Die Zukunft der deutschen Filmförderung liegt in den Händen des Bundesverfassungsgerichts, am Dienstag wird es urteilen. Soll man dem Kino nun wünschen, dass die Förderung kollabiert? Festivalleiter Lars Henrik Gass und Produzent Martin Hagemann nehmen kein Blatt vor den Mund. Im Gespräch mit Frédéric Jaeger beschreiben sie, wie Filmemacher an allen Fronten daran gehindert werden, innovativ zu arbeiten – und wie die Politik, das Fernsehen und Institutionen dafür sorgen, dass es bislang zu keinen Reformen kommt.
Wer den deutschen Film verstehen will, wer erfahren will, wieso das hiesige Kino nicht besser ist, wird früher oder später unweigerlich bei der Förderung landen. In den Gesetzen, den Mechanismen, den unausgesprochenen Regeln und den vielen Selbstverständlichkeiten des Filmfördersystems stecken die Formate und Rezepte, die auf den Leinwänden und Bildschirmen landen. Nun steht das Filmförderungsgesetz auf dem höchstrichterlichen Prüfstand: Am Dienstag, den 28.01.2014 wird das Bundesverfassungsgericht sein Urteil in Sachen Filmförderung sprechen. Um nichts Geringeres als die Verfassungsmäßigkeit des Ende der 1960er Jahre eingerichteten Filmförderungsgesetzes geht es dabei. Die Gelegenheit, darüber zu sprechen, wie das bisherige Modell aussieht und wie es aussehen könnte, wenn ein kleiner oder großer Knall für eine Neuordnung sorgte. Vielleicht ist ohnehin eine Implosion des Systems an der Zeit? Oder sind doch noch Reformen möglich? Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, und Martin Hagemann, Produzent von Regisseuren wie Alexander Sokurow, Hal Hartley und Béla Tarr, sind in ihrer Arbeit seit Jahrzehnten direkt und indirekt Betroffene der Filmförderpolitik.
Kulturelle Filmförderung
Frédéric Jaeger: Die zentrale Frage, die mich umtreibt, ist: Wo bleibt innerhalb der Filmförderung eigentlich der Kulturaspekt? Die Regionalförderer machen in der Regel Standortförderung und nur in ganz seltenen Fällen eine dezidierte Kulturförderung; die Filmförderungsanstalt (FFA) legitimiert sich wirtschaftlich und ist auch eher als Wirtschaftsförderung aufgestellt; der Beauftragte für Kultur und Medien (BKM) hat fast die Hälfte seines Filmbudgets an die Deutsche Filmakademie abgegeben, wo wiederum strittig ist, ob das noch eine Kulturförderung oder nicht eher eine Belohnung des beliebtesten Films ist – und damit einem Quotendenken verhaftet bleibt, das sich von künstlerischen und kulturellen Kriterien wiederum entfernt. Vielleicht wäre das also ein möglicher Einstieg: Gibt es überhaupt eine Kulturförderung in der Filmförderung?
Martin Hagemann: Zunächst ist der Doppelcharakter des Films hervorzuheben: dass Film immer auch ein Kulturgut ist, aber als Wirtschaftsgut finanziert und gehandelt wird. Der 90-Minuten-Film zumindest, der über das Kino in die anderen Auswertungskaskaden kommt, muss immer von beiden Seiten aus betrachtet werden. Für mich ist Film noch beides – wir stehen da aber ganz sicher vor einem Umbruch. Film ist ein Kulturgut, kann nach wie vor eine große gesellschaftliche Wirkung haben, im Guten wie im Schlechten. Er ist aber auch ein Wirtschaftsgut und muss als solches betrachtet werden – weil es einfach eine sehr teure Kunst ist. Wenn es um die Herstellung von Filmen geht, haben wir es mit Finanzierungsproblemen zu tun, die seit 40 Jahren in den überwiegend meisten Fällen nicht mehr aus dem Produkt selber gelöst werden können. Film ohne Förderung gibt es weltweit nicht mehr. Wir haben jetzt 40 Jahre ein System gehabt, das versucht hat, mit zwei großen Ansätzen – einmal FFA und einmal Länderförderung – dieses Wirtschaftsgut mit kulturellen Anteilen zu erhalten. Nicht nur die Klagen – wie die aktuelle vor dem Bundesverfassungsgericht –, auch viele andere Dinge deuten darauf hin, dass das Verhältnis zwischen Kultur und Wirtschaft im Bereich des Kulturguts Film dabei ist, sich neu zu sortieren und neu aufgestellt werden muss – und da gibt es dann sehr unterschiedliche Modelle.
