Hans-Martin Tillack hat ein Sittenbild der Entscheidungsträger geschrieben und ruft „Die korrupte Republik“ aus. Denn: In der Korruptionsbekämpfung ist Deutschland ganz weit hinten. Heidelberg – nota bene – auch
Fragen an den Autor und eine Leseprobe:
Herr Tillack, was ist Korruption?
Hans-Martin Tillack: Korruption ist der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil. Diese Definition der Weltbank umfasst nicht allein das eingeschränkte Verständnis von Korruption, wenn jemand einem Beamten einen Briefumschlag mit Geld überreicht. Sie reicht weiter.
Das heißt?
Ich beschreibe Beispiele klassischer Korruption wie die Schmiergeldzahlungen bei Siemens oder die Abgeordnetenbestechung. Daneben schildere ich aber auch Einfallstore zur Korruption, wie das Regierungssponsoring oder den sogenannten Drehtüreffekt.
Welcher wirtschaftliche Schaden entsteht jährlich in Deutschland durch Korruption?
Es gibt dazu lediglich Schätzungen. Der Linzer Ökonom Friedrich Schneider nimmt an, dass die Verluste durch Korruption in Deutschland an die 300 Milliarden Euro im Jahr heranreichen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter schätzt den Schaden auf über 200 Milliarden im Jahr.
Wo gehen diese Gelder verloren?
Zum Beispiel bei der Auftragsvergabe durch öffentliche Behörden. Diese erfolgt in Deutschland häufig intransparent. Wenn eher Freunde bedacht werden, statt Auftragnehmer öffentlich transparent über Ausschreibungen zu ermitteln, ist das Risiko hoch, dass zu viel gezahlt wird. Die Rechnung begleicht der Steuerzahler.
Das Informationsfreiheitsgesetz sollte solcher Kungelei doch aber vorbeugen.
Das Gesetz ist sehr mangelhaft. Die Ausnahmebestimmungen sind problematisch, insbesondere die sehr restriktive Regelung über Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, die Behörden dann noch restriktiver auslegen, als es nötig wäre.
Was bedeutet das in der derzeitigen Situation?
Im Zusammenhang mit dem Konjunkturpaket wurden die Vergaberichtlinien für öffentliche Aufträge von der Bundesregierung sogar noch einmal gelockert. Aktuelle Studien belegen, dass bei Unternehmen, die ums Überleben kämpfen, die Versuchung steigt, zu illegalen Mitteln zu greifen. Beides zusammen vergrößert das Korruptionsrisiko.
Aber Unternehmen werden immer häufiger ertappt.
Ja, das Entdeckungsrisiko ist gestiegen, da einige Staatsanwaltschaften nun ernsthafter ermitteln. Allerdings kommt der Ermittlungsdruck, wie etwa im Fall Siemens, meist aus dem Ausland.
Weshalb hat Deutschland noch nicht das Übereinkommen der UN gegen Korruption ratifiziert?
Die Bundestagsabgeordneten müssten dafür den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung deutlich ausweiten. Viele Abgeordnete aus CDU und SPD verweigern aber ihre Zustimmung, weil sie Angst vor dem Staatsanwalt haben.
Fehlt den deutschen Führungskräften und Amtsleitern Anstand und Moral?
Es mangelt vor allem an Rechtsbewusstsein. Wenn Unternehmer – oder etwa Bauherren – argumentieren, es sei legitim, mit Schmiergeldzahlungen Aufträge zu ergattern, weil sie damit angeblich Arbeitsplätze sichern, ist das offensichtlicher Unsinn. Auslandsbestechung ist bei uns inzwischen genauso strafbar wie Diebstahl.
Erschwert der gegenwärtige Strukturwandel der Medien den investigativen Journalismus, der für solche Enthüllungen notwendig ist?
Absolut. Die Tatsache, dass die traditionellen Medien Einnahmen sukzessive verlieren, führt zur Erosion der investigativen Recherche, da sie teuer ist. Nachlassender Mediendruck könnte die Korruption durchaus steigen lassen.
Hans-Martin Tillack ist Autor und Journalist. „Die korrupte Republik. Über die einträgliche Kungelei von Politik, Bürokratie und Wirtschaft“. Hoffmann und Campe, Hamburg, 250 Seiten, 19,95 Euro
Leseprobe zu Hans-Martin Tillack: Die korrupte Republik. Teil 1
Kapitel 2 Bundestag GmbH & Co.
Lachshäppchen, Revuetheater, Karibikreisen – wie man Abgeordnete gewogen stimmt. Warum der Bundestag die UN-Konvention gegen Korruption lieber nicht umsetzt.
In den Gläsern glitzert der Cremant. Die Tische sind weiß gedeckt und die meisten Lachshäppchen schon weg. Gleich werden die Austern aus Cancale aufgefahren, die Jakobsmuscheln, das irische Lamm, die Nougatschlupfer und dazwischen die anderen sechs Gänge des fliegenden Buffets.
Ein ganz normaler Donnerstagabend in Diekmanns Austernbar im Berliner Hauptbahnhof. Schwere rote Vorhänge schützen vor neugierigen Blicken. Einmal im Monat bewirtet der Stromkonzern Vattenfall hier Bundestagsabgeordnete. Und er ist dabei ebenso großzügig wie diskret.
An diesem Abend im März 2008 ist der CDU-Rechtspolitiker Jürgen Gehb unter den Gästen. Er will erleben, wie die Journalistin Tissy Bruns aus ihrem Buch über den Kulturverfall der Berliner Politik liest. Anders als in Bonn müsse in Berlin immer alles „größer, schöner, weiter, mehr“ sein, klagt sie.
Größer, schöner, mehr – wer würde das besser kennen als die Leute von Vattenfall. Seit fünf Jahren sind die Schweden dank der Übernahme von Stromerzeugern wie HEW und Bewag einer der vier großen Energiekonzerne in Deutschland. Seitdem fahren sie immer wieder Rekordprofite ein. Seitdem treten ihre Berliner Statthalter gern standesgemäß auf.
Wenn Vattenfall Abgeordnete in die Austernbar bittet, geht es freilich nie ums schnöde Geschäft, jedenfalls nicht offiziell. Kein Wort von Kohlendioxid, Klima, Kernkraft. Hier wird über Kunst geredet. Jeden Monat stellt der Energiekonzern seinen Gästen die Vernissage eines anderen Malers vor.
„Wir wollen in entspanntem Rahmen mit Ihnen das erste Jahr unsperer ›Augenweiden‹ feiern und Ihnen einen kleinen Ausblick auf das Programm in 2008 geben“, lockt der Konzern im November 2007 die Abgeordneten. „Wir freuen uns, Ihnen im Zuge der Veranstaltungsreihe Augenweiden Positionen zeitgenössischer Kunst ausgewählte Werke von Isabel Pauer präsentieren zu dürfen“ – so steht es in der Einladung für den Abend des 9. Oktober 2008.
