, Würde und Humanität nichts mehr zu tun hat, sondern Schmerz- Ekel- und Apparate-Dasein ist: mit einer Lähmung bis zum Hals, mit der Einkerkerung in eiserne Lungen, mit der Nichtexistenz der an Geist und Körper Zerstörten?
Dass mit der Bitte Schwerstkranker um Sterbehilfe an Ärzte deren Grundsätze angegriffen werden, dass ihr Streben auf Lebensverlängerung eher gegen Lebensqualität gerichtet ist, das ist ein zentraler Punkt der Diskussion um Sterbehilfe und Freitod. Gegen das Dilemma, vor dem die Ärzte heute stehen und in dem sie in Zukunft immer häufiger sich befinden werden, setzen wir als einzige Möglichkeit, dieses – für sie wahrlich dilemmatische – Problem zu lösen, eine Revolutionierung ärztlicher Grundhaltung. Mediziner müssen lernen, sich der Verantwortung zu stellen, die mit der Lebensverlängerung ebenso verbunden ist, wie mit der Frage des – würdigen – Sterbens. Ärzte haben den Mut aufzubringen, sich mit den Konsequenzen ihres Könnens auseinanderzusetzen und sich zu guter Letzt bereitfinden, Hilflosen in ihrem unzweifelhafte Begehren bei der Beendigung unnötigen Leidens zu helfen. Das Leben ist nun mal unheilbar, damit müssen auch Mediziner leben.

Gnade, Trost und die unerhörte Freiheit ambitionslosen Lebens!

Alt werden, würdig alt werden im Hinblick auf den Tod, kann eines der größten Ziele eines recht gelebten menschlichen Lebens sein. Goethe sagt in den “Maximen und Reflexionen”: “Alt werden heißt, selbst ein neues Geschäft antreten, alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen”. Alter kann eine unerhörte Freiheit bringen. Man braucht keine Ambitionen mehr zu haben, muss sich nicht mehr profilieren, das Leben geschieht sozusagen freiwillig.

10256646_662338250468246_6551028246380101517_oGestorben hingegen wird am Rand der Welt. Die schöpferische Welt: Die evolutive Welt des Urknalls, der Spiralnebel, Planetensysteme, Ursuppen und Welten des Geistigen sind ewig.

Tod ist immer individuell, jedem muss, wann immer es gewollt wird, das Zurückfallen in das Ganze erlaubt sein. Aus dem Chaos am Rande der Welt nährt sich ihre Ordnung. Und nährt sich so aus ihren Toten, die wieder in sie eingehen? Aber vielleicht ist ja auch die Welt, um eine Formulierung des geistreichen Physikers Georg Christoph Lichtenberg zu übernehmen, “ein Messer ohne Klinge, bei dem der Griff fehlt”: Und das Spiel des Scheins wäre dann in der Tat das allein Wirkliche.

Jürgen Gottschling

Aug. 2014 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Senioren | 2 Kommentare