Lars Henrik Gass: Der vormalige Leiter der Film- und Medienstiftung NRW Michael Schmid-Ospach sprach ja ständig davon, dass man beim Film die Kunst nicht von der Wirtschaft trennen könne. Ich glaube, dass das – mit Blick auf die faktische Verfassung insbesondere des deutschen Films – eine riesige Ideologie ist, denn, wie Martin Hagemann schon gesagt hat: Der Markt selbst ist ja ein Illusionspanorama. Ohne Filmförderung gäbe es hier keinen Film. Tobias Kniebe hat 2006 in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ („Kinobranche im Wandel“) über diese begriffliche Unschärfe geschrieben – anlässlich einer Meldung im Wirtschaftsteil, dass Bernd Eichinger ein Privatvermögen von 36 Millionen habe, das er im Wesentlichen durch Filmfördermittel erwirtschaftet hat. Kniebe schrieb, dass innerhalb der Branche ein großes Interesse an einer solchen begrifflichen Unschärfe besteht. Immer wenn man sagt, das ist eigentlich Wirtschaft, heißt es, es ist doch auch Kultur. Und immer wenn es heißt, es gehe um Kultur, kommt einer, der sagt, das ist auch Wirtschaft. Das System ist an dieser begrifflichen Unschärfe interessiert, weil es nur so seinen eigenen Erhalt sichern kann. Das halte ich für das große Problem. Deshalb würde ich aus strategischen Gründen immer die Position einnehmen, dass wir – da wir keinen Markt haben – über Film als Kulturgut sprechen. Ich sehe nicht ein, warum hier in großem Umfang eine Wirtschaftsförderung erfolgt. Meine Frage ist: Warum kann man nicht bessere Filme machen, wenn ohnehin kein Markt existiert, der die Filme amortisieren könnte? Das ist das eine. Das andere ist, dass ich glaube, dass dieses System sich im Wesentlichen dadurch trägt, dass es Störfälle nicht zulässt. Innovation wird vermieden, weil sonst das System in Gefahr gerät. Es gibt in Deutschland kaum mehr eine dezidiert kulturelle Filmförderung.
MH: Wir sind uns einig, dass es keinen Markt mehr gibt. Für mich ist dieses Marktgerede die große Lebenslüge des deutschen Films. Aber diese Lebenslüge dient ja gewissen Interessen. Mir ist es zu defensiv, zu sagen: Wir geben das Wirtschaftsdenken im Film einfach auf. Wir gehen hin und verteidigen offensiv den Kulturgedanken, um dann die Entwicklung rückgängig zu machen, die in Hamburg angefangen hat, als die kulturelle und wirtschaftliche Förderung zusammengelegt wurden, in NRW wurde das dann zur Perfektion getrieben, indem das Fernsehen mit reingenommen wurde, was ja der Anfang unseres Problems war. Sie wollen jetzt – überspitzt gesagt – 40 Jahre zurückgehen, und unsere Friedensallee rechts mit der Kulturförderung und dem kleineren Etat und gegenüber die Wirtschaftsförderung mit dem größeren Etat wieder zurückhaben. Ich bin dagegen der Meinung, dass sich innerhalb dieses Systems die Widersprüche und auch die Innovationsfeindlichkeit sehr klar benennen lassen. Wir können an der FFA und der dahinter liegenden Gesetzgebung, dem Filmförderungsgesetz (FFG), sehen, wohin sich die Entscheidung darüber verlagert, welche Filme gemacht werden. Es ist letztendlich immer noch die Frage danach, wo das Kapital liegt. Wir haben 60 bis 65 Prozent öffentliche Mittel in der deutschen Filmwirtschaft: 600 Millionen Euro Umsatz insgesamt, 300 bis 340 Millionen Förderung und nochmal 50 bis 60 Millionen durch öffentlich-rechtliche TV-Co-Produktionen. Wir haben aber immer nur ein Drittel frei umherfließendes Kapital, und dieses Kapital ist in den letzten 40 Jahren von den Produzenten zu den Verleihern und Verwertern gewandert.
Den Einzahlern dienen
FJ: Wie ist es denn zu dieser Verschiebung gekommen? Die Abgabe, über die die FFA ihre Mittel bezieht, wird vor allem auf Kinotickets erhoben, inzwischen auch auf Videoverkäufe, und die Fernsehanstalten zahlen ebenfalls ein. Um so eine Abgabe juristisch zu legitimieren, muss sie der Gruppe der Einzahler dienen, das nennt man Gruppennutzen. Liegt darin das Problem?