Es geht also um das Edle, Gute und Schöne. Ganz so, als hinge es nicht von den geladenen Gästen ab, wie scharf Vattenfalls Strompreise kontrolliert werden, wie billig der Konzern seine Treibhausgase in den Himmel blasen darf und ob die Atomkraftwerke doch ein bisschen länger laufen dürfen.
Die Vernissagen in der Austernbar seien „keine Lobbying-Veranstaltungen, sondern eine Corporate-Art-Aktivität“, also Kunstförderung, erläutert man bei Vattenfall. Nur „ein verschwindend geringer Anteil der Gäste“ seien Politiker.
„Vattenfall schickt besonders häufig Einladungen, immer mit viel Essen und Getränken“, sagt dagegen der Grünen-Abgeordnete Hans- Josef Fell. Was die großen Stromkonzerne machen, das sei „Dauerlobbying, nicht nur dann, wenn es wirklich einen Anlass gibt“.
Aber wie gesagt, wenn Vattenfall einlädt, geht es nicht darum, Politiker gewogen zu stimmen, sondern um „Kultursponsoring“. Was den Stromproduzenten treibt, ist die Verantwortung für die Gesellschaft – auch dann, wenn er für Abgeordnete, Beamte und Bundesminister einen kostenlosen Besuch der Berliner Staatsoper Unter den Linden arrangiert. Von 2005 und bis 2007 bat der Konzern alljährlich zu einer exklusiven Vorpremiere von „Carmen“ oder „Manon“. Auch die SPDMinisterinnen Brigitte Zypries und Ulla Schmidt sind den Einladungen schon gefolgt.
Die Gäste seien „aus allen Bereichen des Berliner Kultur-, Politikund Gesellschaftslebens“ gekommen, sagt dagegen Vattenfall. Aus der Sicht des Unternehmens war das eine „Image-Aktivität, die dem klassischen Vertriebsmarketing zuzurechnen ist“.
Die Einladungskultur floriert
Außerhalb des Berliner Regierungsviertels ist kaum jemandem bekannt, wie hier die Einladungskultur floriert. Der Öffentlichkeit präsentieren Bundestagsabgeordnete eine andere Version. Eines dürfe man ihnen nämlich keineswegs nachsagen: dass sie irgendwie bestechlich seien. Darauf legt jedenfalls der SPD-Abgeordnete Jörn Thießen Wert, als er ein paar Wochen nach der Vattenfall-Lesung von einem Podium im Tagungssaal 2M001 des Reichstages über Lobbying spricht. „Korruption „, sagt Thießen, „gibt es unter deutschen Parlamentariern nicht.“
Wer hinter die Berliner Fassaden blicken kann, sieht das oft etwas differenzierter. Gewiss, die überwiegende Mehrzahl der Parlamentarier ist nicht korrupt. Aber „es gibt faule Abgeordnete“, sagt der Lobbyist Nikolaus Huss: „Und wenn ich einen faulen Abgeordneten habe, kriege ich den durch ein Abendessen auf meine Seite.“ Huss müsste es wissen, denn als er das sagt, ist der frühere Grünen-Funktionär gerade Managing Director bei dem deutschen Ableger des amerikanischen Public-Relations-Riesen Burson Marsteller.
Neben Treffen im Abgeordnetenbüro oder in der Verbandsvertretung sei „das Gespräch am gedeckten Tisch“ für Lobbyisten „entscheidend“, um auf Parlamentarier einzuwirken – so bestätigt es der ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Christian Simmert. Denn „nur der unbedeutendste Teil der Lobbyarbeit“ finde „im öffentlichen Raum“ statt.
Anders als der Abgeordnete Thießen glaubt, sind die Versuchungen für die Parlamentarier in der Tat immens. Und einige mögen ihnen erliegen. Warum auch nicht? Es ist ja kaum etwas strafbar. Und vor allem herrscht in Berlin heillose Verwirrung, welche Rolle Politik und Parlament zu spielen haben.
Sind Volksvertreter nur Kreuzungspunkte im Parallelogramm der diversen organisierten Interessen? Ist das Parlament lediglich der Ort, an dem der Abgeordnete mit Gewerkschaftsticket auf den Industrielobbyisten trifft und der Politiker, der sich einem AKW-Betreiber verpflichtet fühlt, auf den Kollegen, der Solarstrominteressen vertritt? Oder haben Parlament wie Regierung nicht eine Rolle, die über das reine Abgleichen, Aufaddieren und Austarieren der zahlungskräftigsten — Privatinteressen hinausgeht? Sind nicht Bundestagsabgeordnete laut Artikel 38 Grundgesetz „Vertreter des ganzen Volkes“? Sind sie nicht Repräsentanten des Gemeinwohls und in erster Linie der Öffentlichkeit als Ganzes verantwortlich? Einer Öffentlichkeit, die sich vor der stetig wachsenden Kommerzialisierung der Berliner Politik hüten sollte?
Wie gesagt, die Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten ist sicherlich nicht faul, sondern fleißig. Und richtig, wenn Firmen oder Verbände Abgeordnete einladen, geht es nicht nur um das Vergnügen, sondern oft auch um wichtige Sachfragen.
Mit Opel ins Revuetheater
Ein paar Auszüge aus der Einladungsmappe eines Abgeordneten: Da bittet die industriegeförderte Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik zum Mittagessen ins Restaurant Tucher am Brandenburger Tor. Zum Thema „Rüstungsexport“ spricht Unterabteilungsleiter Karl Wendling aus dem Wirtschaftsministerium. Frühaufsteher werden ab 7.45 Uhr vom US-Rüstungsriesen Lockheed Martin im Luxushotel Adlon zur „Breakfast Lecture“ erwartet – es geht um den F-35 Joint Strike Fighter und das Raketenabwehrsystem MEADS. Mittagessen für Abgeordnete lässt Daimler-Repräsentant Dieter Spöri im Haus Huth am Potsdamer Platz servieren – mit keinem Geringeren als Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee als Tischredner. Thema: „Mobilität und Nachhaltigkeit“.
Das sind Sachthemen, keine Frage. Trotzdem scheinen nicht wenige Firmen mit sogenannten Parlamentarischen Abenden eher auf den unterhaltungsorientierten Abgeordneten zu zielen. Das gilt nicht nur für die kulturbeflissenen Leute von Vattenfall. Auch der „Gesamtverband Textil + Mode“ lädt Berliner Abgeordnete zur Kunstausstellung, einschließlich einer informellen Begegnung mit dem Maler.
