Helden des Angriffs gibt es sowohl, wie es Helden des Rückzugs gibt. Und es gibt Menschen, die keins von beiden sind und die dann am Ende doch noch irgendwie zu Helden werden – weil sie es verstehen, böse Niederlagen in recht glanzvolle Siege umzumünzen. Sigmar Gabriel ist ein solcher Überraschungsheld.
Neben der zähen Machttechnikerin Angela Merkel (CDU) und dem bauernschlauen Horst Seehofer (CSU) ist er der dritte und vielleicht wichtigste Architekt der dritten großen Koalition, auf die sich die – so die Basis mitspielt – bundesrepublikanische Sozialdemokratie einlassen will. Ohne den Spötter und Stichler in ihm ganz verbergen zu können, hat er am Morgen nach durchverhandelter Nacht das Ergebnis müde, ungewohnt ernst und vor allem sehr selbstbewusst vorgetragen. Selten ist es jemandem gelungen, aus einem so schlechten Wahlergebnis wie dem der SPD vom 22. September derart viel herauszuschlagen. Das anfängliche Zögern, das Gabriel mit einer gewissen Lust zelebrierte, hat sich gelohnt. Die Union hat ihren größten Wahlerfolg seit langem nicht triumphal in Regierungshandeln verwandeln können.
Schon vor einem Jahr – da sprach er noch tapfer sein rot-grünes Sprüchlein in die Mikrofone – konnte man aus Gabriels körpersprachlicher und mimischer Reaktion auf die Frage nach einer möglichen großen Koalition ablesen, dass ihm diese schon damals willkommen, ja höchst willkommen war. Das hat politische wie persönliche Gründe. Politisch wäre ihm – was Wunder – das Bündnis mit den Grünen ein saurer Apfel gewesen. Zwar ist Gabriel, hier durch und durch Sozialdemokrat, sehr wohl geübt im Gestus der moralischen Überlegenheit – er ist aber geerdet und in den Fährnissen des normalen Lebens erfahren genug, um den Auserwähltengestus, den die Grünen bis zur Bundestagswahl kultiviert haben, ärgerlich, unerträglich und anmaßend zu finden. Es gibt Schöneres, als mit Frau Göring-Eckardt am Kabinettstisch zu sitzen.
Hinzu kommt, dass Gabriel ein Sozialdemokrat der Mitte, genauer: der rechten Mitte ist. Dazu passt die Partei recht gut, der die nach links hin sehr offene Angela Merkel vorsitzt. Hier ist man gewissermaßen unter sich: die Gründungspartei der Bundesrepublik und die Partei, die später für soziale und ostpolitische Korrekturen sorgte. Trotz aller Häutungen, die beide Parteien hinter sich haben, atmen sie noch immer den Aufbaudunst der Republik, den unbedingten Aufbauwillen, der lieber ein paar Bruttoregistertonnen zu viel als zu wenig bewegt. Beide Parteien sind Fortschrittsparteien und darin – trotz Energiewende – recht unbekümmert. Dass diese Haltung einmal sehr erfolgreich gewesen war, das ist ihnen in den Kleidern hängen geblieben.
Aber auch das Persönliche spielt – ein wenig hässlich formuliert – bei Gabriel eine Rolle: seine Karriereplanung. Es gab einmal eine SPD-Troika, die aus den Herren Lafontaine, Scharping und Schröder bestand. Sie ging sowohl politisch wie auch persönlich krachend in die Brüche. Und das warf kein gutes Licht auf die Fähigkeit der deutschen Sozialdemokratie, jenem Wert innerparteilich gerecht zu werden, den sie der ganzen Gesellschaft anempfahl: der Soli dari tät. Nun hat es eine zweite Troika gegeben, bestehend aus den Herren Gabriel, Steinbrück und Steinmeier, auch sie ist nicht mehr. Das Ende dieses Männerbundes, der keiner war und vielleicht auch deswegen zeitweise so harmonisch anmutete, verlief aber ohne dramatische Blessuren, ohne Meucheleien auf offener Bühne. Es war ein Kabinettstück, und die wichtigsten Fäden zog dabei Sigmar Gabriel.
Keine Frage, Gabriel will der vierte sozialdemokratische Bundeskanzler Deutschlands seit Gründung der Bundesrepublik werden. Wie einer seiner zeitweiligen Förderer einmal sagte: Dafür hat er Zeit, Lebenszeit. Denn er ist jünger als seine Mitbewerber aus der Troika. Dass Frank-Walter Steinmeier, der Wahlverlierer von 2009, die Qualitäten des aggressiven Angreifers fehlen, das war bekannt. Peer Steinbrück besaß sie – es war aber von Anfang an fühlbar, dass er die Wahl 2013 nicht würde gewinnen können. Auch deshalb ließ Gabriel ihm freundlich lächelnd den Vortritt. Seine Zeit würde noch kommen.
