Jedes Argument gegen einen EU-Beitritt der Türkei sei ein Argument für den EU-Beitritt der Türkei! Für wen auch immer es noch so schwer fällt. Es ist den liberalen Kräften eine große Hilfe, im Hinblick darauf Überzeugungsarbeit leisten zu können!
Eigentlich ist doch der Türkeibeitritt ein alter Hut. Bereits seit dem Assoziationsabkommen von 1963 besteht offiziell die türkische Beitrittsperspektive; mit der Zollunion, vom Dezember 1995 wurde sie abermals bekräftigt. 1997 bestätigte der Europäische Rat, dass die Türkei als Mitglied prinzipiell in Frage kommt.

Doch nun, nach über 40 Jahren, ist plötzlich (wieder) von einer „türkischen Bedrohung“ die Rede. Die Gefahren sollen vor allem in der Regierbarkeit der EU liegen, im geostrategischen Faktor und in der islamischen Kultur – wobei die islamische Kultur durchaus bereit ist, sich der unseren anzunähern.

Bange Fragen allüberall

Ist es nicht doch aber so, dass nicht nur hierzulande sondern auch in der Türkei – unter den islamisch-traditionellen Bürgern jedenfalls – bange Fragen auftauchen: Natürlich wird auch darüber gesprochen, ob, wenn die Türkei irgendwann in die EU aufgenommen werden sollte, die Türkei ihre Kultur würde bewahren können? Oder diese, ob man die islamische Religion werde aufgeben müssen? Alledem hält der türkische Ministerpräsident Recep Tayip Erdogan entgegen (und versucht so die Gemüter zu besänftigen): Man wolle sich schließlich nicht assimilieren, sondern integrieren. Sollte also die EU der Türkei  ein Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nennen, könnte Erdogan den islamisch-traditionellen Flügel in seiner Partei an den Rand drücken und die (seine!) Partei mit einer unverwechselbaren Identität als Volkspartei rechts von der Mitte in die nächsten Wahlen führen. In Anlehnung an Martin Luther King schwärmte Erdogan in einer Rede jedenfalls schon von einer Türkei, deren Wohlstand jeden Bürger erreicht. Sollte das EU-Projekt scheitern, würde das Gewicht des islamischen Flügels wieder wachsen. Es drohten Abspaltungen. Bruchlinien in diese Richtungen sind heute schon auszumachen, hingegen verläßt keiner ein Schiff, solange es auf Erfolgskurs segelt. Bei Gegenwind könnte sich das rasch ändern.

Und, umso weniger, als Erdogan für die Partei AKP beansprucht, mit seiner konservativen Volkspartei rechts von der Mitte als eine islamisch-demokratische Partei nach dem Vorbild der chsritlichen Demokraten Europas zu gelten, versteht er die Hinhaltetaktik der Angela Merkel – was Wunder – schon eben darum nicht. Jedoch spricht auch die Schwesterpartei der AKP, sprich(t) die CDU über die europäische Zukunft der Türkei längst nicht mehr mit nur einer Zunge – der Streit geht weiter: Derweil etwa der damalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Rühe, der ehemalige Hamburger Bürgermeister von Beust sowie der frühere Generalsekretär Polenz einen EU-Beitritt der Türkei befürwortet hatten, verteidigen der außenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion Pflüger und der europapolitische Sprecher Hintze die ablehnende Haltung der Vorsitzenden Merkel – die schließlich eine „Unterschriftenaktion für die von ihr angepeilte „Privilegierte Partnerschaft“ vom Zaun bricht, womit sie zugleich bricht mit dem Versprechen Helmut Kohls, eine Vollmitgliedschaft für die Türkei anstreben zu wollen.

Besonders für (die gerade demonstrierenden) jungen Muslime wäre ein „europäischer Islam“ eine Möglichkeit neue, friedlichere Wege als ihre Eltern gehen zu können und trotzdem ihren Glauben und ihre Tradition zu respektieren und zu leben. Sicherlich wäre es einfacher, sich von den Problemen der arabischen Welt fernzuhalten. Doch diesen Gefallen wird uns die arabische Welt nicht tun. Wenn Europa den Beitrittsverhandlungen der aktuellen Probleme wegen nicht zustimmt oder das „Ja“ zu einem Beitritt allzu lange verzögert, werden die fundamentalistischen Kräfte des Islam an Zulauf gewinnen und die Türkei würde sich systematisch von Europa entfernen. Die Türkei mit einer „privilegierten Partnerschaft“ als knurrenden Nachbarn vor der Türe stehen zu lassen ist die eigentliche Gefahr für Europa.

Das Argument, daß Europa den Beitritt der Türken nicht mehr verkraftet, wirkt dabei fadenscheinig. Die Behauptung, daß sie dann zu einem überdehnten und handlungsunfähigen Subjekt heranwachse, wirkt im Hinblick auf die Osterweiterung, bei der immerhin zehn neue Staaten dazu kamen, unglaubwürdig. Denn selbst wenn ein Land wie die Türkei nach der Osterweiterung für Europa nicht mehr tragbar ist, so bleibt doch verwunderlich, warum man den Oststaaten einen Beitritt eher zugestanden hat als der Türkei, welche die älteren Rechte aufweist.