Auf Kosten des Autobauers Opel können Parlamentarier am 8. November 2007 im Berliner Revuetheater Friedrichstadtpalast dagegen jungen Frauen zuschauen, wie sie ihre nackten Beine schwingen. Auf der Einladung des Autobauers ist das Programm des „Parlamentarischen Abends“ im Detail aufgeführt: „19 Uhr Sektempfang im Foyer.“ Dann: „20 Uhr: Besuch der Revue ›Rhythmus Berlin‹. Im Anschluss: Ausklang im Revue Cafe Josephine.“
Es sei dabei um „Networking“ gegangen, heißt es in der Berliner Opel-Repräsentanz – sowie um Kultursponsoring, also die Unterstützung des Friedrichstadtpalastes und seiner Revuetänzerinnen.
„Manche Kollegen organisieren ihr ganzes Leben um solche Einladungen, vom Frühstück bis zum Abendessen“, sagt eine erfahrene Parlamentarierin. „Die haben einen leeren Kühlschrank.“
Aber warum zeigen die einladenden Firmen so viel Großzügigkeit gegenüber Abgeordneten, die sicherlich mühelos ihr Frühstück selbst bezahlen könnten? Eigentlich seien Abendempfänge „beinahe die uneffizienteste Art, Informationen an Entscheidungsträger zu übermitteln „, sagt der Burson-Marsteller-Manager Jeremy Galbraith. Aber um die Informationsübermittlung geht es ja bei derartigen Veranstaltungen offenkundig weniger – sondern doch wohl vielmehr darum, mächtige Leute in gute Stimmung zu versetzen.
Strenge Regeln in den USA
In Deutschland gilt es als üblich, die Nase über die schmutzige amerikanische Politik zu rümpfen. Tatsächlich sind es nicht wir, die Grund zum Dünkel hätten, sondern die Politiker in Washington. Dort wurden Gesetze und Ethikregeln in den vergangenen Jahren sukzessiv verschärft. Sowohl der heutige Präsident Barack Obama wie sein republikanischer Gegenkandidat John McCain waren führend an diesen Reformen beteiligt.
US-Kongressabgeordnete dürfen inzwischen von Lobbyisten keine Gaben mehr annehmen, die über den Wert eines Schokoriegels hinausgehen. 2007 erklärte die Republikanische Partei ihren Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus per Rundschreiben die neuen Regeln für die Annahme von „Geschenken, Essen und Reisen“. Für deutsche Abgeordnete müssen sie schockierend klingen: Geschenke unter 50 Dollar seien unproblematisch, aber nur, wenn sie nicht von einem Lobbyisten kämen oder einer Firma, die Lobbyisten beschäftigt. Dazu würde in den USA wohl auch Vattenfall zählen. Gleiches, so das Merkblatt weiter, gelte für Einladungen zum Essen. Unter 50 Dollar sei alles okay, außer wenn Lobbyisten beteiligt sind. Kostenlose Snacks und Getränke für das eigene Büro? Das geht in Ordnung, solange der Wert unter zehn Dollar bleibe. Blumen oder Baseball-Caps können US-Senatoren — ebenfalls annehmen, dann aber allenfalls noch die Einladung zu einem Stehempfang mit Snacks oder ein – kontinentales! – Frühstück. Doch gesetzte Essen müssen US-Parlamentarier selbst bezahlen.
Firmen, die Lobbyisten beschäftigen, dürfen US-Abgeordnete nicht zu Reisen einladen und ihnen keine Karten für „Disney on Ice“ überreichen. Immerhin, amerikanischen Parlamentariern ist es erlaubt, Geschenke von Freunden anzunehmen. Doch selbst hier gibt es Grenzen: Wenn der Wert 250 Dollar übersteigt, muss der Beschenkte das Ethikkomitee fragen.
Die Sitten in Washington mögen uns zu streng erscheinen. Gewiss, manche US-Firmen können beim Lobbying mit ganz anderen Beträgen jonglieren als viele hiesige Unternehmen. Vielleicht bedarf ihre Lobbyarbeit allein deshalb stärkerer Regulierung. Doch der Unterschied ist nur ein gradueller. Und warum findet in Berlin noch nicht einmal eine ernsthafte Debatte darüber statt, ob unsere laxen Regeln noch angemessen sind?
Christian Humborg, der Geschäftsführer des deutschen Zweigs von Transparency International, ist einer der wenigen, die die Berliner Einladungspraxis kritisieren. Er findet, Lobbyisten müssten „verpflichtet werden, keine Geschenke, Bewirtungen oder Ausgaben zu tätigen, wenn diese den Ausgang von gesetzgeberischen oder Verwaltungsentscheidungen beeinflussen können, wenn sie nicht angemessen sind und wenn sie nicht im guten Glauben erfolgen“.
Aus Humborgs Sicht ist es „eine problematische Kombination“, wenn Einladungen wie die in die Austernbar „sowohl inhaltsleer wie sehr reichhaltig“ sind. Im Dezember 2008 publizierte sogar der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) zusammen mit der Internationalen Handelskammer ICC einen Firmenkodex, in dem es heißt: „Auch Reisen, Freikarten für Sport- und Kulturveranstaltungen, Essenseinladungen, Dienstleistungen, Werbeprämien und Rabatte sind als Geschenke anzusehen.“ Und gerade „Freikarten für Sportund Kulturveranstaltungen“ hätten sich „zu einem sensiblen Thema entwickelt“, bei dem für Unternehmen Vorsicht geboten sei. Achtung, Korruptionsgefahr!
Bundestagsabgeordnete können ja in der Tat direkten Einfluss auf den Geschäftserfolg eines Unternehmens wie Vattenfall nehmen. Wie das funktioniert, lässt sich am 23. Juni 2008 in der – nichtöffentlichen – Sitzung des Beirates der Bundesnetzagentur in Berlin verfolgen. Die Bundesbehörde hat die Aufgabe, darüber zu wachen, dass die großen Energieversorger ihre Verteilernetze hinreichend für den Wettbewerb öffnen. In der Sitzung im Juni 2008 geht es um den Wunsch der Netzagentur, die erlaubte Rendite der Stromversorger beim Neubau von Leitungen zu kappen – im Interesse der Stromkunden. Die Energiepolitiker Rolf Hempelmann (SPD) und Joachim Pfeiffer (CDU) halten als Beiratsmitglieder dagegen. Man müsse auch „die Rahmenbedingungen für die notwendigen Investitionen“ schaffen, mahnt Hempelmann laut Protokoll. Sein Kollege Pfeiffer stimmt ihm zu. Der „Ausbau der Stromnetze“ sei wichtig, „damit nicht im wahrsten Sinne des Wortes ›das Licht ausgehe‹“.
Unter dem Druck setzt die Agentur die Renditeansprüche der Konzerne wieder herauf. „Die Netzbetreiber haben eine sehr erfolgreiche Lobbyarbeit betrieben“, klagt Agenturchef Matthias Kurth hinterher auf einer Pressekonferenz. Das bringe ihnen nun bis zu 300 Millionen Euro. „Die Preise werden weiter steigen“, fürchtet der Bund der Energieverbraucher.
