Sascha Lobo: Die Phalanx der Abwiegler, Herunterspieler und Ungerührten formiert sich. Ist doch nicht schlimm, wenn die Geheimdienste uns überwachen, sagen sie. Dabei verkennen sie die Dimension dessen, was uns droht: Wer Daten abzweigt, kann sie auch manipulieren.
Egal, welchen Verlauf die Aufdeckung der Radikalüberwachung noch annimmt – der schlimmste Satz dazu ist bereits gefallen. Der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz erklärte zum Asylantrag des Whistleblowers Edward Snowden: „Ich kann nicht erkennen, dass der Mann politisch verfolgt wird.“ Dieser Satz steht in seiner offensiven Realitätsverleugnung exemplarisch für alles, was katastrophal falschläuft, sowohl mit der Geheimdienstmaschinerie wie auch mit der politischen Behandlung des Falles.
Dabei war der Ekelsatz-Wettbewerb hart umkämpft. Neben einigen nicht zu Ende lesbaren Absurditäten in Medien des Angela-Springer-Verlags dekretierte eine Anzahl 70(!)-jähriger Männer, man solle sich nicht so haben. „Tagesspiegel“-Kolumnist Harald Martenstein verschmolz Faktenaversion mit sensationell selbstgerechter Onkeligkeit und schrieb: „Die Amerikaner tun also nichts, was Tausende Deutsche in ihrer Familie nicht auch tun: Sie spionieren.“ Als wären Privatpersonen und Staaten auch nur ironisch vergleichbar. Aber selbst gegen diese ahnungsarmen Appeasement-Attacken sticht Wiefelspütz‘ Satz heraus. Nach unten.
Zu propagieren, es handele sich im Fall Snowden nicht um politisch motivierte Verfolgung, lässt nur eine Interpretation zu: dass verdachtsunabhängige, totale Überwachung in Demokratien irgendwie okay sei. Das ist keine Meinung, das ist eine Kapitulation.
Für Prism- und Tempora-Verteidiger gibt es offenbar kein Zuviel an Überwachung, solange sie von der „richtigen“ Seite ausgeht. Wirtschaftsspionage wird dabei bizarrerweise ausgeblendet und zwar von exakt den Leuten, die sonst keine Gelegenheit auslassen, dem Standort Deutschland ein Tempelchen aus pathetischen Worten zu errichten.
Die Krise der Demokratie hat sich am Internet entzündet
Es geht bei diesem Grundrechte-Skandal nicht um konservative oder progressive Einstellungen und auch nicht mehr um die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Die ausufernde Spionagemaschinerie ist keine Krise des Internets, sondern eine Krise der Demokratie, die sich am Internet entzündet hat.
Ein international vernetzter Überwachungsapparat ignoriert die Maßstäbe der Demokratie. Das ist doch nichts Neues, rufen im Chor diejenigen, die keinen Unterschied erkennen wollen zwischen eigenen, langjährigen Vermutungen und handfesten Beweisen. Und diejenigen, die aus unterschiedlichsten Gründen beschwichtigen wollen. Sie liegen falsch, und das hängt mit der Entwicklung der Technologie zusammen, die wenige Kommentatoren berücksichtigen. Sei es, weil sie mit ihrem Faxgerät ohnehin nie Intimitäten versenden, oder weil sie die Wonne des Recht-gehabt-habens lieber öffentlich auskosten, als lautstark zu protestieren.
Die Totalüberwachung der digitalen Sphäre muss schon deshalb gestoppt werden, weil ihr Potential ständig wächst. An der University of Washington wurde kürzlich WiSee vorgestellt, eine Software, die ohne Zusatzgerät die Gestensteuerung in der gesamten Wohnung ermöglicht. Ein Wink mit der Hand – und die Musik wird lauter. In jedem Haushalt senden viele Geräte mit ihren W-Lan-Antennen ständig elektromagnetische Wellen aus. Jeder Körper, jede Bewegung lenkt diese Wellen auf spezifische Weise ab, und das ist messbar. WiSee scannt die gesamte Wohnung und alle Bewegungen darin ungefähr wie eine Fledermaus, nur mit W-Lan statt mit Ultraschall.
Noch ist das ein universitärer Prototyp für harmlose Zwecke, aber wenn eine heimlich auf dem Router installierte Software ausreicht, um jede Bewegung innerhalb einer Wohnung aufzuzeichnen – weshalb sollte diese famose Spähmöglichkeit in Zukunft nicht genutzt werden?
Eine völlig neue Dimension des Missbrauchs
Damit einher geht eine bisher kaum geführte Diskussion. Nachrichtendienste haben offenbar einen umfassenden Lesezugriff. Was aber ist mit einem Schreibzugriff? Projekte wie der Bundestrojaner zeigen, dass Datenmanipulation für Nachrichtendienste nichts grundsätzlich Unvorstellbares ist. Es ergibt sich so eine völlig neue Dimension des Missbrauchs. Prism und Tempora dürfen nicht nur vor dem aktuell bekannten Stand der Technologie diskutiert werden. Die zukünftige Entwicklung muss mitberücksichtigt werden, ohne sich in Verschwörungstheorien zu verlieren.
Es geht um die Frage, ab welchem Punkt sich ein Rechtsstaat durch systematische, heimliche Überwachung selbst pervertiert. Die Antwort darauf ist nicht trivial. Aber wer diese Frage angesichts der Enthüllungen durch Edward Snowden gar nicht erst diskutieren möchte, weiß entweder nicht, wie tief die digitale Vernetzung bereits in das Leben ausnahmslos aller Menschen eingreift. Oder er verhält sich antidemokratisch, indem er ohne umfassende Kenntnis der Vorgänge und Technologien vorauseilend Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausstellt.
Aber selbst diese Naivität ist nachvollziehbarer, als im Fall Snowden kein politisches Problem und die Verfolgung als nicht politisch motiviert zu sehen. „In der Bundesrepublik werden die Bürger nicht ‚ausspioniert‘. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein hochentwickelter Rechtsstaat“, schrieb Dieter Wiefelspütz am 25. Januar 2008 im Zusammenhang mit der Online-Durchsuchung. Es wäre außerordentlich schnafte, wenn diese Sätze demnächst wieder Gültigkeit erlangen würden.
tl;dr
Internet-Überwachung ist ein politisches Problem. Und es wird durch die technologischen Möglichkeiten immer größer.