Nun kam sie schneller, als alle – womöglich außer ihm – gedacht hatten. Gabriel hat, wie der Kanzlerkandidat Steinbrück, im Wahlkampf vieles falsch gemacht. Seit dem 22. September aber hat er, einem guten Instinkt für den Kairos folgend, fast nur richtige Entscheidungen getroffen. Obwohl er wusste, welch bittere Medizin die große Koalition für große Teile der noch immer in Rechts-links-Schemata empfindenden SPD-Basis sein würde, hat er sich sofort für die Machtoption entschieden – dem Rat des christlich-demokratischen Fuchses Giulio Andreotti folgend: Die Macht beschädigt den, der sie nicht hat. Und wie es aussieht, hat sich Gabriel von Anfang an für den schwierigen Weg – den der offenen Konkurrenz zur Union – entschieden.
Aus der Wahlniederlage von 2009 hätte Gabriel mit gutem Grund die Konsequenz ziehen können, es lohne sich für die Sozialdemokratie nicht, in alter Patriotentradition die schweren Aufgaben einer Koalition zu übernehmen – um dann dafür von den eigenen Anhängern bestraft zu werden. Gabriel hätte also dafür sorgen können, dass die SPD in der neuen großen Koalition für die gefälligen Themen und für Wohltaten zuständig sein soll. Doch er hat das Gegenteil getan: Er hat die SPD als Partei der Gestaltung, nicht der Ausgestaltung in Stellung gebracht. Auf dem Parteitag hat er das so formuliert: Die Partei darf nicht nur den Betriebsrat spielen, sie muss auch ins Management. Es liegt auf der Hand, dass er sich damit über kurz oder lang mit der Obermanagerin Angela Merkel anlegen würde.
Gabriel sagt gerne, dass er Angela Merkel sympathisch finde. Tatsächlich ist er ihr nicht unähnlich. Das hat man lange deswegen übersehen können, weil Gabriel als Parteivorsitzender immer wieder gerne den wenig berechenbaren, aus der Fülle des Gefühls handelnden Springteufel gab. Der ist er sicher auch – doch er ist auch ein Mann des Abwartens, eher des Wägens, als des Wagens der späten, dann aber mit strenger Konsequenz durchgezogenen Entscheidung.
Noch hat er nicht erkennen lassen, welche Politik eine SPD betreiben wird, der die Rolle des Betriebsrats Deutschlands nicht genug ist. Als er am Mittwoch mit den beiden anderen Parteivorsitzenden den Koalitionsvertrag vorstellte, bemühte er gegen Ende kurz die 150 Jahre alte Tradition der deutschen Sozialdemokratie und stellte das große Wort Fortschritt in den Raum der Bundespressekonferenz. Es spricht einiges dafür, dass hier seine Leidenschaft liegt. Der Mann, dessen Examensarbeit den Beitrag der Büchergilde Gutenberg zur Arbeiterbildung in der Weimarer Republik behandelte, möchte, dass die SPD wieder die Partei der Zukunftszuversicht, auch der Freude an Technik und Innovation wird. Davon redet er in kleinen Runden seit Jahr und Tag. Wie er als Bundesumweltminister Jürgen Trittins Politik fortsetzte, so findet er Angela Merkels kopflose Energiewende im Prinzip richtig – trotz der Gefahr der Deindustrialisierung, die er selbst beschwört. Zwar weiß Gabriel – der seinen Lebensmittelpunkt bewusst nicht in Berlin, sondern in der Goslarer Provinz hat – ganz genau, dass der deutsche Staat nicht zu schwach, sondern zu kompetenzüberladen ist. Dennoch hat er Hand in Hand mit den Rundum-Etatisten Merkel und Seehofer ein Programm beschlossen, das die Grenzen der Wirksamkeit des Staates beträchtlich ausweitet. Zumindest dies kann man sagen: Er hat den neuen sozialdemokratischen Begriff des Fortschritts noch lange nicht ausbuchstabiert.
Bei der Vorstellung einer Biographie des – Anfangs seiner Amtszeit stimmte noch: „Genosse Bischof“) Theologen Wolfgang Huber hat der überzeugte Lutheraner Sigmar Gabriel einmal gesagt: „Ein noch so festes Wertefundament hält im Alltag nicht immer.“ Wollte damit etwas für einen Sozialdemokraten nicht Selbstverständliches ausdrücken?: „Du bist nie ganz gefeit, alle Versicherungen und Sicherheiten haben Grenzen. Du kannst fallen“. Gabriel ist entschieden – und dann doch wieder so unentschieden und vieldeutig wie die Wirklichkeit. Das macht ihn sympathisch und rätselhaft zugleich. Darin erinnert er – postheroisch ausgenüchtert – ein wenig an Willy Brandt. T. S.