Sowohl Pfeiffer als auch Hempelmann bestreiten, je auf Einladung von Vattenfall in der Austernbar gewesen zu sein. Im Beirat der Netzagentur sei es ihm vor allem um die „Investitionstätigkeit von Stadtwerken “ gegangen, sagt Hempelmann.
Wer über die strikten Verbote in Washington lächelt, sollte sich auch durchlesen, was das Innenministerium in Berlin den Bundesbeamten beim Umgang mit Einladungen rät. Es verbreitete im November 2004 Musterbriefe, mit denen die Ministerialbediensteten auf allzu aufdringliche Einladungen reagieren sollten.
Ein Auszug: „Da der Charakter Ihrer Veranstaltung wesentlich durch das Beiprogramm geprägt ist, bitte ich um Verständnis, dass es mir nicht möglich ist, Ihre Einladung anzunehmen. Der Öffentliche Dienst ist zur Neutralität verpflichtet. Deshalb bin ich grundsätzlich gehalten, von vornherein jeden Anschein der Beeinflussung zu vermeiden, der durch die Teilnahme an einer über eine reine Informationsveranstaltung hinausgehenden Präsentation entstehen könnte.“
Der Kernsatz eines anderen Musterbriefes lautet: „Da der Charakter Ihrer Veranstaltung wesentlich durch das festliche Programm geprägt ist, kann ich Ihre Einladung nicht annehmen.“
Kapitel 8 Betrugsmetropole Brüssel
Wie deutsche Politiker die Korruption in Brüssel befördern, statt sie zu bekämpfen. Wie der deutsche Chef der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Missstände ignoriert und herunterspielt. Wie er dafür von den Brüsseler Mächtigen, von Kanzlerin Merkel und Italiens Silvio Berlusconi Unterstützung erhält.
Sie sind die beiden mächtigsten Deutschen im Europäischen Parlament, doch als Charaktere könnten Hans-Gert Pöttering und Martin Schulz nicht gegensätzlicher sein. Der Osnabrücker Christdemokrat Pöttering tritt als Parlamentspräsident stets mit ausgesuchter Höflichkeit auf. Schulz, Rheinländer und Chef der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, mag es dagegen öfter mal ruppig. Im März 2008 sind sich beide trotzdem vollkommen einig: Ein Skandalfeuer muss ausgetreten werden, und zwar schnell.
Gerade hat der britische Daily Telegraph Details aus einem brisanten Prüfbericht enthüllt. Es geht um den Missbrauch von Geldern, die das Parlament den Europaabgeordneten jeden Monat zur Bezahlung ihrer Mitarbeiter überweist. Eine ganze Reihe von Volksvertretern steht nun im Verdacht, sich aus dem 136-Millionen-Topf selbst bedient oder Gelder an Freunde und Familie geschleust zu haben. Einige Parlamentarier müssten wegen der Verstöße sogar die „Inhaftierung“ fürchten, sagt der britische Liberale Chris Davies. Im Europaparlament geht die Angst um.
Für die Parlamentsoberen wäre dies eine gute Gelegenheit, aufzuklären und Besserung zu geloben. Doch von Zerknirschung ist wenig zu spüren, als sich die sogenannte Konferenz der Präsidenten des hohen Hauses am 6. März 2008 hinter den verschlossenen Türen des Saals 06B01 im Brüsseler Parlamentsbau trifft, unter Pötterings Vorsitz.
„Warum“, fragt Schulz in der Runde, sei „der Bericht des Internen Prüfers an den Haushaltskontrollausschuss überwiesen“ worden? Nur das habe es dem Ausschussmitglied Davies erlaubt, Journalisten zu informieren. Das Parlament, wettert der SPD-Mann weiter, hätte „der einseitigen Darstellung des Berichts“ durch den britischen Abgeordnetenkollegen „energischer“ entgegentreten müssen.
Als sich danach Christdemokrat Pöttering, als Parlamentspräsident oberster Repräsentant aller 785 EU-Abgeordneten, an die Öffentlichkeit wendet, äußert er sich vage. Es gebe eben „höchst unterschiedliche Kulturen“ in der europäischen Volksvertretung, erläutert er. Einige Kollegen fänden es einfacheiner über eine reine Informationsveranstaltung hinausgehenden Präsentation entstehen könnte.“ Der Kernsatz eines anderen Musterbriefes lautet: „Da der Charakter Ihrer Veranstaltung normal, ihre Ehefrauen als Assistentinnen zu beschäftigen.
Bei den Missetätern handle es sich nur um ein paar „schwarze Schafe “ unter den Abgeordnetenkollegen, assistiert Pötterings Parteifreund Hartmut Nassauer, ein Europaabgeordneter aus Hessen. Diese Sünder müsse man jetzt „gnadenlos“ verfolgen.
Wirklich nur ein paar schwarze Schafe? Das weiß man beim Europäischen Rechnungshof in Luxemburg besser. Seit Jahren drängen die Prüfer das Parlament, die Abgeordnetenausgaben strenger zu kontrollieren. Einen ersten Erfolg, so scheint es jedenfalls, erringen sie 2004. Von nun an soll die Parlamentsverwaltung die Abgeordneten zwingen, Unterlagen vorzulegen, die beweisen, dass sie alle Gelder korrekt verwendet haben.
Eine sorgfältige Kontrolle scheint geboten. Immerhin geht es um beträchtliche Summen. Schon im Jahr 2004 verfügt jeder Parlamentarier über monatlich 12 576 Euro, um Mitarbeiter zu bezahlen. Bis 2007 hebt das Parlament diese Summe sukzessive auf 16 914 Euro an. Das ist eine Steigerung um 34 Prozent, weit über der Inflationsrate.
Die Zahlungen an die Abgeordneten klettern überdurchschnittlich, doch wo bleiben die seit 2004 geforderten Belege? Eigentlich sollten die Parlamentsmitglieder die Unterlagen für die Ausgaben des Jahres 2005 bis zum 1. November desselben Jahres einreichen. Doch nur ein Bruchteil kommt in der Parlamentsverwaltung an.
Mahnt die Administration die säumigen Abgeordneten nun ab? Zieht sie Gelder wieder ein? Nein, die Parlamentsverwaltung tut etwas anderes. Sie verlängert die Frist zur Einreichung der Unterlagen – zuerst auf März 2006 und als das nichts hilft, um neun weitere Monate.
Der Rechnungshof schlägt Alarm
Am 14. Februar 2006 schlägt der Rechnungshof Alarm. Dessen dänisches Mitglied Morten Levysohn schickt einen Brandbrief an den Generalsekretär des Parlaments. Ein Großteil der Abgeordneten habe es im Jahr 2005 versäumt, die Regeln einzuhalten, klagt Levysohn in dem vertraulichen Brief. „Weniger als 20 Prozent“ hätten bis November 2005 die geforderten Papiere vorgelegt, rechnet der Däne vor. Im Jahr 2005 habe man folglich die Vorschrift schlicht „nicht umgesetzt“.
