Was ist von einem zu halten, der sich und alle anderen von dunklen Mächten umstellt sieht? Und eine Wunderwaffe gegen diese Mächte empfiehlt, im Falle des Scheiterns jeder Gegenwehr, gar zur „Selbstzerstörung“ aufruft? Im ersten Reflex mag man denken: Der muss verrückt sein. Was aber ist, wenn dieser jemand – die Rede ist vom Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, und seinem neuesten Buch „Cypherpunks“ – sich mit dem Alarmruf in bester Gesellschaft befindet? In Gesellschaft von renommierten Hirnforschern, Qualitätszeitungs-Herausgebern und Sozialwissenschaftlern, die ebenso wie Assange die Digitalisierung unserer Zivilisation als Maschinerie der Massenverblödung und Gegen-Aufklärung verdammen? Sind die dann auch alle verrückt? Zumal Verrückte ja gern alle anderen für verrückt oder zumindest zu Opfern allmächtiger Kräfte erklären. Und was ist, wenn Verrückte doch einmal recht haben?

Zu allen Zeiten standen am Rande von Kulturrevolutionen, wie die Digitalisierung eine ist, Mahner und Warner. Selbst ernannte Propheten, die Zeter und Mordio schreien und sich die Arme dabei ausrenken, den Zug der Zeit am angeblich unweigerlichen Sturz in den Abgrund vorbeizuwinken. Aus der Zeit gefallene Existenzen, wie zum Beispiel heutzutage der Papierzeitungs- Herausgeber eine ist. Untergangspropheten, die keinen Unterschied zu machen wissen zwischen der Gewissheit des eigenen Endes und dem Ende alter Gewissheiten. So wie heute mitunter Zettelkasten- Intellektuelle alten Schlages mit nur allzu berechtigter Angst vor dem eigenem Statusverlust Brandbriefe gegen die digitale Zeitenwende verfassen.

So einer aber ist Julien Assange gerade nicht. Im Gegenteil. Die Internetrevolution hat Julien Assange als Person der Zeitgeschichte ja geradezu geboren. Wenn nun so einer ausgerechnet vor den Geistern warnt, die ihn selber riefen, ist das ein guter Grund, die Katastrophenmeldung näher zu betrachten.

Assanges Grundthese ist folgende: Das Internet, so führt er in seinem als Gesprächsprotokoll angelegten Buch aus, wird vom „Staat“ zur Totalkontrolle missbraucht. Wenn wir das nicht verhindern. Wir, das sind alle Internetbenutzer. Unter der Führung von Assange und seinen „Cypherpunks“, (engl. „cypher“, dt. Chiffre) frei übersetzt: den Verschlüsselungs-Punks, einer Avantgarde des Digitalzeitalters, die Chaos in das Kontrollwesen tragen soll. Assanges Vademecum aller bürgerrechtlichen Gegenwehr ist die Verschlüsselung. Damit die Mächtigen in Staat und Wirtschaft nicht mitlesen können und keine Steuerungsmacht über den Netz-Bürger erhalten. Denn das wollen sie, die Mächtigen, sagt Assange. Dafür nennt er viele Belege. Und die scheinen so gar nicht aus der Phantasiewelt eines Ent- oder Verrückten zu stammen. Sie sind höchst real.

Da sind die immer ausgefeilteren Abhörtechniken für die weltweiten Datendienste, die Bewegungsprotokolle aller Handy-Besitzer, die riesigen Datenspeicher der Geheimdienste für den weltweiten E-Mail-Verkehr. Da sind die Sondergesetze, die praktisch jedermann, auch in demokratischen Musterstaaten, zum Freiwild der staatlichen und privatwirtschaftlichen Datenjäger machen. Da ist der Technologietransfer von Abhörtechnik aus den Demokratien zu den Unterdrückern aller Herren Länder. Das kann einen in der Tat das Fürchten lehren. Doch seltsam: Gegen diese systematische Durchleuchtung, der wir tatsächlich im Internetzeitalter ausgesetzt sind, begegnet Assange mit einer Art paradoxer Intervention: Der Wikileaks-Chef, Vorreiter schrankenloser Transparenz, empfiehlt uneingeschränkte Intransparenz – die Verschlüsselung sämtlicher Kommunikation. Jeder soll sich selbst und alles, was er zu sagen hat, zur Geheimsache erklären.

Ein weiterer Widerspruch ergibt sich mit Blick auf die Folgen dieser Strategie: die kryptografische Aufrüstungsspirale infolge einer solchen Verschlüsselungskampagne. Schließlich kann man jeden Code knacken, das ist nur eine Frage des Aufwands. Das ist ein Wettlauf, den der gewinnen muss, der die meisten Ressourcen hat – und im hoheitlichen Auftrag auch einsetzen wird. Der „Staat“ also.

Die größte Schwäche von Assanges Plädoyer aber liegt in seinem stärksten Argument, nämlich dem eigenen Verfolgungsschicksal. Die Jagd nach Assange infolge der Veröffentlichung von US-Botschaftsdepeschen mutet in der Tat erschreckend an. FBI und CIA gründeten Sonderermittlungsgruppen. Finanzdienstleister trockneten Wikileaks durch Blockierung der Spendenflüsse aus. Ohne Rechtsgrundlage. Assange sah sich nach Ermittlungen gegen seine Person – seiner Meinung nach Folge von Denunziation – als Vergewaltiger zur Flucht in die Londoner Botschaft Ecuadors gezwungen, weil er die Auslieferung in die USA befürchtet, wo ihm die Todesstrafe drohen könnte. Beschränkt auf ein Zimmer dieser Botschaft sitzt er dort nun unter strengster Bewachung, seit neun Monaten.

Kann man aus diesem Sonderschicksal allgemeingültige Schlüsse ziehen? „Wir haben die Aufgabe, so weit wie möglich unsere Selbstbestimmung zu verteidigen und dem kommenden Überwachungsregime zu trotzen – oder wenn alles andere scheitert, seine Selbstzerstörung zu beschleunigen“, schreibt Assange. Und man fragt sich, ob er noch bei Ersterem, oder schon beim zweiten Schritt angekommen ist, so dunkel, ja verschlüsselt wirken seine Worte.

Verschlüsselung in ihrer höchsten Form verbirgt die Botschaft selbst vor ihrem Verfasser, was letztlich das Ende aller Kommunikation bedeutet. Und die extremste Form von Einsamkeit. Burn before reading. Womit wir wieder bei Assange in seinem Exil wären. Es ist eine realexistierende Negativ-Utopie des Digitalzeitalters, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, das Schicksal von Assange. Umzingelt vom „Staat“, Bewegungsspielraum nahe null. Das kann einen schon verrückt machen. Aber bleibt ein so Umstellter theoriefähig? Und dennoch, auch diese Frage bleibt: Was wäre, wenn ein Verrückter trotzdem recht hat?

„Cypherpunk – Freedom and the future of the Internet“ von Julian Assange, Andy Müller-Maguhn, Jeremie Zimmermann und Jacob Appelbaum, Campus 2012

Jun 2013 | Allgemein | Kommentieren