In Heidelberg trägt eine Brücke den Namen Hermann-Maas-Brücke. Dass man gerade eine Brücke nach ihm benannt hat, ist gewiss von tieferer Bedeutung – war doch der Heidelberger Pfarrer Hermann Maas (1877–1970) in doppelter Hinsicht ein Brückenbauer. Zum einen zwischen Juden und Christen und zum anderen zwischen Deutschland und dem Staat Israel. Und er war darüber hinaus ein Retter, der vielen verfolgten Juden und Judenchristen in der Zeit des Dritten Reichs seelsorgerlich beigestanden und vielen zur Emigration in ein sicheres Land verholfen hat.
Werdegang und Prägungen
Herman Maas, geboren 1877 in Gengenbach, stammte aus einer badischen Pfarrersfamilie. Nach seinem Theologiestudium und seinen ersten Jahren im Pfarrdienst war er von 1915 bis 1943 Pfarrer an der Heiliggeistkirche in Heidelberg. Maas war mit Cornelie geb. Hesselbacher verheiratet; sie hatten drei Töchter. Von 1945 bis 1965 war er Kreisdekan, dann Prälat in der evangelischen Landeskirche in Baden. Er war geprägt von der liberalen Theologie, von der ökumenischen Bewegung und durch seine frühe Begegnung mit dem Judentum. Als ökumenischer Pionier war Maas an der Gründung der ökumenischen Bewegung „Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Christen“ (Konstanz, August 1914) beteiligt. Später trat er auch dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus um den Stuttgarter Stadtpfarrer Lamparter bei.1 Maas hatte von frühester Jugend an intensive Kontakte zu Juden. „Schon in früher Jugend fühlte ich, der Sohn und Enkel von Pfarrern, mich dem Volk Israel in einer geheimnisvollen Weise hingezogen. Meine ersten Freunde waren im Grund immer Juden.“2 1903 nahm der junge Geistliche Maas in Basel als Besucher am 6. Zionistenkongreß teil und traf dort Theodor Herzl, Chaim Weizmann und Martin Buber. Mit Buber blieb er zeitlebens in Verbindung. In Basel erlebte er die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den jüdischen Vertretern des „Uganda-Plans“3 und den „Zionisten“, für die nur Israel als jüdischer Staat in Frage kam. Maas sprach sich für die Zionisten aus.4 Er wurde „Zionist in heiliger Liebe zu den Verheißungen der Bibel“.5 In den biblischen Verheißungen sah er den wahren Zionismus: „Sein Weben und Leben in den prophetischen Verheißungen des Landes, der Gerechtigkeit, des Friedens, des Heils, alles dies und viel mehr sind die tiefsten Motive des Zionismus.“6
Anders als die meisten kirchentreuen Protestanten, die die sog. Machtergreifung begeistert begrüßten, war Maas eher erschrocken. „Ich sah in Hitler von der ersten Minute an das Unheil für das deutsche Volk.“ Entsetzt war er über die immer mächtiger werdende Gruppe der Deutschen Christen, die den Nationalsozialismus und das evangelische Christentum miteinander verbinden wollten. Sie wollten keine Pfarrer jüdischer Herkunft in der Kirche mehr dulden („Arierpragraph“) und hätten am liebsten alle Christen jüdischer Herkunft in Sondergemeinden gesteckt. Sie forderten schon 1932 – drei Jahre vor den Nürnberger Rassegesetzen! – ein Verbot von Eheschließungen zwischen Deutschen und Juden.7 Und Maas beklagte vor allem das Schweigen und Wegsehen auf der Seite der Kirche. Zu Beginn des Jahres 1933 war Maas mit den Vorbereitungen auf seine mit einem Stipendium des Deutschen-Palästina-Komitees finanzierte Palästinareise beschäftigt (April bis Juli 1933). Von Neapel nach Haifa reiste er mit einer Gruppe der internationalen jüdischen Frauenorganisation WIZO (Women International Zionist Organisation). In Neapel erlebte er, wie Hunderte von verzweifelten