Levysohn versucht es mit einem Appell an die Gesetzestreue der Volksvertreter. Schon nach der EU-Haushaltsordnung, schreibt er, sei es „nicht ausreichend“, wenn sie nur „Kopien der Arbeitsverträge“ vorlegten und keine weiteren Zahlungsnachweise.
Der Hinweis sollte die Europaparlamentarier nachdenklich stimmen. Die neue, schärfere Haushaltsordnung hatte der Ministerrat der EU vier Jahre zuvor eingeführt, auch auf Wunsch des Parlaments. Es war eine Reaktion auf eine Serie von Betrugs- und Korruptionsskandalen in der EU-Kommission. Die Kontrolle des über 100 Milliarden Euro schweren EU-Haushalts gehört seit je zu den Kernaufgaben des Europäischen Parlaments. Sollten die Parlamentarier darum nicht alles tun, um selbst untadelig dazustehen?
Nicht nach Ansicht der Parlamentsführung. Kaum wird im Juni 2006 der Brief des Rechnungshofes publik, bringt SPD-Mann Martin Schulz das Thema in der Konferenz der Präsidenten auf die Tagesordnung. Eilfertig verspricht der Generalsekretär der Volksvertretung, man werde versuchen, die „Quelle“ solch „irreführender Informationen “ zu „identifizieren“.
Aber die Story war nicht irreführend. Und die Parlamentsführung tut weiterhin wenig, um auf die Ablieferung der fehlenden Papiere zu bestehen. Nach den eigenen Berechnungen der Parlamentsverwaltung fehlen noch Ende Dezember 2007 für über 76 Millionen Euro an angeblichen Mitarbeitergehältern die geforderten Unterlagen – und damit der Nachweis, dass die Gelder tatsächlich für diesen Zweck ausgegeben wurden. Belege im Wert von weiteren 40 Millionen haben die Abgeordneten zwar eingereicht, doch die Verwaltung hat sie nicht vollständig als valide anerkannt. Trotzdem lassen die Beamten im Jahr 2007 lediglich 750 000 Euro wieder einziehen, und auch das nur auf „freiwilliger Basis“, wie es im Januar 2008 in einem internen Schreiben heißt.
Schon im November 2007 rügt der EU-Rechnungshof in seinem öffentlichen Jahresbericht das von Pöttering geführte Parlamentspräsidium scharf. Das Gremium habe „nicht sichergestellt“, dass die Abgeordneten die Regeln befolgten. Nicht etwa ein kleiner Prozentsatz, sondern „der größte Teil des Betrages für die Sekretariatszulagen der EP-Mitglieder“ war laut Rechnungshof „nicht mit angemessenen Unterlagen “ belegt. Es sei also nicht bewiesen, dass die Abgeordneten wirklich – wie behauptet – Assistenten beschäftigt und die angeblich bezahlten Dienstleistungen erhalten hätten. Der Rechnungshof verlangt drastische Konsequenzen. Den säumigen Volksvertretern könne man Gelder sperren und gezahlte Beträge zurückfordern.
Eine Mehrheit für den Missbrauch?
Ein Großteil der EU-Abgeordneten steht nun unter dem Verdacht, Steuergelder missbraucht zu haben. Man stelle sich vor, der Bundesrechnungshof hätte der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten unterstellt, sie hätten womöglich ihre Assistentengehälter unterschlagen. In Berlin würde die Erde beben. In Brüssel hingegen bleibt alles ruhig.
Die Brüsseler Korrespondenten der großen Tageszeitungen greifen die scharfe Kritik des Rechnungshofes nicht auf. Im Parlament scheinen Pöttering und seine Kollegen die Ermahnung zu ignorieren. Schlimmer noch: Statt die Kontrollen zu verschärfen, tun der deutsche Parlamentspräsident und seine Entourage das Gegenteil. Sie lassen die Zügel lockern.
Schon im September 2006 hatten die Parlamentsoberen eine erste zweifelhafte Konsequenz aus dem Mangel an Zahlungsnachweisen gezogen. Die lästige Belegpflicht wurde aufgehoben. Fortan müssen die Abgeordneten die ordnungsgemäße Verwendung der Mitarbeiterpauschale nicht mehr vollständig dokumentieren. Listen solcher Belege sollen in den allermeisten Fällen reichen.
Zunächst gilt das nur für die Zeit ab 2006. Im Dezember 2007 – nach wie vor fehlt ein Großteil der geforderten Unterlagen für 2004 und 2005 – geht das Parlamentspräsidium noch einen Schritt weiter. Nun dekretiert es, dass die laxeren Regeln auch rückwirkend für 2004 und 2005 gelten sollen. Statt die Abgeordneten an ihre Pflichten zu erinnern, entscheiden die Parlamentsoberen, sie zu streichen. Den Vorsitz führt Parlamentspräsident Pöttering.
Warum hat er so entschieden? Als er im März 2008 gefragt wird, gibt seine Sprecherin keine konkrete Antwort. Sie sagt nur so viel: „Entscheidungen dieser Organe sind Entscheidungen von Kollektivorganen, die das gesamte Haus repräsentieren.“ Ein anderer Angehöriger des Kollektivorgans, der deutsche Präsidiale Ingo Friedrich (CSU), verweist als Antwort auf die Frage nach der Kritik des Rechnungshofs darauf, dass er dessen Bericht „nicht gelesen“ habe.
Das hindert ihn nicht daran, am 10. Dezember 2007 im Präsidium an einer Debatte über genau diesen Rechnungshofbericht teilzunehmen und für die Lockerung der Kontrollen zu stimmen. Andere hätten ihn „kursorisch“ über die Kritik des Rechnungshofs informiert, sagt Friedrich. Das musste genügen. Genauso wie er votiert offenkundig die SPD-Parlamentarierin Mechtild Rothe. Sie argumentiert, Abgeordnete müssten ja weiterhin „Unterlagen und Rechnungsbücher für Zahlungsbelege“ archivieren, womit „Transparenz“ gewährleistet sei. Aber wenn die Abgeordneten diese Belege ohnehin selbst archivieren – warum können sie sie bisher so häufig nicht vorweisen?
Der einzige Abgeordnete, der im Dezember 2007 im Parlamentspräsidium ausdrücklich dafür plädiert, zu den schärferen Kontrollstandards zurückzukehren, ist der französische Grüne Gerard Onesta. „Ich musste zweimal darauf bestehen, dass das ins Protokoll aufgenommen wurde“, sagt Onesta. Erst habe die Verwaltung seine Bitte ignoriert.