MH: Einen Gruppennutzen muss so eine Abgabe natürlich haben. Die Einzahler wollten aber von Anfang an aus dem System herauskommen und haben von Anfang an gegen die Abgabe geklagt. Weil das nicht geklappt hat, haben sie den Gruppennutzen so interpretiert, dass sie die Richtlinien des Gesetzes daraufhin verändert haben, dass sich bestimmte „Terms of Trade“ zwischen Verwertern und Produzenten etabliert haben. Diese Terms of Trade haben zuallererst jene Produzenten entkapitalisiert, die noch „kulturellere“, schwierigere Filme machen, und im Anschluss wurden dann bewusst die größeren kommerziellen Produktionsfirmen entkapitalisiert, weil das Firmen waren, die gleichzeitig eine Verleihfirma haben. Wir haben grob gesagt eine Struktur, in der der Produzent mit Eigenmitteln – fünf Prozent in der Regel – immer noch auch Kapital investieren muss, in der Verwertungskette aber erst ganz am Ende kommt. Innerhalb der Verwertungskette ist der Verleih inzwischen der wichtigste Kapitalgeber, mit seiner Minimumgarantie und der Finanzierung der Herausbringungskosten. Dadurch hat er die Macht über den Film und die Macht über die Terms of Trade, die nun so gestrickt sind, dass ein Produzent im deutschen System im Prinzip kein Geld mehr durch die Verwertung verdienen kann.
FJ: Also noch eine Abhängigkeit.
MH: Ja. Das sorgt auch dafür, dass Produzenten und Urheber für eine bestimmte Art von Film im selben Boot sitzen, in einem Boot ohne Kapital, in dem wir nicht entscheiden können, was wir machen, und in dem wir von Verleihern, Verwertern und Fernsehanstalten abhängig sind. Und dagegen sollten wir uns zusammentun. Wir haben im Bereich des kulturellen Films keine Produktionsfirma mehr, die wirklich frei entscheidet, was sie machen will. Wir sind genau in den Bereichen, die das Kino heute braucht, nur noch Auftragsproduzenten. Wir sind Auftragsproduzenten dieses Fördersystems. Auch jeder ökonomische Erfolg, den wir haben, wird von den Vertrieben, den Verwertern, abgesaugt. Und der Produzent lebt von der kleinen Producer’s Fee und den Handlungskosten. Was anderes habe ich nicht. Weil ich immer noch Eigenanteile reinbringen muss, die erst nach den Verwertern erlöst werden – und deshalb nie erlöst werden –, entkapitalisiere ich mich. Wie kann ich dann überleben? Indem ich mehr und schneller produziere. Das sind alles systemische Fehler, die aber eine einzige Auswirkung haben: Die Produzenten und Filmemacher im kulturellen Bereich haben nicht mehr genug Zeit und nicht mehr genug Ressourcen. Deswegen werden die Filme nicht so gut, wie sie werden müssten, um im Kino oder auf den Festivals international wirklich aufschlagen zu können.
FJ: Also wäre doch eine Stärkung der kulturellen Förderung zu fordern?
MH: Wir müssen meiner Meinung nach weniger defensiv sagen: Wir wollen Kultur verteidigen, wir wollen unsere eigene Förderung, und die soll dann über Gremien laufen. Ich bin der Meinung, dass die Gefahr dann zu groß ist, dass wir große Teile des Geldes, das wir für eine solche Kulturförderung bräuchten, dann verlieren werden. Die Kulturförderung könnte ruckzuck reduziert werden auf die Mittel des BKM. Denn die Länder werden bei der Standortförderung bleiben, die kann man auch politisch nicht einholen, weil das einzelne GmbHs sind, die von einzelnen Parlamenten abhängig sind. Die kulturelle Filmbranche schafft es niemals, diese fünf, sechs Länder auf Kurs zu bringen und auch noch im Bund große Teile dieses Kuchens wieder zurückzuholen. Ich bin deshalb der Meinung, dass man sich innerhalb des Systems aufstellen muss. Zwischen unabhängigen Produzenten, Urhebern und interessierter Öffentlichkeit muss man einen Begriff für die Relevanz des Films herstellen, der dann zu politischen Forderungen an die Entscheidungsträger führt. Auch auf Bundesebene bei der FFA muss die Politik der Ansprechpartner sein, weil sie als Rechtsaufsitz über das FFG wacht. Die Politik muss, wenn sie Interesse hat, das FFG und die FFA umbauen.
