Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ist möglich – aber nur, wenn beide Seiten auf ihre Opferrolle verzichten. Was würde gewesen sein, wenn der israelische Ministerpräsident zu Beginn seiner Rede auf der Gipfelkonferenz in Scharm al-Scheich sich an das palästinensische Volk gewendet und erklärt hätte, Israel anerkenne das Leid, das dieses Volk erlitten habe, und werde seinen Teil der Verantwortung dafür übernehmen? Welchen Einfluß hätten solche einfachen und direkten Worte auf die palästinensische Öffentlichkeit, und wie würden sie die künftige israelische Verhandlungsposition schwächen oder stärken?

Und wie würde es auf die Israelis wirken, wenn der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde am Anfang seiner Rede sein Mitgefühl für die Leiden der Israelis in diesem jahrelangen Konflikt ausgedrückt und, einfach und direkt, die Verantwortung für den Anteil der Palästinenser daran anerkannt hätte? Kann man sich überhaupt einen solchen Moment vorstellen, erscheint er möglich in dem Wust von Misstrauen und Feindseligkeit, in dem beide Seiten gefangen sind?

Selbstverständlich hätte ein solcher Schritt einen höchst konkreten Preis: Schon in Camp David versuchten die Palästinenser, jedem Kapitel ihrer nationalen Tragödie „Preisschilder“ anzuheften.
Die israelischen Verhandlungspartner hingegen entdeckten, dass für jedes Haus und jedes Viertel in Jerusalem, aus dem die Palästinenser 1948 geflohen waren, bereits fertig berechnete Entschädigungstarife vorlagen, ebenso wie für jedes Dorf, aus dem sie vertrieben worden waren, und für jeden Menschen, den Israel während des gesamten Konflikts getötet hatte.

In einem endgültigen Friedensabkommen könnte allerdings auch Israel detaillierte Entschädigungsforderungen für all das vorlegen, was die Palästinenser den Israelis seit Beginn der Konfrontation zwischen den beiden Völkern angetan haben, und solche traurigen „Preisschilder“ gäbe es für alle Gewaltaktionen der Palästinenser, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Abschuss der Kassam-Raketen auf Sderot, ganz zu schweigen von dem großen jüdischen Besitz, der in den arabischen Ländern zurückgeblieben ist.

Aber das Schwerste an der Anerkennung der Leiden des Feindes und der Übernahme von Verantwortung dafür ist vielleicht gar nicht der wirtschaftliche Verzicht, sondern die Tatsache, daß jede Seite davon abrücken müsste, sich als wahres und einziges Opfer des Konflikts zu betrachten. Denn zweifellos verleiht die Opfersicht gleichermaßen dem israelischen wie dem palästinensischen Volk Kraft, Motivation, Rechtfertigungsgründe und ein Gefühl innerer Einigkeit, vor allem aber verschafft erst sie den Anschluß an die historische Identität, die – bei beiden auf unterschiedliche Weise – aus dem Empfinden entstanden ist, vom Schicksal unentrinnbar zu Opfern bestimmt zu sein.

Doch gerade deswegen könnte eine solche Präzedens schaffende Erklärung heilende Wirkung auf die beiden Völker ausüben. Denn wer bereit ist, seinen »Alleinanspruch« auf die Opferrolle in dem Konflikt aufzugeben, hat sich schon von dem lähmenden Defätismus befreit, der in der exklusiven und ewigen Opferhaltung ruht. Und wer nach generationenlanger Weigerung fähig ist, seine Verantwortung für das Leid, das er seinem Feind zugefügt hat, anzuerkennen (was er letzten Endes ohnehin wird tun müssen), der wird schnell entdecken, dass seine Einstellung zu dem ganzen Konflikt nüchterner und realistischer geworden ist. Auch die sonstigen zur Debatte stehenden Streitpunkte wären dann etwas weniger aufgeladen, weniger symbolträchtig und »mythologisch«, dafür aber sehr viel menschlicher und daher auch viel leichter zu lösen.

Ein Aufruf des israelischen Staatschefs an die palästinensische Führung, die gegenseitigen Leiden anzuerkennen und die Verantwortung für das zu übernehmen, was die beiden Völker einander angetan haben, könnte möglicherweise mit einem Schlag ins Herz des Konflikts vordringen und einen der heikelsten Punkte angehen, die einer Lösung entgegenstehen und schon jahrelang die Feindschaft und Kompromisslosigkeit befeuern. Letzten Endes kennen die meisten Palästinenser und Israelis schon jetzt die Grundlinien des Schlussabkommens und die Grenzen der beiderseitigen Verzichtsleistungen. Was dem ganzen Prozess jedoch den so dringend benötigten emotionalen Anstoß geben könnte, wäre eine wirklich große und großzügige menschliche Geste, hoch über dem kleinlichen Feilschen, das die übrigen Verhandlungsbereiche kennzeichnet.

Wollen wir dies nicht vergessen: Hinter dem zähen Gerangel um einen freizulassenden Gefangenen mehr oder weniger, um einen oder zwei weitere Kilometer, die zurückgegeben werden sollen, hinter alldem verbirgt sich eine tiefe, doppelte Wunde, die Wunde der palästinensischen Schmach, die Wunde der israelischen Schmach, die Schmach des Leids, das niemals anerkannt worden ist, die Schmach des Lebens, das verloren – und dahinging in diesem Konflikt, der längst hätte gelöst werden können, wären beide Völker nur mutiger gewesen und großzügiger miteinander umgegangen. Wären doch beide Völker bereits so weit sagen zu können: Wir jedenfalls werfen ihn nicht mehr, den ersten Stein – Keiner hat keine Schuld!

 

Jan 2014 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton, Sapere aude, Zeitgeschehen | 1 Kommentar