Ein brisanter Prüfbericht
Doch während die Parlamentsbosse die Kontrollen lockern, ist der Innenrevisor des Parlaments dabei, einen beunruhigenden Prüfreport fertigzustellen. Er hatte 188 größtenteils zufällig ausgewählte Zahlungen aus der Sekretariatszulage überprüft, aus den Jahren 2004 und 2005. Es ist nur eine kleine Stichprobe, aber die Zahl der Unregelmäßigkeiten ist erschreckend hoch. Im Januar 2008 liegt der 92 Seiten lange Prüfbericht vor. Das Dokument ist derart brisant, dass es nur ausgewählten Abgeordneten in einem speziell geschützten Datenraum zugänglich gemacht wird – Mitnehmen ausgeschlossen. Im März 2008 — gelangt trotzdem eine komplette Kopie an Journalisten. Das Studium des Dokuments zeigt: Hohe Zahlungen ohne ausreichende Belege und weitgehend unkontrollierte Geldströme scheinen im EU-Parlament nicht die Ausnahme, sondern fast schon die Regel zu sein.
Da bezahlte ein Abgeordneter aus dem EU-Topf zwei Manager seiner eigenen Investmentfirma. Eine Parlamentarierin leitete das Geld an eine Holzhandelsfirma weiter. Ein dritter hatte überhaupt keinen angemeldeten Assistenten und ließ stattdessen die volle Mitarbeiterpauschale an eine Kinderbetreuungsfirma überweisen, die von einem Parteifreund des Abgeordneten geführt wurde.
Zuvor hatte ein Parlamentssprecher behauptet, der Geheimbericht nenne „keine individuellen Betrugsfälle“. Der Bericht selbst liest sich etwas anders. So ließen zwei Abgeordnete jeden Monat über 12 000 Euro an eine Dienstleistungsfirma überweisen – angeblich für Assistentendienste. Die beiden hatten aber gar keine akkreditierten Assistenten. Drei der geprüften Parlamentarier zahlten EU-Gelder für angebliche Dienstleistungsaufträge an Dritte. Aber das Geld landete auf dem Konto der Abgeordneten. Einer beschäftigte anscheinend nicht nur seine Frau, was in Brüssel damals noch unbeschränkt zulässig war, sondern erließ ihr offenbar auch die dazugehörige Arbeit.
Überdies entdeckt der Prüfer häufige Fälle eines Phänomens, das in deutschen Verwaltungen als Dezemberfieber bekannt ist – das eilige Ausschöpfen eines Budgets, bevor es zum Jahreswechsel verfällt. Zahlreiche EU-Abgeordnete, so vermerkt der Innenrevisor, beglückten ihre Mitarbeiter zum Jahresende mit hohen Einmalgratifikationen. Die entsprachen oft dem Maximalbetrag dessen, was die Volksvertreter bis zum Jahreswechsel noch aus ihrem Budget für Assistenten ausschöpfen konnten. Eine Dienstleistungsfirma kassierte Ende 2004 stolze 44 223 Euro, ohne dass sie eine angemessene Leistung erbracht hätte. Ein Mitarbeiter erhielt eine Sonderzahlung, die 19,5-mal so hoch war wie sein normales Monatsgehalt.
In 18 von 22 derartigen Fällen bekommt der Prüfer „keine zufriedenstellende Erklärung“ für die Transfers, mit denen die Abgeordneten das Konto abräumten, bevor die Gelder verfallen wären. Der Revisor äußert leise Zweifel daran, ob diese Summen wirklich stets in den Taschen der Mitarbeiter landeten. Die Kontrollen, verlangt er, müssten deutlich verschärft werden.
Der Report ist alarmierend. Doch auch viele deutsche Abgeordnete tun so, als sei nicht viel passiert. Die beiden CDU-Parlamentarier Ingeborg Grässle und Werner Langen verbreiten in einer gemeinsamen Erklärung, sie könnten zwar „in Einzelfällen“ möglichen Missbrauch erkennen. Es sei jedoch „absolut unzulässig“, das „gesamte System in Verruf zu bringen“.
Aber sind nicht das Parlamentspräsidium und der CDU-Mann Pöttering für ein System verantwortlich, dass den Missbrauch leicht machte? Hätte man den Skandal nicht vermeiden können, indem man rechtzeitig gegen diejenigen Parlamentsmitglieder vorgegangen wäre, die sich über Jahre weigerten, die verlangten Belege für ihre Ausgaben vorzulegen? Pöttering selbst scheint das anders zu sehen. Die Ursache der Missbrauchsfälle bestehe „insbesondere“ darin, dass „das bestehende System mit 27 Mitgliedstaaten zu komplex und kompliziert geworden “ sei, schreibt seine Sprecherin.
Empörung über den Enthüller
Es ist ein bisschen so, als entschuldige man die Steuerhinterziehung mit dem Hinweis auf das umständliche Steuerrecht. Trotzdem scheinen in den Augen mancher Parteifreunde Pötterings diejenigen – wenigen – Parlamentskollegen die größte Empörung zu verdienen, die die Missstände anprangern. „Hier profilieren sich einige Abgeordnete, indem sie Dreck auf ihre eigene Institution werfen“, schimpft die CDU-Parlamentarierin Grässle im Februar 2008.
Der Prüfer hat die Missbrauchsfälle anonymisiert. Nicht einmal die Nationalität der Betroffenen lässt sich herauslesen. Doch dank der Recherchen einiger Journalisten kommen nun nach und nach Namen ans Licht. Der britische Konservative Chichester hatte über die Jahre insgesamt 445 000 Pfund an die Firma Francis Chichester Ltd. überwiesen. Die trägt nicht zufällig seinen Namen. Gegründet vom Vater des Abgeordneten, gibt sie Karten und Reiseführer heraus.
Kaum hat die Sunday Times die Story im Juni 2008 enthüllt, tritt Chichester als Vorsitzende der Tory-Gruppe im EU-Parlament zurück. Der Druck kam nicht aus Brüssel, sondern aus London. David Cameron, der Vorsitzende der britischen Konservativen, fürchtete um das Antikorruptionsimage, das er seiner Partei geben will.
Er habe „in gutem Glauben“ gehandelt und keine Gelder missbraucht, versichert Chichester trotzdem. Schon 18 Monate zuvor habe ihm ein Parlamentsbeamter mitgeteilt, dass es eventuell einen Interessenkonflikt wegen der Firma gebe. Aber dann habe er nie wieder etwas von ihm gehört.
Viel Geld für die Familie
Zuvor hatte schon Chichesters Parteifreund Den Dover seinen Job als Geschäftsführer der EU-Torys verloren. Er hatte im Laufe von sieben Jahren 758 000 Pfund an eine Firma namens MP Holdings überwiesen, die seine Frau und seine Tochter führten. Zusammen hatten beide von ihr 272 000 Pfund erhalten.
„Ich habe die Regeln vollständig beachtet“, versicherte Dover. Er selbst habe keine Anteile an der Firma, sei nicht für sie tätig und habe von ihr kein Geld bekommen, anders als Ehefrau Kathleen und Tochter Amanda. Die wiederum arbeiteten für ihn als Sekretärinnen.