LHG: Ich wollte nicht fordern, dass man nun alles vierzig Jahre zurückdreht und damit bei einer rein kulturell definierten Filmförderung ankommt. Wenn ich mir das Kuratorium Junger Deutscher Film anschaue, dann ist das mehrheitlich bestimmt durch Fernsehvertreter und andere Filmförderer. Das heißt, dass sich das System selbst fördert und sich auch in der eigenen Förderung unentwegt selbst beobachtet. Es wird damit eine Art Diktatur des Mittelmaßes errichtet, weil das Fernsehen natürlich daran interessiert ist, dass die Mittel, die es reingibt, entsprechend rauskommen, vielleicht sogar noch mehr, und dass alles, was aus diesem System ausgespuckt wird, verwertbar ist – und zwar in der Logik des Fernsehens. Das ist das große Problem: Dass es abgesehen von ganz wenigen Fördertöpfen wie der „Produktion 2“ oder der „vereinfachten Förderung“ – die Titel variieren ja in der Film- und Medienstiftung NRW – oder der BKM-Förderung kaum noch Gremien gibt, in denen Fachleute unabhängig darüber befinden können, was eine künstlerische Qualität eigentlich darstellt. Alle anderen Gremien sind durch massive Interessen bestimmt. Das halte ich auch für ein Problem mit Blick auf die demokratische Legitimierung des Ganzen.
Stichwort: Gremien
FJ: Ob die Förderung durch den BKM als Ausnahme gelten kann, ist allerdings auch strittig. Mir jedenfalls wird immer wieder bestätigt, dass das so nicht stimmt; dass es auch in den BKM-Gremien feste Plätze für einzelne Verbände gibt, die nur nicht so ausgeschrieben werden. Die Verbände werden dazu eingeladen, Vorschläge zu machen, und letztlich wird immer dafür gesorgt, dass es zwischen ihnen einen Proporz gibt – obwohl es offiziell heißt, dass es sich hier um unabhängige Sachverständige handelt.
LHG: Genau deswegen habe ich ja das Beispiel mit dem Kuratorium gebracht. Bis in die Details der Richtlinien hinein werden Erwartungen formuliert. Beispielsweise das Gebot der Kinoauswertung für Kurzfilme oder die Festlegung, ein Kurzfilm habe 15 Minuten nicht zu überschreiten. Mit solchen Erwartungen wird eine bestimmte Art von Film auch ästhetisch festgeschrieben – getragen von einem höchst anachronistischen Vorfilm-Gedanken, gegen den ich mich immer schon ausgesprochen habe.
FJ: Weshalb?
LHG: Es ist einfach nicht mehr zeitgemäß, über Kinoauswertung zu sprechen. Da muss man sich in der Lebensrealität anschauen, wie heute Kurzfilme ausgewertet werden. Wenn man dieses Kinokriterium festschreibt, hat das mit der Weise, wie heute Kurzfilme entstehen und ausgewertet werden, rein gar nichts mehr zu tun. Die ganzen Richtlinien sind letztlich darauf ausgelegt, den Ausbruch aus dem System und die Innovation von vornherein zu verhindern. Letztes Beispiel: Das Gebot der deutschen Sprachfassung im FFG letzter Fassung. Man sollte nicht glauben, dass wir in einer globalisieren Welt leben. Obwohl diese Vorgabe vor Jahren schon aufgeweicht war, sprechen wir jetzt wieder Deutsch im deutschen Kino. Das finde ich wirklich reaktionär. Natürlich könnte ich über den Deutschen Kurzfilmpreis Leute reinholen und fördern – da werden ja nicht unbeträchtliche Summen vergeben –, die genau nicht der Konvention entsprechen. Aber das passiert einfach nicht. Das ist ja auch meine Kritik – und die vieler anderer – am Deutschen Filmpreis gewesen, zumindest seitdem er in der Deutschen Filmakademie beheimatet ist, – dass die Qualität eines Werks dort nicht mehr durch einen diskursiv-ästhetischen Prozess beurteilt wird, sondern durch ein Abstimmungsmodell: Wer kennt was? Da wird der bekannteste Film ausgezeichnet. Das ist, glaube ich, eine verheerende Entwicklung. Wir brauchen eine Rückkehr zu wirklich unabhängigen Gremienentscheidungen nach ästhetischen Kriterien, auch beim Kuratorium Junger Deutscher Film.
FJ: Danach sieht es aktuell aber nicht aus.