Einwände und Ängste

Häufig erwähnt findet sich auch der Einwand, die Türkei gehöre rein geographisch gar nicht zu Europa. Jedoch basiert die Europäische Gemeinschaft primär auf politischen Fakten – und nicht auf geographischen Faktoren.
Am kontroversesten wird es, wenn man sich dem kulturellen Aspekt zuwendet. Die Angst vor dem Islam, einer fremden Kultur, besteht mehr denn je. Stimmen werden laut, die darauf pochen, das wirtschaftlich und politisch verbundene Europa auf die christliche Kultur und das Abendland zu beschränken. Die Türkei jedoch, und das wird immer wieder vergessen, vertritt trotz Vielerlei und Alledem einen gemäßigten Islam. Sie darf nicht mit den erstarkenden fundamentalistischen Strömungen im Nahen Osten gleichgesetzt werden. Die vertraglich eingebaute Notbremse bei EU-Beitrittsverhandlungen gibt zwar die Möglichkeit, bei Menschenrechtsverletzungen die Verhandlungen auszusetzen; dennoch wäre es – und gerade gerade jetzt – falsch, alle Brücken abzubrechen. Erdogan hat – zwar – mit seinem Verhalten gezeigt, dass er (er!) noch nicht reif für die EU ist. Jedoch setzen die nicht nur jungen Demonstranten andere Zeichen. Wir in Europa müssen jetzt alles dransetzen, die wachgewordene, sich öffentlich artikulierende Zivilgesellschaft als Gegengewicht zur Exekutive zu stärken.

Aber, Philipp Melanchton wußte ja bereits, daß es sich bei den Türken um die Endzeitvölker Gog und Magog handele, angetreten, gegen die christliche Kirche zu kämpfen, da können sich doch wahrlich EX „Genosse“- Bischof Huber und Bischof Lehmann heute nicht einfach  für einen EU-Türkei-Beitritt aussprechen …

Jedoch funktioniert auch eine Huber-Lehmannsche heute an etwas anderen Glaubenskriterien festgemachte Argumentation nicht nur beim künftigen EU-Land Bulgarien nicht mehr, wo 84% der Bevölkerung orthodoxe Christen sind und immerhin 12% muslimischen Glaubens, sondern genausowenig eben auch für die Türken. Auch mit Hinblick auf die bereits rund 20 Millionen Muslime, die in der EU arbeiten und leben, stellt sich die Frage: Sind sie etwa Bürger zweiter Klasse? Will man ihnen (so) signalisieren, dass sie eigentlich nicht erwünscht sind? Die korrekte Integration seiner muslimischen Bürger ist für die europäischen Staaten eine Schicksalsfrage. Ein Ausschluß der Türkei aus religiösen Gründen hätte eine verheerende Signalwirkung.

Nachdem es für die rheinischen Bauern vor Jahrhunderten schon einem Evangelium gleich feststand, daß Türkenpferde eines Tages aus dem Rhein saufen und an die Pfeiler des Kölner Domes angebunden sein würden, kam es dann doch ein klein wenig anders: Erst einige hundert Jahre später gelangten „die“ Türken nach Köln, nicht aber als Eroberer, sondern als (ja: erwünschte) Gastarbeiter.

Türken sind gleich Türken

Es muß jedoch auch gesagt werden dürfen, daß wir es bei diesen Zuwanderungen vorwiegend mit Unterschichten zu tun haben, die zu einem großen Teil aus den rückständigen Gebieten im Osten der Türkei stammen. Der deutsch-türkische Schriftsteller Zafer Senocak vermutet wahrscheinlich mit einigem Recht, dass – zum Beispiel – die Gängelung junger türkischer Frauen durch ihre Familien heute ein Phänomen deutscher und nicht mehr türkischer Großstädte ist. Und, dass das Problem weniger ist, dass da eine Unterschicht eingewandert ist, sondern dass sie hierzulande (weshalb auch immer) Unterschicht geblieben ist. In der Bundesrepublik nämlich ist nur wenig vom Einfallsreichtum zu spüren, der zurzeit die Wirtschaft in der Türkei florieren läßt.

Der durch unzureichende Kenntnis der Sprache und fehlende Berufsausbildung einer Mehrheit der Türken in Deutschland entstandene Circulus vitiosus muß durchbrochen werden, innerhalb dessen mangelnde Qualifikation erst einmal mit angeblicher Diskriminierung durch die Deutschen entschuldigt wurde – und die daraus erwachsende Aggressivität vornehmlich junger Türken führte dann in der Tat zu deren Ablehnung. Daran jedoch trägt die geringe Förderung durch die türkischen Eltern zumindest ebenso viel Schuld, wie unterlassene Hilfestellung mancher deutscher Schulen und Behörden.