Auch Sir Robert Atkins, ein anderer prominenter britischer Konservativer, beschäftigte schon im Jahr 2002 seine Gattin auf EU-Kosten als Sekretärin. Laut einer offiziellen, internen Liste bekam sie bereits damals ritterliche 8332 Euro im Monat – eine Summe, die Atkins bestreitet. Sein Sohn James kassierte dieser Liste zufolge zeitweise 3180 Euro, als Assistent des Vaters. Und auch als der Filius im November 2006 in den USA heiratete, musste der stolze Dad nicht allzu tief in die Privatschatulle greifen. Die Hochzeit ließ sich glänzend mit einem Parteitermin bei den US-Republikanern verbinden, und so zahlte das Parlament 2500 britische Pfund für Flug und Hotelrechnungen. Laut Atkins stand das vollkommen im Einklang mit den Regeln.
Auch ein weiterer britischer Konservativer geriet in die Schlagzeilen. Er heißt David Sumberg und galt manchen Landsleuten als Großbritanniens faulster Europaabgeordneter. Zwischen den Europawahlen im Juni 2004 und Mai 2008 hatte er nur zwei Reden im Parlament zuwege gebracht. Laut der internen Parlamentsaufstellung ließ er seiner Frau Carolyn Ann Rae schon 2002 monatlich astronomische 11 724,90 Euro als Assistentinnengehalt überweisen. Das ist weit mehr als das, was Sumberg selbst an Diäten erhält. Er bestritt den Betrag, räumte aber im April 2008 ein, der Gattin ein Jahresgehalt von damals immer noch beeindruckenden 54 000 britischen Pfund zu zahlen.
Der Mafia-Anwalt und das Geld
Auch der italienische Abgeordnete Francesco Musotto geriet in ein schiefes Licht. Er ist ein Parteifreund von Premier Silvio Berlusconi und war seit April 2007 der offiziell vom Haushaltskontrollausschuss benannte Berichterstatter für den alljährlichen Betrugsreport, der sich mit der Unterschlagung von EU-Geldern und der Frage beschäftigt, wie man sie wirksamer bekämpft. Musotto selbst überwies zumindest im Jahr 2002 regelmäßig die komplette Mitarbeiterpauschale von damals 12 052 Euro an eine Firma namens Euro Mediterranean Services Ltd. Bei einer Datenbankrecherche im März 2008 war dieses Unternehmen europaweit nicht in den Registern auffindbar. Fragen dazu ließ der Italiener unbeantwortet.
Dass Musotto es überhaupt auf den Posten des Betrugsberichterstatters gebracht hat, darf als erstaunlich gelten. Als Präsident der Provinz Palermo auf Sizilien hatte Musotto laut Weltwoche auf sich aufmerksam gemacht, indem er eine Zivilklage gegen die Attentäter ablehnte, die 1992 den Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone in die Luft gesprengt hatten. Musottos Zurückhaltung bei der Mafia-Bekämpfung kam nicht vollkommen überraschend, denn im Zivilberuf hatte er Mafia-Verdächtige als Anwalt vertreten. Im November 1995 war er sogar selbst in Handschellen abgeführt worden, weil er in Verdacht gestanden hatte, einem Mafia-Boss in der eigenen Villa Unterschlupf gewährt zu haben – keinem Geringeren als dem Schwager des Cosa-Nostra-Paten Toto Riina.
Aber Musotto kam wieder frei, da man ihm nicht nachweisen konnte, was ihm zur Last gelegt worden war. Im Jahr 2007 schlug ihn seine deutsche Fraktionskollegin Grässle als Berichterstatter für die Betrugsbekämpfung vor. Sie könne sich ihre Fraktionskollegen „nicht schnitzen „, rechtfertigte sich die CDU-Abgeordnete. Weil der Italiener „seine Region“ gut kenne, erwarte sie von Musotto „besonders ausgefeilte Vorschläge“ zur besseren Korruptionsbekämpfung.
Im Sommer 2008 forderte die Parlamentsbürokratie auch Musotto — auf, sich zu der Verwendung seiner Mitarbeiterpauschale zu äußern. Kurz darauf legte er sein EU-Mandat nieder.
Vor der Verwaltung der Volksvertretung mussten sich unehrliche EU-Abgeordneten bis dahin kaum fürchten. Schon im Februar 2001 hatte der damalige EP-Generalsekretär Julian Priestley seine Beamten angewiesen, sich auf eine rein „formale“ Kontrolle der Zahlungen an die Abgeordneten zu beschränken. Aber selbst die wurde offenkundig nicht ernst genommen. Die Beamten glichen nicht einmal ab, ob die von den Parlamentariern genannten Mehrwertsteuernummern ihrer angeblichen Dienstleistungsfirmen überhaupt existierten – was oft nicht der Fall war, wie der interne Prüfer des Parlaments nun beklagte.
Eigentlich sahen die Regeln auch vor, dass das Parlament die Zahlungen an Abgeordnete suspendiert, wenn diese keine formelle Bescheinigung über die Sozialversicherung vorlegen. Öffentlich hatte ein Parlamentssprecher noch im Mai 2007 behauptet, „alle Mitglieder“ erfüllten diese Bedingung. Doch das stimmte nicht. Noch 24 Monate nach Vertragsbeginn, so der Innenrevisor im Januar 2008, fehlten die Zertifikate zur Sozialversicherung in „26 Prozent aller Fälle“. Das stelle einen „ernsthaften Verstoß“ gegen die Regeln dar. Die Parlamentsbeamten hatten die Gelder offenkundig trotzdem freigegeben.
Im Mai 2008 beschloss das Parlament eine Reform der Mitarbeiterbesoldung, und im September 2008 einigte sich das Präsidium der Volksvertretung auf das „Prinzip“, künftig zumindest durch Stichproben zu prüfen, ob die Abgeordneten ihre Ausgaben ordnungsgemäß belegen können. Der Grüne Gerard Onesta scheiterte mit einem weiter gehenden Antrag. Sein Vorschlag, auch rückwirkend Ausgaben seit Anfang 2007 kontrollieren zu lassen, fand keine Mehrheit. Die meisten Präsidiumsmitglieder schienen die Sünden der Vergangenheit ruhen lassen zu wollen.
Jekyll und Hyde
Offenkundig hatten die laxen Auszahlungspraktiken zum Missbrauch regelrecht eingeladen. „Viele Europaabgeordnete arbeiten hart“, analysierte der britische Parlamentarier Chris Davies im Juni 2008 in der Daily Mail. „Aber wenn es um ihre Zulagen geht, werden sie wie Jekyll — und Hyde. Die Versuchung ist einfach zu groß, es wie alle anderen zu tun und mit den Kostenerstattungen zu schummeln.“
Wie alle anderen? Im Juli 2008 sprach Parlamentsvize Ingo Friedrich von immerhin 20 Abgeordnetenkollegen, für die es nun „kein Pardon“ geben dürfe. Da sei sich das Parlament mit dem EU-Betrugsbekämpfungsamt Olaf einig.