Flüchtlingen aus Deutschland das amerikanische Schiff „Vulkania“ bestiegen. Im Heiligen Land besuchte er neben den christlichen Erinnerungsstätten auch archäologische Ausgrabungen und vor allem auch Kibbuzim. Er feierte jüdische Feste mit und lernte Ivrit.8 Wieder heimgekehrt, sah er sich einer Hetze ohnegleichen ausgesetzt. Der örtliche Kreispropagandaleiter der NSDAP forderte vom evangelischen Dekan ein Predigtverbot mit der Begründung: „Die seit Jahren betont judenfreundliche Einstellung des Stadtpfarrers Maas ist stadtbekannt […]. Maas wird überall als der Judenpfarrer betrachtet.“ Die Kirchenbehörden rieten Maas zunächst, den ersten Gottesdienst nicht zu halten, um sich nicht zu gefährden. Maas kam diesem Rat nach. Schließlich protestierte Landesbischof Julius Kühlewein beim Innenministerium dagegen, dass man einen Geistlichen an der Ausübung seiner Predigttätigkeit hindere, ohne dass begründete Beschwerden vorgebracht werden. Die Sache verlief schließlich im Sand. Marianne Weber, die Frau des berühmten Soziologen Max Weber, schrieb nach einer Predigt von Maas, es sei ihr bewusst geworden, wer dahin gehe, werde von der Gestapo beobachtet und notiert, und zur Predigt von Maas zu gehen, „sei ein Bekenntnis, ein christliches Wagnis“.9
2. Der Einsatz für die verfolgten Juden
Während viele Deutsche, auch viele Christen, sich nach 1933 ihrer Bekanntschaft mit Juden zu schämen begannen, bezeugte Maas in aller Öffentlichkeit seine Solidarität mit den Juden. Ihn trieb nicht nur Nächstenliebe für die „unter die Räuber Gekommenen“, sondern eine tiefe Verbindung zwischen Juden und Christen. Anläßlich der Reichspogromnacht 1938 schrieb er einem jüdischen Mitbürger in Baden-Baden: „Ich stehe bei Ihnen, nicht trotzdem Sie Jude sind, sondern weil Sie es sind und weil ich heute von einer Gottesgemeinde, einem Gottesvolk weiß, zu dem wir, Sie und ich, in gleicher Weise als Brüder und Schwestern gehören, in gleicher Weise angegriffen, verachtet und verstoßen von der Welt, in gleicher Weise auch geborgen in der Liebe des Ewigen, dessen Kinder wir sein dürfen.“ Demonstrativ nahm er an den hohen jüdischen Feiertagen an den jüdischen Gottesdiensten teil. Fritz Pinkuss, Rabbiner in Heidelberg (später Rabbiner von São Paulo), erinnerte sich 1985: „Seine menschliche Verbundenheit war so tief, dass wir an Heiligabend bei ihm waren und er bei uns zur Pesachfeier und an den hohen Feiertagen des Judentums. Das ging so weit, dass ich ihm dringend raten musste, seine Sicherheit nicht durch Teilnahme an unseren Gottesdiensten zu gefährden […]. Selten habe ich jemand so innig beten sehen, wenn er zu den großen Gebeten der Hohen Feiertage kam.“
Maas unterstützte und beriet nicht nur getaufte Juden, sondern stand überhaupt bedrängten Juden bei. Fritz Pinkuss legte ihm bei seiner Emigration 1938 ans Herz, „für die Verfolgten und die Alten zu sorgen“, und Maas kümmerte sich um die Alten im jüdischen Altersheim in Mannheim. An der Tür seines Pfarrhauses befestigte er eine Mesusa (Türpfostenkapsel) mit der Begründung: „Meine jüdischen Freunde sollen wissen, dass sie bei mir sicher sind.“ Maas sammelte um sich einen Kreis von – vielfach selber gefährdeten –Helfern wie die Sozialpolitikerin Marie Baum, die 1933 ihren Lehrauftrag an der Universität wegen ihrer ,nichtarischen’ Herkunft verloren hatte, sowie Annemarie Fraenkel,10 die Tochter des weltbekannten Strophantinforschers Albert Fraenkel. Auch Elisabeth von Thadden, die Leiterin einer privaten Mädchenschule in Heidelberg-Wieblingen, unterstützte ihn.
