Von mir aufgefordert, mich zu beschreiben, zu schreiben, wer ich bin, beginne ich zu straucheln wie ein – gestern gerade einen hier in meinem Grabengassen-Hofgarten gesehen – Tausendfüßler, der erklären soll, wie er seine Gehbewegungen koordiniert. Wer sich fragt, sage ich mir, wer er sei, der ist ja schon halbwegs neurotisiert; er gerät sich selbst ins Gehege beim Bemühen um eine Antwort.
Verpflichte ich mich schonungsloser Wahrheitssuche, gerate ich allzuleicht in Gefahr, mich exhibitionistisch oder auch masochistisch aufzuführen. Trachte ich hingegen danach, aus meiner Existenz das Beste zu machen und darzustellen, idealisiere und stilisiere ich mich unangemessen und belüge mich selbst ebenso wie andere. Was also tun? Es gibt nur einen Weg aus diesem Dilemma, nämlich wie ich meine diesen: sich selbst als Einzelschicksal nicht allzu wichtig zu nehmen und sich stattdessen zu fragen, was möglicherweise charakteristisch gewesen sei im eigenen Leben und Erleben für die Kennzeichnung der Zeit, in der man seine Erbsenzählereien verbrachte und noch verbringt.
Wer bin ich? I c h jedenfalls weiß es nicht!
Wahrscheinlich werde ich es nie wissen, obgleich ich mich ein Leben lang bemühe, dem zu ähneln, der ich zu sein vorgebe und das dann auch glaube. Wer sich nun aber seiner sicher zu sein meint, weiß nicht nur nicht viel über sich, sondern schon gar nicht, dass er nichts weiß. Wie sonst aber könnte ich sicher sein? Weist doch jede Existenz Abgründe auf, die Schauder erregen. Sie machen uns bewusst, dass uns das Menschliche keineswegs eingeboren ist, sondern dass wir (alle) es in einem immer währenden Prozess Tag für Tag und Stunde für Stunde selbst herstellen und behaupten müssen. Wäre dem so nicht, brauchten wir wir dann Religion, Metaphysik, Kunst, Ethik und Gesetz, uns vor uns selbst und unsresgleichen zu behaupten? Jeder lebt mit dem beträchtlichen Restrisiko der Barbarei, das er seit Urzeiten mit sich herumschleppt. Dies Restrisiko stellt doch schon seit Jahrtausenden die eigentliche Bedrohung der Menschheit dar: der Mensch ist des Menschen ärgster Feind. Und dennoch glauben wir an das Gute im Menschen und ignorieren sehenden Auges die bedenklichen Risse der menschlichen Psyche, die bereits die nächsten Katastrophen ankündigen. Warum tun wir das? Sind wir so dumm, so vertrauensselig , so illusionsbesessen oder gar so verlogen und masochistisch, dass wir alle Warnungen in den Wind der Unvernunft schlagen?
Der Versuch eines Selbstporträts also: Ich schaue in den Spiegel und versuche, mir selbst zu begegnen. Sieben Jahrzehnte irdischen Daseins, eine Kumulation von Atomen und Molekülen auf Zeit, ein organischer Kosmos, einfach organisiert und kompliziert gleichermaßen, ebenso flexibel wie störanfällig. Selbstverwirklichung? Wer verwirklicht sich schon selbst? Wer vermag das zu tun? Wir leben in der Zeit, die Zeit lebt dich und mich, sie bleibt immer Sieger: jeden Tag stirbt jedes Individuum einem Tod entgegen, wer spricht von Wiederkehr? Kein Atom geht verloren, die, nennen wir das mal so, Schöpfung kann sich das nicht leisten, deshalb quirlt unentwegt die vorhandene Materie mit der vorhandenen Energie: e = mc hoch 2 – Lichtjahre blinken uns jede Nacht an, Millionen und Milliarden Lichtjahre. Es ist kaum fassbar: Eine Lichtsekunde misst mehr als 300 000 Kilometer. Chronos krümmt sich zur Kugel, ein Häkchen werden jedoch, das will er nicht. Panta rei – alles fließt, aber es bleibt in der Kugel. Der Mensch – „die Krone der Schöpfung“ – jedoch krümmt sich beizeiten; er versucht wegzuschlüpfen unter der Zeit und sich einzuhaken als Ich, das sich vor dem Universum behauptet. Worin aber und wozu? Dass ich im Mai 2014 für den Gemeinderat auf der Liste der FWV – der Freien Wähler-Vereinigung – in Heidelberg kandidiere (was alle meine Freunde für absolut und völlig meschugge halten, was ich insofern nachvollziehen kann, dieweil ich jahrelang die Sitzungen für den Mannheimer Morgen abgesessen habe und mithin sehr genau weiß, was mich – werde ich gewählt – erwartet), jedoch halte ich es nicht mehr aus, was da (siehe auch unser Beitrag „Gemeinderat desaströs“) getan und nicht getan und wie da gelogen und getrickst wird …
Zurück: erst mal blickt mir aus dem Spiegel ein Fragezeichen entgegen, und ich frage mich – mal immer und aber jedenfalls immer mal wieder: Was bedeuten meine Jahre, gemessen etwa am Abendstern und der Galaxie? „Der Gestirne Himmel über mir“ – und Faust in mir: Welch ein Widerspruch, den sich die Schöpfung mit dem Menschen erlaubt! Sie lässt ihn wissen, dass er – eigentlich – nichts wissen kann, und sie ermuntert ihn dennoch, die Felsbrocken hochzustemmen an der Steilwand der Erkenntnis wie weiland Sisyphos? Glück? Der Zufall täuscht es gelegentlich vor, um den Erdenwurm nicht völlig verzweifeln zu lassen an dem Auftrag, den das Schicksal ihm zuweist.
