„Kaum war er aufgewacht“, heißt es in Iwan Gontscharows Roman „Oblomow“, „als er auch schon die Absicht fasste, aufzustehen, sich zu waschen, und wenn er Tee getrunken habe, gründlich nachzudenken, dies und das zu überlegen, Notizen zu machen und sich überhaupt ordentlich mit der Sache zu befassen. So lag er etwa eine Stunde da, quälte sich mit dieser Absicht, überlegte dann aber, dass er dies alles auch nach dem Tee machen könne …“
Der träge Gutsherr Oblomow ist der wohl bekannteste Aufschieber der Weltliteratur, der kaum etwas geregelt kriegt und dem Selbstdisziplin ein schreckliches Fremdwort ist. Gontscharows zeitgenössische Leser sahen in Oblomow Mitte des 19. Jahrhunderts den Repräsentanten einer untergehenden Klasse, während das psychopathologische Verhalten des seltsamen Helden heute vor allem zur Charakterisierung eines verbreiteten Krankheitsbildes dient. Oblomow hat meist nicht die Kraft, etwas zu tun, leidet aber auch schwer am Lassen.
„Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne“, schreiben Kathrin Passig und Sascha Lobo zu Beginn ihres Buches über Prokrastination, deren Wortbedeutung aus dem Lateinischen stammt: Crastinus heißt, dem morgigen Tag zugehörig, und prokrastinieren, im Englischen erstmals 1588 erwähnt, bedeutet wörtlich übersetzt: für morgen lassen. Genau das ist es, was Oblomow den ganzen langen Roman über tut.
In seinem Gefolge befinden sich Millionen von Menschen, die ihr Studium nicht beenden, Probleme mit der Steuererklärung haben, im Müll ihres Haushalts versinken oder die Post ungeöffnet liegen lassen. Das Glück über die Freiheit von lästigen Arbeiten hält sich in Grenzen, und nicht selten klopft das Aufgeschobene als Leiden an der eigenen Untätigkeit wenig später wieder an.
Weil das Autorenduo nicht dauernd das eher umständliche Wort Prokrastination verwenden wollte, hat es sich für die Formel „Lobo“ entschieden, hinter der sich nicht nur der Name eines der beiden Autoren, sondern auch die Abkürzung für den Lifestyle of bad organization verbirgt. Drittens kann man darin ein Anagramm aus Teilen des Namens Oblomows entdecken, was Passig und Lobo zwar nicht eigens erwähnen, aber gewiss als pure Absicht nicht verleugnen würden. Soviel Komplexitätsreduktion glückt bisweilen auch dem gelassensten Prokrastinierer.
„Dinge geregelt kriegen“ ist denn auch alles andere als ein Stück Betroffenheitsliteratur. Mit den Mitteln des Ratgebers ziehen die Autoren gegen die Strategien der Ratgeber zu Felde. Gegen die Triumphe der Simplify-Methoden empfehlen sie gepflegtes Verkomplizieren. Vereinfachen gilt nicht, in der Vielfalt der Überforderung winkt die kreative Lösung. Nur wer viel anfängt, kann auch an vielen Stellen weitermachen.
Im Kontext der Ratgeberliteratur, die auf das individuelle Leiden an den Überforderungen des Alltags reagiert, kann man Passigs und Lobos Hinweise als paradoxe Intervention lesen. Gegen die Übercodierung von To-do-Listen empfehlen sie Liegen und liegen lassen und das Warten auf den richtigen Moment. Wer tiefer eingearbeitet ist in die Materie des gekonnten Aufschiebens, kann bald Erfahrungen mit wundersamen Selbstheilungen machen.
Gut möglich, dass technisch defekte Geräte wieder zu laufen beginnen, wenn man ihnen nur etwas Zeit lässt. Und nichts ist erhebender als die Folgenlosigkeit, die aus einer zuvor beklemmenden Unterlassung hervorgeht. „Überraschend oft passiert gar nichts Grässliches, wenn man seine Aufgaben schlicht ignoriert.“
Man könnte es dabei bewenden lassen und „Dinge geregelt kriegen“ als amüsantes Handbuch für die Besänftigung der eigenen Willensschwäche lesen. Längst deutet sich aber an, dass geschicktes Prokrastinieren zur überlebenswichtigen Kompetenz werden kann. Während in den Arenen der Selbstoptimierung, die Schönheitsfarm oder Fitnesscenter, aber auch Managerschulung heißen, mit dem erschöpften Selbst (Alain Ehrenberg) Jo-Jo gespielt wird, ist Prokrastination die Übungseinheit für brachliegende Talente. Wo das geregelte Leben selbst verschwindet, wird Improvisieren zur attraktiven Kulturtechnik. Glaubt man der Legende, dann ist das Penicillin nur deshalb erfunden worden, weil sein Erfinder am Abend vorher die angelegten Pilzkulturen nicht aufgeräumt hat. Na also, geht doch …
Der Lobo ist am Ende wohl kein Vademecum für Schlampen, Sitzenbleiber und Hängertypen. Das Geheimnis des Bleibenlassens besteht in dem unerschöpflichen Reservoire späterer Anschlussmöglichkeiten. Prokrastinierer dürften noch viel zu tun haben beim Untergang von Finanz- und anderen Systemen.