Maas setzte auch seine ökumenischen Beziehungen für die verfolgten Juden ein. Auf einer Tagung des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen in Genf 1935 referierte er über „das Problem der nichtarischen Christen“. Er sah sie zwischen allen Stühlen sitzen, weder unterstützt von jüdischen Hilfsorganisationen und viel zu wenig unterstützt von den evangelischen Kirchen. Maas forderte Kollektivsiedlungen im Ostjordanland, Schulen in Deutschland, die auf die Auswanderung vorbereiten und eine neue Besinnung auf die bleibende Erwählung Israels nach Röm 9–11. Schließlich wurde in Anwesenheit von Maas am 1. Januar 1936 das „Internationale kirchliche Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge“ gegründet, das vor allem verfolgten Christen jüdischer Herkunft zur Emigration verhalf.
Für Maas war der gegen die Juden entbrannte Kampf weniger eine politische, denn eine theologische Frage: „Hinter dem Kampf gegen die Juden verbirgt sich der Widerspruch gegen den Anspruch Gottes, der mit dem jüdischen Volk, seiner Erwählung, seinem Schicksal und mit der Tatsache, ‚Das Heil kommt von den Juden‘ (Joh 4,22), an uns gestellt ist.“ Letztlich wird im Angriff gegen das Judentum der Glaube der Kirche angegriffen. Für Maas ergibt sich daraus als Aufgabe der Kirche, „ein schützender Zaun um das ganze leibliche Israel zu sein“. Die Heimkehr des jüdischen Volkes nach Israel ist auch für Christen von Relevanz. In der gemeinsamen Wurzel von Juden und Christen (vgl. Röm 9–11) sah er auch „eine eschatologische Einheit“11 von Kirche und Israel. „Mag dieser Zionismus auch heute vor allem eine weltliche, soziale und politische Außenseite haben – mag er auch die Judenfrage noch nicht in tiefstem Kern ernst ins Auge gefasst haben –, tief innen liegt doch etwas viel Größeres: Ein Wandern des jüdischen Volkes nach dem Land, in dem der Herr nach seiner Verheißung das Volk zu Christus endgültig führen will. Die zionistische Bewegung ist eine endzeitliche Bewegung im christlichen Sinne.“12 Mit dieser kühnen Aussage stieß er auf Widerspruch. Erst nach dem Krieg wurde in der evangelischen Kirche neu nachgedacht über die – auch nach dem Kommen Jesu – bleibenden Verheißungen an Israel.
Mit der Reichspogromnacht 1938 trat die Judenverfolgung in eine neue schreckliche Phase. Eine jüdische Frau erzählt, wie ihr damals, als in Mannheim die Synagogen brannten, Maas begegnete: „Wie ich dann an die Synagoge kam, standen Massen von Leuten hämisch vor der Synagoge und Hitlerjugend stand mit Sammelbüchsen und haben 20 Pfennig Eintritt verlangt, um für dieses ,wunderbare‘ Ereignis, nämlich die brennende Synagoge zu sehen, zu kassieren. Und ich bin dann, vom Rauch kaum etwas sehend und vom Weinen die ,Freßgass‘ zurückgerannt. Irgendwo […] hat sich ein Arm um mich gelegt und jemand hat zu mir gesagt: ,Kind, wein’ nicht, das ist der Anfang vom Ende.‘ Und so bin ich immer wieder dem Prälat Maas begegnet.“ 1938 gründete der Berliner Pastor Heinrich Grüber im Auftrag der Bekennenden Kirche die Kirchliche Hilfsstelle für evangelische Nichtarier.