„Das Leben währet siebzig Jahr, und wenn es hoch kömmt achtzig“. Fazit: Mühe und Arbeit (hab schon aufgepasst, dass das nicht zuviel geworden ist), im Schweiße seines Angesichts versucht der Mensch Mensch zu werden. Oder zu bleiben. Und ich kucke nochmal in den Spiegel und sage dem Kerl, der da rausschaut: Mach hin Alter! Hast nicht mehr viel Zeit! Und dann, dann habe ich den Spiegel von der Wand genommen. Und in die Ecke gestellt … Jürgen Gottschling (tno & got)
28.Dez.2013, 13:34
Jürgen Gotschling fragt in seinem Selbstporträt mit in die Ecke gestelltem, aber nicht umgedrehtem Spiegel:
„Wer bin ich?“
Und gibt die Antwort selbst (nicht):
„I c h jedenfalls weiß es nicht.“
Mit A. Rimbaud möchte ich die Frage anders beantworten:
„Ich ist ein Anderer.“
Und zur Frage des Glücks im Schluss des tennonischen Beitrags möchte ich mit Franz Schubert antworten:
„Da, wo du nicht bist, ist das Glück.“
Kleines Rätsel: Woran erkennt man, dass dieser letzte Satz nicht so gemeint ist, wie er jetzt gemeinhin verstanden werden dürfte?
Beste Grüße
Fritz Feder
28.Dez.2013, 16:43
Danke, Fritz Feder,für die Blumen! Des Rätsels Lösung erkennt man unschwer, liest man das ganze (von Franz Schubert 1816 wunderschön vertonte) Gedicht des Georg Philipp Schmidt von Lübeck:
Des Fremdlings Abendlied (Der Wanderer)
Ich komme vom Gebirge her
Die Dämm‘rung liegt auf Wald und Meer;
Ich schaue nach dem Abendstern
Die Heimath ist so fern, so fern.
Es spannt die Nacht ihr blaues Zelt
Hoch über Gottes weite Welt,
Die Welt so voll und ich allein,
Die Welt so groß und ich so klein.
Sie wohnen unten Haus bei Haus,
Und gehen friedlich ein und aus;
Doch ach, des Fremdlings Wanderstab
Geht landhinauf und landhinab.
Es scheint in manches liebe Thal
Der Morgen- und der Abend-Strahl,
ich wandle still und wenig froh,
und immer fragt der Seufzer: wo?
Die Sonne dünkt mich matt und kalt,
Die Blüthe welk, das Leben alt,
Und was sie reden, tauber Schall,
Ich bin ein Fremdling überall.
Wo bist du, mein gelobtes Land,
Gesucht, geahnt und nie gekannt?
Das Land, das Land so hoffnunggrün,
Das Land, wo meine Rosen blüh’n?
Wo meine Träume wandeln geh’n,
Wo meine Todten aufersteh’n,
Das Land, das meine Sprache spricht,
Und alles hat, was mir gebricht?
Ich übersinne Zeit und Raum,
Ich frage leise Blum‘ und Baum;
Es bringt die Luft den Hauch zurück:
„Da, wo du nicht bist, ist das Glück!“
Und, zu guter Letzt: Den Spiegel hab ich sehr wohl umgedreht, was ich, da hast Du recht, allerdings zu erwähnen vergessen habe. Und ach ja, das „Da, wo Du nicht bist, ist das Glück“, hat mich – weil man (woran in diesem Fall in der Tat dieser Herr Kant die Schuld trägt) auch anders nicht nicht sein kann – nun zu einer eigenen Lyrik zum Thema verführt:
Es war einmal ein „Ding an sich“,
das dachte an sich wie ein Ich.
„Ich halte keinem Urteil stand,
denn Schuld an mir ist nur Herr Kant.“
Es überlegte her und hin
und kam zum Schluss, „dass ich nicht bin,
denn wär ich wer, könnt man mich sehn
und grade dies kann nicht geschehn.
Vom Ding entkleidet bin ich nackt,
mein „An-sich“ macht mich zum Abstrakt.
Nur so ist meines Daseins Sinn,
dass es entsteht, wo ich nicht bin.“
Weil es im Grübeln sich verfing,
geriet ganz außer sich das Ding:
„und da ich keine Lösung hab`,
seh ich von nun an von mir ab.
Dann wird mich keine Sorge treiben
und Kant kann mir gestohlen bleiben.“
So endete das Ding an sich.
Die Nachwelt (hoff` ich) trauert fürchterlich.
Beste Grüße
tno/gott
15.Mrz.2014, 20:16
Ich wollt, ich wohnt´ in Heidelberg, und dürfte Sie in den Gemeinderat wählen!
Bleiben Sie dran, Herr Gottschling
Beste Grüße
Mareike Köhler