Das System kann nur implodieren
LHG: Genau das Gegenmodell wurde in jüngster Zeit durch die Entscheidungen und Neubesetzungen nochmals zementiert – anstatt zu sagen, das Kuratorium oder die BKM-Förderung stellen wir von solchen Interessen frei, oder die „Produktion 2“ bei der Film- und Medienstiftung wird geschärft, indem man die Gremien anders besetzt, die Budgets erhöht, die Richtlinien überarbeitet. Ich glaube, dass das möglich ist, denn ich sehe ein originäres Interesse der öffentlichen Hand, ja der Demokratie, dafür zu sorgen, dass dieses System – bei den immensen Mitteln, die da aufgewendet werden – offen bleibt für Innovation. Nichts gegen die netten Leute vom Fernsehen, aber das Problem geht ja schon damit los, dass in den ganzen Filmschulen lauter Fernsehleute unterrichten und Fernsehinteressen ansetzen, sodass die Filmemacher, die die ersten Anträge stellen, schon innerhalb dieses Systems denken und arbeiten. Das System kann nur implodieren, wenn es sich nicht für Innovation öffnet. Wir wissen ja aus dem Ausland, dass es Mittel und Wege gibt, genau dies zu gewährleisten. Ein letztes Beispiel: Michael Kötz hat vor ein paar Jahren in der Black Box gefordert, dass man das System dreiteilt: dass man eine ganz klar wirtschaftlich ausgerichtete Förderung hat, ein gebührenbasiertes System und eine rein kulturelle Ausrichtung. Ich glaube, dass wir besser beraten sind, das begrifflich wirklich auseinanderzunehmen, selbst wenn wir wissen, dass ein dezidiert künstlerischer Film möglicherweise auch ein gewisses kommerzielles Interesse verfolgt, das sich an der Kinokasse aber nicht materialisiert.
FJ: Wie wird denn konkret Innovation verhindert?
MH: Für mich stehen Gremienentscheidungen grundsätzlich unter Verdacht. Ich glaube, dass Film dafür zu komplex ist. Filme sind sehr schwierig zu entwickeln und es ist auch schwer zu entscheiden, was denn nun Innovation ist oder welche Innovation ich als Filmemacher oder Produzent riskieren möchte. Beim langen Spielfilm oder auch beim Dokumentarfilm verbringe ich zwei oder drei Jahre mit einem Film. Die Entscheidung, mit welchem Film ich diese Zeit verbringen möchte, die kann nur ich alleine treffen, die kann nur der Regisseur alleine treffen. Ein Autor, der sich ein Jahr lang an ein Buch setzt und damit tendenziell scheitern kann, der tendenziell dafür auch kein Geld kriegt, während er schreibt, muss das selbst entscheiden können. Ich produziere seit 30 Jahren Filme, und ich habe, als ich unsere erste Firma zusammen mit Thomas Kufus zero film genannt habe, nicht gewusst, dass sich das „zero“ darauf beziehen würde, dass ich mit jedem Film bei null anfangen muss. Mit jedem Film fange ich vor jedem Gremium wieder an, Leute zu überzeugen, die ich nie zu fassen kriege – mit einem Drehbuch, mit einem Budget, mit einem entwickelten Paket, das mich ein halbes bis dreiviertel Jahr gekostet hat, und sehe dann: Da ist ein Gremium mit zehn Leuten, acht Leuten, die haben 40 Anträge, um an einem Tag zu entscheiden, welches von diesen Projekten gemacht werden darf.
FJ: Die sind damit also zeitlich überfordert?
MH: Ja, klar. Wenn ich ein Drehbuch lese, das mir zugeschickt wird, brauche ich schon zwei Stunden, ohne dass ich groß darüber reflektiert habe. Ein Budget, an dem ich drei Wochen gearbeitet habe, wie soll das jemand in einer Stunde verstehen? Das Gleiche gilt für eine Casting-Entscheidung, die uns drei, vier Monate gekostet hat. Wie soll ein Gremienmitglied an einem Tag zwischen 40 Projekten und all diesen Elementen entscheiden? Ich kriege zwar immer Widerspruch an dem Punkt von Gremienmitgliedern, weil natürlich jeder versucht, das Beste daraus zu machen. Mir kann aber keiner erzählen, dass man jedes Drehbuch liest, wenn man in diesen Gremien sitzt. Ich behaupte, dass heute die Gremien auf der Grundlage des Bauchgefühls, des Zuredens von bestimmten Leuten, die das ein oder andere genauer gelesen haben, und einer diffusen gemeinsamen Interessenlage entscheiden. Eine typische Diskussion in einem Gremium sieht so aus: Ein paar Fälle sind eindeutig, die müssen wir machen. Dann sagt der Fernsehvertreter noch, was er unbedingt braucht, und dann heißt es: Ach Sie, von der AG Dok, einen Dokfilm wollen wir auch noch fördern, wir haben noch drei hier liegen, welchen nehmen Sie? So laufen – etwas grob überzeichnet – Gremienentscheidungen. Ich halte Gremienentscheidungen in dieser komplexen Kunstform Film für komplett überfordert.