Viele von den jüdischen Mitarbeitern in der Berliner Zentrale haben die Schoa nicht überlebt. Vom NS-Regime wurde die Hilfsstelle zunächst geduldet, weil die Nazis daran interessiert waren, Deutschland „judenfrei“ zu machen. Maas leitete die Heidelberger Vertrauensstelle des Büro Pfarrer Grüber. Obwohl die Gestapo den gesamten Briefwechsel von Maas beschlagnahmte und wohl auch vernichtete, konnte doch einiges von der konkreten Rettungstätigkeit von Maas rekonstruiert werden. Auch Zeitzeugen, die mit Maas in enger Verbindung standen, konnten noch gefunden werden: in England war Bischof George Bell von Chichester sein besonderer Gesprächspartner, in der Schweiz Adolf Freudenberg vom ökumenischen Flüchtlingsdienst, und in Schweden hatte er Kontakt zu Erzbischof Erling Eidem. Ganz besonders lag Maas die Rettung von Kindern am Herzen: „Ich reiste wohl alle Vierteljahre nach England, um meine vielen Kinder und jüdischen Familien zu retten.“ Das Büro Pfarrer Grüber war an den Kindertransporten beteiligt, mit denen u. a. mehr als 1000 christliche Kinder jüdischer Herkunft nach England gebracht wurden.13
Von einem Besuch im Bloomsbury House in London, wo viele Hilfsstellen ihren Sitz hatten, berichtete er: „Drüben ging mir […] doch mit Schrecken auf, dass alle am Ende der Kraft, der Mittel und des Rats sind. Tag und Nacht verfolgen mich die Bilder die ich sah, dieser tausendfache Andrang in den Räumen des Komitees, ein heimsuchendes Volk, in engen Gängen, Treppen und überfüllten, von Weh und Ach, Schelten, Zürnen erfüllten Büros, die zum Teil von ungeeigneten, lieblosen Menschen zu Infernos gemacht wurden. Entsetzlich! […] Welch eine grausame Not und welch dämonischer Sadismus, rücksichtslos weiterzubedrohen, auszuweisen! O Gott, was muss geschehen! Ich zittere vor dem Gottesgericht, das sich grausig in diesen Tagen zusammenzieht über uns, Europa und am Ende über der ganzen Welt. Und das alles um einer Idee willen […].“
Eine ganz wichtige Rolle spielte Maas bei der Rettung von 40 Pfarrern jüdischer Herkunft mit ihren Familien, für die Bischof George Bell vom englischen Innenministerium die Einreise nach England erreichte. Für die ökumenische Zentrale in Genf erstellte Maas eine Liste von Personen, darunter viele bedrohte Pfarrer, die alle mit dem sog. Bell-Ticket ausreisen konnten. Doch Maas drängte auch darauf, ein Sammelvisum für 100–200 oder noch mehr Laien zu beschaffen.
Der Einsatz für verfolgte Juden brachte Maas Schwierigkeiten in Heidelberg. In einem unzensierten Brief nach Zürich berichtete er 1935 über den ganzen Wahnsinn der NS-Rassenpolitik: „Hier treibt man wieder hinter mir her, weil ich ein 25prozentiges nichtarisches Kind getauft habe, […] oder klatscht über mich an allen Biertischen, dass ich mit einem nichtarischen Arzt auf der Straße gesprochen, weil ich in einem sehr dringlichen Seelsorgefall, ihn, den Hausarzt, um Rat fragen musste.“14 Es kam zu zermürbenden Gestapoverhören. Dass er nicht eingesperrt wurde, ist wie ein Wunder. Maas hatte dafür seine eigene Erklärung: „Viel Behütung und seltsame, mir oft unerklärliche Unentschlossenheiten der Gestapo bewahrten mich vor dem allerletzten, dem Lager und dem Strick. Aber ich glaube sagen zu dürfen, daß damals meine große Gemeinde in Heidelberg wie ein Schutzwall hinter mir stand und oft die Gestapo zögern ließ oder gehemmt hat.“
Gedenktafel für Hermann Maas in der Heiliggeistkirche in Heidelberg (24. Juni 2006).
Ende 1940 wurde Heinrich Grüber verhaftet und kam zuerst in das KZ Sachsenhausen und dann nach Dachau. Anfang 1941 wurde auf Befehl der Gestapo das Büro Grüber geschlossen. Ein besonderer Schock war für Maas die plötzliche Deportation der Juden aus Baden und der Saarpfalz im Oktober 1940. Maas nahm noch Kontakt mit Grüber und mit Freudenberg vom Ökumenischen Flüchtlingsdienst in Genf auf, aber es war alles umsonst. „Heute quäle ich mich, dass ich nicht gebeten habe, mitzudürfen und mit diesen armen Brüdern und Schwestern zu sterben.“ 1940 begann die Kampagne, die ihn schließlich aus dem Amt bringen sollte. Zunächst wurde ihm das Amt des Standortpfarrers entzogen, 1942 entzog ihm das Kultusministerium die Erlaubnis, Religionsunterricht zu erteilen. Schließlich forderte das Kultsministerium vom Oberkirchenrat, Maas „aus der Seelsorge zurückzunehmen“. Um seiner Entfernung aus dem Amt durch ein Disziplinarurteil zuvorzukommen, wurde er am 1. Juli 1943 in den Ruhestand versetzt. 1944 wurde er zur Zwangsarbeit in Frankreich verpflichtet.
