Die Jugend vor hundert Jahren: Welchen Einfluss hatte die deutschen Jugendbewegung, fragt eine Essaysammlung.
Es war eine erhabene Formel, die sich die Jugend gab, doch „eigene Bestimmung“, „innere Wahrhaftigkeit“ und „innere Freiheit“ bedeuten verschiedenen Menschen verschiedene Dinge. So war das Treffen am Hohen Meißner nicht nur der Höhepunkt, sondern in vielerlei Beziehung auch das Ende der deutschen Jugendbewegung. Ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg und die Schlacht von Langemarck, die zum Mythos wurde. Die Zeit danach, bis 1933, stand im Zeichen der Bünde, während der Wandervogel eher individualistisch war. Gewiss, man übernahm manche Formen und bestimmte Inhalte (die Fahrten, Lieder und Lagerfeuer), aber die Unterschiede zwischen den beiden Bewegungen waren groß. Die Jugendbünde im Nachkriegsdeutschland nahmen natürlich auch einige der ursprünglichen Traditionen an, doch sie lebten in einer anderen Zeit, und ihre Auflehnung gegen die Welt der Eltern war eine ganz andere als die der Jugend von 1913.
Die Erinnerung an die Jugendbewegung und das Jahr 1913 wird noch immer wach gehalten. Genau einhundert Jahre nach dem Treffen am Hohen Meißner finden verschiedene Konferenzen zum Thema statt. Auch erscheinen neue Bücher über die Jugendbewegung. Der Sammelband „Jugendbewegt geprägt“, den Barbara Stambolis herausgegeben hat, ist wohl der umfangreichste und wichtigste in der Reihe der Neuerscheinungen. Folgende Fragen beantwortet Stambolis mit Hilfe dieses Buches: Wie bedeutend war die Jugendbewegung? In welchem Ausmaß und in welcher Hinsicht hat sie zwei Generationen junger Deutscher geprägt? Stambolis präsentiert eine Sammlung von Essays, die sich mit dem Lebenslauf von etwa siebzig Menschen befassen. Allen gemeinsam ist, dass sie in ihren jungen Jahren in irgendeiner Weise zur Jugendbewegung gehörten. Dabei handelt es sich um Politiker wie etwa Willy Brandt, um Wissenschaftler wie Werner Heisenberg, um Philosophen, Theologen, Pädagogen und Schriftsteller, um nur einige zu nennen.
Einen gemeinsamen Nenner für ihre Wege im späteren Leben wird man kaum finden: Während einige ihrer Mitglieder sich den Herren des Dritten Reiches anbiederten, wie etwa der Lyriker Hermann Claudius („Wann wir schreiten Seit an Seit“ und „Herrgott steh dem Führer bei“), wurden andere Kommunisten. Die Mehrzahl hatte nur wenig mit Politik zu tun. Walter Benjamin nahm ebenfalls an dem Treffen auf dem Hohen Meißner teil. Ernst Jünger wäre beinahe gekommen. Beide werden in diesem Buch genauso porträtiert wie der Sozialdemokrat und letzte Kultusminister der preußischen Regierung, Adolf Grimme.
Die vielen unterschiedlichen Lebenswege sind nicht überraschend, wie während der Lektüre der Beiträge zu Recht herauskommt, denn die Jugendbewegung wollte ein neues Reich der Jugend schaffen, aber keine neue Weltanschauung. Sie kritisierte die Schule und Familie und war unzufrieden mit den Lebensformen der wilhelminischen Zeit. Auch sprach sie von einer neuen Jugendkultur und wollte ein besseres Leben. Vorschläge für eine neue politische Religion aber gab es nicht.
Glaubte sie an die Möglichkeit, einen neuen Menschen zu formen? Ich erinnere mich an eine lange Unterhaltung mit einem der Jugendbewegt-Geprägten. Es war in Washington um das Jahr 1975 herum, gegen Ende von Maos Kulturrevolution. Am Rande einer Konferenz saß ich zusammen mit dem Publizisten Klaus Mehnert (auch einer derjenigen, welche in diesem Buch ausführlich beschrieben werden). Mehnert war Russland-Experte, gerade aus China gekommen, wo er die Jahre des Zweiten Weltkriegs verbracht hatte. Mehnert versuchte mich davon zu überzeugen, dass es Mao Zedong gelungen sei, einen neuen Menschen zu schaffen. Meine Skepsis prallte an ihm ab. Er hatte das Land gesehen, er war überzeugt, dass Maos Mission gelingen würde. Ich staunte ob so viel Glauben an die Dehnbarkeit der menschlichen Natur. Freilich wusste ich, dass es in der Mehnertschen Familie eine Tendenz gab, einem Propheten Glauben zu schenken. Sein Bruder, der im Krieg fiel, war Privatsekretär und Faktotum Stefan Georges gewesen. Gleichzeitig aber glaubte ich, in seiner Haltung etwas Jugendbewegtes zu erkennen, einen gewissen romantischen Zug – positiv und naiv zugleich, der Glaube, in der Jugend die ewige Glückschance der Menschheit zu sehen.
Die Jugendbewegung war eine Art Kulturrevolution. Solche Ereignisse hat es seitdem immer wieder gegeben: 1968 etwa im Umfeld der Universitäten, obwohl sich die Jugendbewegten der Vorkriegszeit mit Schrecken von dieser Art von Jugendkultur abgewendet haben. Auch die Grünen in ihrer Frühphase und die „Piraten“ gehören wohl irgendwie dazu. Aber im Vergleich zu der ursprünglichen Jugendbewegung scheinen sie doch beschränkter und deutlich weniger interessant.
Heute ist wieder die Rede von einer Radikalisierung der Jugend als Folge der hohen und steigenden Jugendarbeitslosigkeit. Doch die Bedingungen und die Zielsetzung sind ganz andere in einer Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Der Wandervogel und die Bünde dachten nicht an ihre persönliche Zukunft, sie war ihnen gleichgültig, oder aber sie nahmen sie als selbstverständlich an. Sie glaubten an ein genügsames, einfaches Leben. Geld spielte keine Rolle. Für die „wilden Gesellen vom Sturmwind durchweht, die Fürsten in Lumpen und Loden“ hatte Geld etwas Verächtliches. Außerhalb Deutschlands hat man die hiesige Jugendbewegung nie recht verstanden. Ich erinnere mich an ein Gespräch bei einem Abendessen mit einem englischen Minister in den Sechzigerjahren, kurz nach dem Erscheinen meiner Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Mit gespieltem Ernst wollte der Kenner Deutschlands wissen, ob es denn stimme, dass der Wandervogel der Zusammenschluss von zwei verschiedenen Bewegungen gewesen sei: von der einen, die wanderte, und der anderen, die vögelte.
Sicher jedenfalls ist: Die Jugendbewegung ist gescheitert. Auch Stambolis‘ Buch lässt daran keinen Zweifel. Und doch – wie das lateinische Sprichwort sagt: In großen Dingen mag es genug sein, gewollt zu haben.
Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 819 S., 74,99 €.
Rezension von Walter Laqueur, einem der bis heute maßgeblichen Kenner der Jugendbewegungsgeschichte