Hatte Olaf also gegen 20 EU-Abgeordnete Untersuchungen eingeleitet? Offensichtlich nicht. Noch im Januar 2009 hieß es in einem offiziellen Bericht der Parlamentsverwaltung, nach ihrer Kenntnis habe das Betrugsbekämpfungsamt bisher keinerlei „formellen Untersuchungen “ gegen einzelne Abgeordnete eingeleitet.
Lag wirklich kein ernsthafter Betrugsverdacht vor? Hielt Olaf-Chef Franz-Hermann Brüner seine Ermittler womöglich zurück? Immerhin hatte er schon in der Vergangenheit Spesenskandale der Volksvertreter heruntergespielt. „Im Parlament wurde teilweise extensiv von den legalen Möglichkeiten Gebrauch gemacht, aber es wurde kein Missbrauch und damit Rechtsbruch begangen“, versicherte er etwa im September 2006 öffentlich.
Brüner, ein ehemaliger Münchner Oberstaatsanwalt, steht bei einigen schon lange im Verdacht, Untersuchungen je nach politischer Wetterlage zu forcieren – oder schleifen zu lassen. Er selbst bestreitet das. Doch seine Wiederernennung im Februar 2006 war hoch umstritten. Damals nannte der für die Betrugsbekämpfung zuständige EUKommissar Siim Kallas öffentlich zwei Männer, die besonders energisch auf die erneute Berufung des deutschen Chefermittlers gedrängt hätten: die beiden mächtigen deutschen Europaabgeordneten Hans- Gert Pöttering und Martin Schulz.
Der Chefermittler und der Betrug
Brüner ist eine Zentralfigur im Brüsseler Politdschungel. Denn Korruption und Betrug sind Reizwörter in der EU-Hauptstadt. Eine Serie von Betrugs- und Korruptionsskandalen hatte im März 1999 den Rücktritt einer kompletten zwanzigköpfigen Kommission unter dem damaligen Präsidenten Jacques Santer ausgelöst. Es war ein bis dahin unerhörter Vorgang für die machtgewohnte europäische Exekutive.
Das Betrugsbekämpfungsamt, dem Brüner seit März 2000 vorsteht, — ist eine Antwort auf diese Krise. Nicht zuletzt auf Druck der Bundesregierung wurde es im Sommer 1999 geschaffen. Das deutsche Interesse schien eindeutig. Als größter Financier der Europäischen Union musste die Bundesrepublik besonders daran interessiert sein, Verschwendung und Misswirtschaft zu stoppen.
Olaf folgte der diskreditierten Vorgängerorganisation Uclaf nach, die allzu häufig Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten nicht nachgegangen war. Anders als Uclaf sollte die neue Behörde nun in voller Unabhängigkeit ermitteln, auch wenn sie organisatorisch weiter in die EU-Kommission eingebunden ist. Ein sogenannter Überwachungsausschuss aus Betrugs- und Ermittlungsexperten wachte seit 1999 über die Unabhängigkeit von Olaf, darunter der ehemalige Generalsekretär von Interpol, der erfahrene britische Kriminalbeamte Raymond Kendall.
Auch der neue Chefermittler Brüner sollte diese Unabhängigkeit garantieren. Unter 449 Bewerbern hatte sich der bärtige Jurist durchgesetzt. Die Kommission setzte ihn früh auf eine „short list“ von vier aus ihrer Sicht besonders geeigneten Kandidaten. Als einziger Deutscher auf der Liste hatte Brüner leichtes Spiel, als im stark von Deutschen dominierten Haushaltskontrollausschuss des Europaparlaments über die Kandidaten abgestimmt wurde.
Viele in Deutschland glaubten, Brüners Ernennung sei eine gute Nachricht. Korruption in den Brüsseler Behörden gilt vielen in der Bundesrepublik als Folge des südländisch-romanischen Einflusses. Wer könnte also besser gegen verdächtige Franzosen oder Italiener vorgehen als ein Deutscher?
Brüner jedenfalls beteuerte, seine Unabhängigkeit sei schon deshalb gesichert, weil er vermögend sei. Der Zögling des vornehmen Bodensee- Internats Salem, am 14. September 1945 als Sohn eines Professors für Luftfahrtmedizin in Bad Nauheim geboren, konnte einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen. Er hatte schon in Sachen DDRRegierungskriminalität und gegen Erich Honecker ermittelt, die Korruptionsabteilung der Münchner Staatsanwaltschaft geleitet sowie zuletzt in Bosnien einer kleinen internationalen Antikorruptionseinheit vorgestanden. Erfahrung beim Führen großer Behörden hatte er allerdings nicht.
Ein Mörder kommt davon
1989 stellte Brüner als Staatsanwalt in München ein Ermittlungsverfahren gegen einen mordverdächtigen Arzt ein. Der Mediziner hatte zwei Jahre zuvor einen Konventsbruder aus seiner schlagenden Verbindung umgebracht, offenbar um auf dessen Namen abgeschlossene Lebensversicherungen zu kassieren. Aber für den damaligen Mittvierziger Brüner war das „Motiv für die Tat nicht ersichtlich“. Vier Jahre später erstickte der Arzt eine 71-Jährige, um auch an deren Vermögen zu kommen. Wegen Doppelmordes verurteilte ihn ein Gericht 1996 zu lebenslanger Haft. Dass ihn die Ermittler nach der ersten Tat hatten laufenlassen, war nun für den Richter „nicht nachvollziehbar“.
Ob man in der EU-Kommission von dieser aus Presseberichten bekannten Vorgeschichte wusste? Öffentlich diskutiert wurde sie bei Brüners Amtsantritt im März 2000 nicht. Nun gelobte der ehemalige Oberstaatsanwalt, „nichts“ zu beschönigen und zu verschweigen. Schon nach hundert Tagen Einarbeitungszeit wollte er richtig durchstarten. „Der Kater Olaf wird Mäuse fangen“, versprach Brüner, „er stellt nicht auf Kitkat um.“
Dumm nur, dass viele in den EU-Institutionen das Mausen partout nicht lassen mochten – und den Kater lieber draußen vor der Tür auf Mäusefang gehen sahen. „98 Prozent“ der Olaf-Arbeit werde außerhalb Brüssels in den Mitgliedsstaaten stattfinden, verkündete eine Vertraute des Kommissionspräsidenten Romano Prodi offen. Olaf dürfe „keine Skandalgenerierungsmaschine“ werden, hieß es unter mächtigen Europaabgeordneten. Ihr Motto: Betrugsermittlungen ja, aber nicht bei uns.
Das passte zu dem heimlichen Konsens, der in Brüssel regiert: Über Europas Missstände öffentlich zu reden schade der Völkerverständigung und dem historischen Einigungsprojekt. Diese Überzeugung teilen in der EU-Hauptstadt Beamte wie Abgeordnete und sogar viele Journalisten.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hoffmann und Campe