3. Hermann Maas, der Brückenbauer
Als am 30. März 1945 Heidelberg von den Amerikanern besetzt wurde, empfand Hermann Maas dies als Erlösung und als Ende der Tyrannei. Zunächst beschäftigte er sich stark mit der Frage der Schuld. Das im August 1945 für den Ökumenischen Rat in Genf verfasste Memorandum „Wie ich mir den Neuaufbau der evangelischen Kirche denke“ beginnt mit dem Satz: „Aller Neuaufbau muss mit Auskehren, Aufräumen und Abreißen beginnen. In der Sprache der Bibel heißt das ‚Buße‘ tun.“ Und dann wurde die Schuld von Kirche und Christen konkret aufgewiesen. „Gewiss, wir haben vieles nicht gewusst von dem Entsetzlichen, was geschehen ist. Aber das ist nun oft genug versichert worden. Hat das, was wir wussten, gesehen und gehört haben, nicht genügt? Haben wir nicht den 1. April 1933 erlebt mit seinen Grausamkeiten und seiner wüsten Demagogie auf unseren Gassen? Haben wir nicht die Lieder gehört, die unsere Jugend sang, wenn sie brüllend durch die Straße zog, oder den entsetzlichen Ton ihrer Landsknechttrommeln? Nicht die SA-Lieder […]? Das Horst-Wessellied? Nicht die von Satire, Hass und aufreizender Demagogie […] des Führers und der Führer? Haben wir nicht die abgebrannte Synagoge gesehen, das Gotteshaus mit einem Bibelwort an der Stirnseite und den Gesetzesrollen und Prophetenbüchern im Allerheiligsten?“15
Auch die evangelischen Kirchen haben zu den Schandtaten des NS-Regimes, zur Judenverfolgung, zur NS-Euthanasieaktion und zum Zweiten Weltkrieg faktisch geschwiegen: „Wir hätten aufschreien und immer wieder unser Leben und unsere Freiheit wagen müssen. Wir alle, die ganze Kirche. Wir können uns nicht entschuldigen, wir müssen uns anklagen, wir klagen uns an.“ Als 1946, mit einem Grußwort des Frankfurter Rabbiners Ralph Neuhaus, die Jüdische Rundschau wieder erschien, schrieb Maas in einem Leserbrief: „Wie furchtbar groß ist die Last der Schuld, die auf dem nichtjüdischen deutschen Volk liegt und damit auf jedem Einzelnen, auch auf mir. Wir sind mitschuldig, auch wenn wir Israel so heiß geliebt haben und gegen diese grauenhaften Mächte gekämpft haben, wie ich es versuchte.“ Für viele, die ein kritisches Wort zur „Schuld der anderen“ erwarteten, war das offensichtlich zuviel. An den Oberkirchenrat in Karlsruhe wurde berichtet: „In Heidelberg herrsche namentlich in studentischen Kreisen große Erregung über diese Äußerung eines bekannten und angesehenen Vertreters der Evangelischen Kirche.“
In mancher Beziehung nahm Maas den Faden von vor 1945 wieder auf. Er gründete mit anderen Heidelbergern ein Komitee für die Opfer des Nationalsozialismus und nahm seine Hilfe für Judenchristen in Not wieder auf. In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Konsul in Stuttgart konnte eine größere Zahl von Christen jüdischer Herkunft in die USA auswandern. Maas bemühte sich auch um die Rückkehr von Rabbiner Robert Raphael Geis, der von 1934 bis 1937 Rabbiner in Mannheim war. 1952 wurde Geis Landesrabbiner von Baden.