Benachteiligte Filme
FJ: Wie entscheidend ist denn die Fördergrundlage: Drehbuch, Kalkulation, Besetzungsliste? Wird das dem Film überhaupt gerecht? Man spricht immer davon, dass man von Drehbüchern so gut schließen könnte auf Filme – ist das denn wirklich so? Benachteiligt das nicht Filme, die nicht über den Plot, nicht über die Story funktionieren?
MH: Natürlich, absolut.
LHG: Ich gebe dazu mal ein Beispiel. Ich habe hier meinen Stapel an Texten zur Filmförderung liegen. Da gibt es einen sehr schönen Text von Peter W. Jansen, Sie werden sich noch an ihn als Filmkritiker erinnern. Er hat vor ein paar Jahren im Film-Dienst einen Artikel geschrieben, in dem er die Reservierung von bestimmten Mitteln der Filmförderung für eine Art Mäzenatentum fordert. Das kann man durchaus kritisch hinterfragen, aber er nennt ein sehr schönes Beispiel aus einem Gremium, in dem er Anfang der 1970er Jahre saß. Ein Filmemacher hat ein Projekt eingereicht, ohne Drehbuch, ohne alles. Er hat nur den Roman fünf Mal geschickt, den er verfilmen will, und das war Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Der Filmemacher war Wim Wenders. Sie haben Wenders eingeladen, der hat erklärt, wie er es machen will, und er hat die Kohle gekriegt. Das wäre heute undenkbar. Und das zeigt relativ deutlich, dass dieses System an Störfaktoren gar nicht interessiert ist, es nivelliert. Dieses System ist mit dem Selbsterhalt beschäftigt, und das hat mit der Zusammensetzung der Gremien zu tun und mit den Interessen, die da vertreten werden. Deswegen fordere ich ganz massiv, dass diese Gremien anders zusammengesetzt werden. Sie haben es ja schon benannt, wie die Filmstiftung umgebaut wurde, und das auch über eine – das muss man glaube ich schon so nennen – Diskreditierungsstrategie. Ich habe das in Nordrhein-Westfalen ganz genau beobachtet. Man hat die dezidiert kulturelle Filmförderung fortwährend diskreditiert als Selbstbedienungsladen, als Gießkanne – und mit solchen Prädikaten hat man letztlich auch das ganze System ausgehebelt. Dass Filmemacher gewissermaßen auf Grundlage einer Selbstverwaltung über Filmfördermittel verfügen, das wurde diskreditiert, so dass man diese Mittel einkassiert hat. So wurde das System sukzessiv immer totalitärer. Eigentlich ist es eine Diktatur, die natürlich systemischer Natur ist und nicht dadurch bestimmt, dass einer für alle entscheidet. Die öffentliche Hand hat immer weiter Entscheidungsbefugnisse abgegeben an privatrechtlich strukturierte Körperschaften – die Film- und Medienstiftung ist ein sehr gutes Beispiel, aber im Prinzip sind mittlerweile alle so. Da muss man sich dann auch nicht wundern, wenn Fernsehsender bestimmen, wo es lang geht und dass alles wie Fernsehen aussieht im deutschen Kino.
FJ: Wenn wir über Gremien sprechen, sollten wir stattdessen vielleicht mal wieder den Begriff der Jury einführen. Es gibt in Frankreich – zum Beispiel beim Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC) – Jurys, die jährlich wechseln oder zumindest sehr oft, und in denen dafür etablierte Filmemacher sitzen, die sich für diese Aufgabe eine Auszeit nehmen, im Gegensatz zu den Gremien, die ja in der Regel über einen großen Zeitraum hinweg eine große Verpflichtung darstellen, eine größere Last für die, die das auf sich nehmen. Meine Frage geht in diese Richtung: Wie kann man den unabhängigen Sachverständigen denn definieren? Ich höre immer, dass es das gar nicht gibt, dass alle, die sachverständig sind, in diesem System seien und alles andere als unabhängig. Gibt es so etwas und wie würde man so eine Jury zusammenstellen?