Im August 1946 setzte sich die International Conference of Christians and Jews in Oxford zum Ziel, die Gemeinsamkeiten von Judentum und Christentum herauszustellen in Bezug auf ihr religiöses Verständnis von Wirklichkeit und ihren gesellschaftlichen Auftrag. Maas, einer der vier deutschen Teilnehmer, nahm die Konferenz zum Anlass, „eine ungeheure Schuld zu bekennen, eine Schuld, welche das deutsche Volk – verführt und mitgerissen – auf sich geladen hat und für alle Zeiten wird tragen müssen“. Auf der Oxforder Konferenz von 1946 wurde der Grundstein für den Internationalen Rat der Christen und Juden gelegt, der heute seinen Sitz im ehemaligen Wohnhaus von Martin Buber in Heppenheim hat. Den deutschen Koordinierungsrat und die ihm angeschlossenen Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die 1948 entstanden, begrüßte Maas und arbeitete an ihnen mit. Maas war wichtig, dass man nicht nur auf der humanitären Ebene bleibt. Es geht um wirkliche Begegnung, und eine solche Begegnung könne ohne „wirkliches Sich-Kennenlernen“ nicht zustande kommen.
In besonderer Weise bemühte sich Maas um die Versöhnung mit dem jüdischen Volk und mit dem Staat Israel. Der Staat Israel lud ihn 1949 als ersten christlichen Deutschen16 offiziell nach Israel ein. Am 9. Juli 1952 sprach Maas beim Council of Christians and Jews in London zum Thema Germany and Peace with Israel. Angesichts der katastrophalen Ernähungssituation in Israel schrieb er an den ihm aus Heidelberg wohlbekannten Bundespräsidenten Theodor Heuss: „Ist nun nicht der Augenblick gekommen, in einem ganz konkreten Fall damit zu beginnen, Frieden mit Israel zu schließen […] und einen Versand von Lebensmitteln nach Israel vorzunehmen?“ Immer wieder hatte Maas gemahnt, doch endlich formell geordnete Beziehungen mit Israel aufzunehmen. Er verwies auf die besondere Bedeutung solcher Beziehungen für den Frieden in Nahost. Mit seinen Initiativen hat Maas einen kleinen, aber wichtigen Beitrag dazugegeben, dass Beziehungen zwischen Israel und Deutschland (Mai 1965) wieder möglich wurden.
Nach dem Krieg wurde Maas vielfach geehrt. Ganz besonders freute er sich über die Verleihung der Yad-Vashem-Medaille (1966) und den Ehrentitel Gerechter unter den Völkern. Asher Ben Nathan, der erste Botschafter Israels in der Bundesrepublik Deutschland, sagte damals: „Sie haben diejenigen als Ebenbild Gottes angesehen, die damals nicht als Menschen galten, und Sie setzten dabei Ihr Leben aufs Spiel.“ Die vor über 20 Jahren gegründete Hermann-Maas-Stiftung17 und die badische Landeskirche erhalten u. a. mit der jährlichen Verleihung des Hermann-Maas-Preises die Erinnerung an ihn lebendig. Die evangelische Kirchengemeinde Gengenbach ehrt mit der alle zwei Jahre vergebenen Hermann-Maas-Medaille Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen, die im Sinne von Hermann Maas arbeiten.18
Hier kommen Sie auf die Texte der Fußnoten:
1. Vgl. Viola Schrenk, Pfarrer Eduard Lamparter (1860–1945) im Streit um Judenmission und Antisemitismus, in: Rainer Lächele/Jörg Thierfelder (Hg.), Württembergs Protestantismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 2003, 187–198.
2. Die Zitate stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus: Werner Keller u. a., Leben für Versöhung. Hermann Maas – Wegbereiter des jüdisch-christlichen Dialoges, Karlsruhe 2. Aufl. 1997.
3. Joseph Chamberlain machte im April 1903 Theodor Herzl den Vorschlag einer jüdischen Ansiedlung in Britisch-Ost-Afrika. Herzl legte den Plan beim 6. Zionistenkongreß (August 2003) vor.
4. Vgl. auch Zeugenaussage von Maas vom Mai 1962 für Yad Vashem, Kopie aus LKA Karlsruhe, PA Maas: „Und ich nahm, so sehr ich Herzl verehrte als einen ganz großen Mann, gegen ihn Stellung. Ich war dagegen, dass man irgendwie das jüdische Volk von einem Gefahrenort vielleicht wieder an einen anderen bringe. Ich sagte – das ist natürlich meine religiöse Erfahrung gewesen – Zion allein ist Zion. Es gibt nur ein Zion und das ist Zion. Und heute sind wir in Zion.“
5. Hermann Maas, Liebe zu Israel. Maschinenschriftliches Manuskript.
6. Hermann Maas, Vom Schicksal jüdischer Menschen, in: Den Unvergessenen. Opfer des Wahns 1933 bis 1945, Heidelberg 1952, 175.