MH: Wir von der AG Dok haben mit einigen anderen Verbänden zusammen bei der letzten Anhörung zur Novelle des FFG einige Forderungen gestellt, mit denen wir aber nicht durchgekommen sind: dass a) die Gremien deutlich kleiner gemacht werden – stattdessen sind sie nochmal aufgebläht worden –, und dass sie b) durch einen starken Vorsitz gestützt werden, dass dieser starke Vorsitz in die Lage gebracht werden soll, ein Jahr mal nicht arbeiten zu müssen, dass er einen gewissen Stab an die Seite gestellt bekommt, um zum Beispiel Budgets wirklich lesen zu können. Wir haben ja im Moment in jeder Förderung das große Problem, dass man nie die Summe bekommt, die man beantragt hat. Das führt dazu, dass Produzenten teurer kalkulieren, als es in Wirklichkeit nötig wäre. Gekürzt wird dann aber nicht aufgrund der Erkenntnis, dass hier im Budget etwas zu teuer ist, sondern gekürzt wird je nach Lage der Mittel. Das heißt, man möchte gerne zehn Filme mit einer Gesamtantragssumme von dreieinhalb Millionen fördern, hat aber nur zweieinhalb Millionen, also kürzt man jeden um 30 Prozent, und schon kann man zehn Filme fördern. Das bringt die Produzenten und die gesamte Produktionswirtschaft in große Probleme, weil sich die Finanzierungszeiträume verlängern oder es heißt wieder: Ich muss bei den Urhebern oder bei mir selbst als Produzent kürzen und so weiter. Mit unserer Forderung, den Vorsitz zu stärken, hängt auch zusammen, dass er Ansprechpartner der Einreichenden werden soll. Wir haben häufig die Situation, dass man mit dem Gremium überhaupt nicht reden kann. Ein ähnliches Beispiel wie das von Wenders habe ich selbst erlebt. 1988 wollte ich in Russland produzieren, da hatte es 20 Jahre keine Co-Produktionen mehr mit Westdeutschland gegeben. Ich hatte aber einen Freund, der am Gerassimow-Institut für Kinematographie (WGIK) in Moskau studierte, und ich habe in Hamburg damals noch kulturelle Filmförderung beantragt. Mit einem Drehbuch in der ersten Fassung, einem Budget und einem einzigen Besuch in Moskau bin ich vors Gremium getreten, und die haben mich gefragt, ob ich mir das zutraue und wie ich das so machen wolle, und haben mir dann das Geld gegeben. So etwas ist heute unmöglich. Man wird nicht mehr vor die Gremien geladen, man erklärt nichts mehr. Wenn man nun aber einen starken Vorsitzenden hätte, der auch Zeit dafür hätte, dafür bezahlt würde, der könnte sich um diese Projekte nochmal ganz anders kümmern.
FJ: Wie könnte so eine Vorsitz-Funktion denn aussehen?
MH: Noch ein Beispiel: Ich habe vor ein paar Jahren in Österreich in der Förderung gesessen, im ÖFI, dem Österreichischen Filminstitut – ein kleines Gremium, auch von Gruppen beschickt, muss man sagen: Regie und Drehbuch ein Platz, Produzenten ein Platz, Journalisten ein Platz und damals eben auch jemand aus Deutschland, weil Österreich und Deutschland viel coproduzieren. Dadurch bin ich in das Gremium geraten. Das waren also mit dem Vorsitzenden zusammen sechs Leute, und der Vorsitzende hatte eine doppelte Stimme. Bei Patt konnte der Vorsitzende quasi den Ausschlag geben. Viel wichtiger ist aber, dass dieser Vorsitzende, der dort auch der Direktor der Filmförderung ist, am Anfang des Jahres – und das ist für mich eine kleine Erklärung für den starken künstlerischen österreichischen Film –, seine zehn bis fünfzehn Produzenten, die künstlerische Filme machen, einlädt, und er fragt sie: „Was ist euer Projekt für dieses Jahr? Was ist das Projekt, auf das ihr euch am meisten fokussiert? Was ist das Projekt, bei dem ihr wirklich gut ausgestattet sein müsst?“ Das wird benannt, das wird erläutert, und dieses Projekt erfährt dann in der Gremiensitzung eine ganz andere Aufmerksamkeit. Für andere Projekte muss dieser Produzent dann ganz normal beantragen. Als Produzent weiß ich dann aber: Mein Projekt, an dem ich möglicherweise schon zwei Jahre sitze, bevor ich in die Finanzierung gehe, wird gemäß dem Einsatz, den ich, die Autoren, die Regisseure schon geleistet haben, auch behandelt und beurteilt. Das heißt nicht, dass es automatisch gefördert wird, aber es kann schon mal nicht sein, dass es geschmäcklerisch zwischen drei anderen Projekten unter den Tisch fällt. Entweder gibt es wirklich massive Widerstände der Jury, dann kann man diese kommunizieren. Dann werden sie vom ÖFI aus eingeladen und gefragt: „Wie kann das sein, dass so ein Drehbuch für einen neuen Film von XY jetzt schon in die Förderung kommt? Das muss weiterentwickelt werden.“ So etwas ist hier undenkbar. Hier ist man in der Masse von 40 bis 60 Projekten drin, man weiß nicht, wer da eigentlich drin sitzt im Gremium, weil die auch mit Stellvertretern arbeiten, man kann keinen ansprechen, man hat keinen Vorsitzenden, den man ansprechen kann. Man kann eigentlich nur abgeben, hat was mit Sachbearbeitern zu tun, die noch darauf hinweisen, dass irgendein Letter of Intent fehlt. Den reicht man dann nach, hört sechs Wochen nichts, und dann liest man es in der Zeitung. Es gibt noch ein paar Förderungen, die rufen an, da kriegt man dann noch ein Wort mit, warum es nicht geklappt hat, aber auch das vermeiden die Förderungen zunehmend. Das heißt, es ist ein komplett anonymer Apparat, und da bin ich der Meinung, da wäre ein Automatismus dann besser.
Der Normierungsdruck beginnt immer früher
LHG: Was die Gremienbesetzungen anbelangt: Wer wüsste besser als ich, dass man Juryentscheidungen natürlich auch durch die Auswahl der Juroren in eine entsprechende Richtung lenken kann. Ich kann mir in Oberhausen, bei einem Programm, das schon dezidiert künstlerisch ausgerichtet ist, nicht Leute aus der Filmwirtschaft reinsetzen, die wissen gar nichts damit anzufangen. Dass es so ist, dass die Leute natürlich mit ihrem eigenen Geschmack, mit ihrem Background in Jurys gehen, heißt ja noch lange nicht, dass alles relativistisch so sein müsste, dass diese Jurys nicht unabhängig sind. Abhängig werden die Gremienmitglieder ja dadurch, dass sie institutionelle Interessen vertreten und dadurch dieses ästhetische und handwerkliche Mittelmaß etablieren. Das ist ja das große Problem. Im Übrigen ist es so, dass die „Produktion 2“ bei der Film- und Medienstiftung NRW jährlich die Gremien neu besetzt – die haben festgehalten an diesem Prinzip –, wohingegen die Besetzung der „Produktion 1“ auf mehrere Jahre festgeschrieben ist und damit auch ganz klar institutionelle Interessen willentlich abgebildet werden. Das ist ja auch Sinn und Zweck der Übung. Stephan Brüggenthies, Vorsitzender des Filmbüros Nordrhein-Westfalen, bringt in einem Gespräch mit Ellen Wietstock das Beispiel, dass die Film- und Medienstiftung jetzt schon versucht, die Abschlussfilme zu kassieren, indem sie die Entscheidung über die Produktion von Abschlussfilmen in die Filmförderung reinholt. Das heißt, dass institutionelle Interessen entscheiden sollen, wer überhaupt einen Abschlussfilm macht und mit welchem Geld ausgestattet etc. Der Normierungsdruck beginnt immer früher.
FJ: Ist diese Entwicklung unvermeidbar?
LHG: Nein. Wenn ich mir heute oder morgen vornehme, ein bestimmtes Gremium von institutionellen Interessen freizustellen und dezidiert künstlerisch auszurichten, dann kann ich das sehr wohl tun. Das ist überhaupt kein Problem. Aber da kommt man zu dem Punkt, dass Politik und Verwaltung ein enormes Stabilisierungsinteresse haben. Das System möchte sich immunisieren gegen Störungen. Das ist das ganze Prinzip der Großen Koalition und der Alternativlosigkeit, das wir gerade durchleben. Die wollen nicht, dass der Fall auftritt, den sie nicht kontrollieren können, auch das künstlerische Ergebnis, das möglicherweise etwas infrage stellt. Die wollen kein Risiko. Das soll seinen Gang gehen und der Politik die geeigneten Repräsentationsflächen bieten. Eine Änderung kann ich nur erreichen, wenn ich in den Gremien Leute drin sitzen habe, die genau solche Interessen nicht verfolgen.