7. Vgl. Eberhard Röhm/JörgThierfelder, Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz, Stuttgart, 4. Aufl. 1990, 25.
8. Einige seiner zahlreichen auf Hebräisch verfaßten Briefe befinden sich im Archiv von Yad Vashem in Jerusalem.
9. Jörg Thierfelder, Hermann Maas – Tun des Gerechten, in: Jörg Thierfelder/ Willi Wölfing (Hg.), Für ein neues Verhältnis von Juden und Christen, Weinheim 1996, 134. sind.“ Maas sammelte um sich einen Kreis von – vielfach selber gefährdeten –Helfern wie die Sozialpolitikerin Marie Baum, die 1933 ihren Lehrauftrag an der Universität wegen ihrer ,nichtarischen’ Herkunft verloren hatte, sowie Annemarie Fraenkel,10 die Tochter des weltbekannten Strophantinforschers Albert Fraenkel. Auch Elisabeth von Thadden, die Leiterin einer privaten Mädchenschule in Heidelberg-Wieblingen, unterstützte ihn. 9 Später schloss Maas sich der Bekennenden Kirche an.
10. Zu Annemarie Fraenkel vgl. Jörg Thierfelder, Albert. Eine biographischen Skizze, in: Peter Drings u. a., Albert Fraenkel. Ein Arztleben in Licht und Schatten 1864–1938, Landsberg/ Lech 2004, 17–69, hier 51 f.
11. Vgl. Eckhart Marggraf, Die Landeskirche vor der „Judenfrage“ und angesichts der Judenverfolgung, 1935–1945, in: Gerhard Schwinge (Hg.), Die Evangelische Landeskirche in Baden und im Dritten Reich. Quellen zu ihrer Geschichte, Bd. IV, Karlsruhe 2003, 367–466, hier 369.
12. Maas’ christlicher Zionismus darf nicht mit dem christlichen Zionismus von evangelikalen Fundamentalisten in den USA verwechselt werden, die behaupten, dass Christus erst dann wiederkommen wird, wenn das jüdische Volk ins Heilige Land zurückgekehrt ist, in Jerusalem die heiligen Stätten des Islam zerstört und der Tempel wiederaufgebaut hat. In der Schlacht von Armageddon würden dann Millionen Menschen umkommen und die Juden zum Christentum bekehrt. Vgl. Reem Hadad, Gefährliche Zeiten, in: der überblick 1/2005, 57 f.
13. Nach einer Schätzung kamen im Ganzen 9345 jüdische Kinder mit Kindertransporten bis zum Kriegsbeginn nach England. Walter E. Norton, London, Gründer und Vorsitzender des Aufsichtsrates der Hermann-Maas-Stiftung, der uns diesen Beitrag vermittelt hat, war eines dieser geretteten Kinder. Vgl. Claudia Pepperl, Hermann Maas und sein Eintreten für verfolgte Juden, Veröffent lichungen und Berichte der Hermann-Maas-Stiftung Heidelberg, Dezember 1997, 41 f.
14. Thierfelder (Anm. 9), 140.
15. Das vollständige Memorandum ist abgedruckt in Gerhard Besier u. a., Kirche nach der Kapitulation – eine Dokumentation, Bd. 2, Stuttgart 1990, 303–306.
16. Die zweite offizielle Einladung erging an den Hamburger Journalisten Rudolf Küstermeier, die dritte an Dr. Gertrud Luckner, die Begründerin des Freiburger Rundbriefs.
17. Die Hermann-Maas-Stiftung verdankt ihre Gründung dem Rat von Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, Geld nicht in einen Gedenkbrunnen, sondern in eine Stiftung zu investieren.
18. Vgl. Joachim Maier, Gedächtnis des Leidens – Quelle des Lebens, Verleihung der Hermann- Maas-Medaille an Eva Mendelsson und Paul Niedermann, FrRu 14(2007)36–43.
21.Okt..2014, 02:39
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