Da helfen nun aber keine Schuldzuweisungen, sondern nur Kurskorrekturen – zum Nutzen beider Seiten.
Und hier muß vor allem die deutsche Seite (und das zu tun, dürfen wir nicht springerstiefelauftretendem rechten Pack überlassen) den Mut haben, den Betroffenen zu erklären, daß sie diese Form der Einwanderung nicht mehr integrieren und finanzieren kann (kann!). Sie muß dem Prinzip der von den Türken verehrten ehemaligen Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John folgen, nach dem man „knickrig bei der Vergabe von Geldzuwendungen sein muß, aber großzügig bei der Förderung“. Wir dürfen uns nicht länger scheuen, das Bleiberecht vom erfolgreichen Besuch von Integrationskursen abhängig zu machen. Wozu nicht nur die Pflicht zum Deutschunterricht zu gehören hätte, sondern auch die Vermittlung und Anerkennung von drei Grundwerten: Schulpflicht, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Trennung von Staat und Kirche. Wenn nämlich alles so bleibt, wie es ist, werden unsere türkischen Mitbürger am Ende nirgendwo dazugehören.

Europa und die Türkei

Dabei wird Europa und insbesondere Deutschland von der Türkei wie eine Art Zuglokomotive betrachtet – so ist das Land am Bosporus unter den wichtigsten deutschen Handelspartnern. Vor allem Englands Premierminister Blair und Bundeskanzler Schröder („die Fronten“ hatten sich damals zum Unguten bewegt) traten geschlossen für die Türkei ein und unterstützen diese Erwartungen. Dabei handelte es sich nicht um eine blinde Unterstützung seitens der beiden Regierungschefs. Die Türkei stand und steht vielmehr vor einer strengen Aufnahmeprüfung. Europäische Politiker waren und werden immer noch nicht  müde, Premier Erdogan aufzurufen, alles zu unternehmen, um die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen.
Denn die Spielregeln für die Türkei sind klar definiert. Wie für jedes andere Land werden auch hier die Kopenhagener Kriterien als Grundlage für die Betrittsverhandlungen dienen. Sie sorgen für institutionelle Stabilität und garantieren die demokratische Ordnung, die Wahrung von Menschenrechten sowie den Schutz von Minderheiten.
Die türkische Regierung setzt seit der Anerkennung als Beitrittskandidat im Jahre 1999 alles daran, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Mit den sieben Harmonisierungspakten, welche die Regierung bis jetzt umgesetzt hat, sind große Schritte in Richtung EU getan worden. Die wichtigsten Änderungen sind (sollen jedenfalls sein) die Abschaffung der Todesstrafe, die Gleichberechtigung der Geschlechter, Schutz vor Folter und die Ausübung der Meinungsfreiheit. Die türkische Regierung zeigt sich bemüht, alle politischen Einflüsse des Islam auf die Politik zu unterbinden, so ist z.B. (hierzulande ist das längst nicht usus) auch das strikte Kopftuchverbot in allen öffentlichen Gebäuden, ein Zeichen für die prowestliche Haltung der Türkei.

Die Türkei als Brücke

Doch es geht um mehr als nur um die Heranführung der immer noch rückständigen Volkswirtschaft der Türkei an die EU. Es handelt sich vor allem um eine strategische Entscheidung, die in Brüssel getroffen werden muß. Die Türkei kann in dem immer härter werdenden Konflikt zwischen islamischen Ländern und dem Westen eine Leitfunktion übernehmen. Sie könnte zur Brücke zwischen dem Westen und dem Nahen Osten werden, und so eine politische Stabilisierung der islamischen Krisenherde unterstützen.

Es muß (zumal nach einigen Vorstößen der Angela Merkels) befürchtet werden, daß  das Thema Türkei in den angesagten  Wahlkämpfen die alten Unions-Themen „Asyl“ und „Ausländer“ ersetzt; allemal kann es noch stärker, als dies einst ausländerunfreundlliche Wahlkämpfe getan haben, Emotionen wecken. Und diese Absicht könnte dann seriöser gekleideter einherkommen, als die Parolen vom vollen Boot es je sein konnten: Es darf mit der Sorge um die Zukunft Europas gespielt werden und an die Stelle des Griffs in den rechtsradikalen Wortschatz darf der Griff in die europäische Geschichte getan werden: Die Abwehr der Türkengefahr hat hier noch immer eine große Rolle gespielt …

Prinz Eugen wird also vermutlich per Griff in die europäische Geschichte zum vermeintlichen Mitstreiter der CDU-Parteivorsitzenden gemacht. Und so werden dann die alten Schlachten neu geschlagen.
Aber: Ist es nicht gerade die Idee der Europäischen Union, eben jene Kräfte zusammenzuführen, die dermaleinst gegeneinander Krieg geführt haben? Europa ist nicht die Renovierung der Kreuzfahrerfestungen von Akkon, Trapesac und Tortosa, ist nicht die Wiederauferstehung der Ritterorden der Templer, der Calatreverser und Johanniter – Europa, das ist ein Projekt der gemeinsamen Zukunftsgestaltung.

Die Frage hat längst nicht mehr zu sein, ob die Türkei zu Europa gehört – sondern allenfalls, wie sie dazugehört und wie man sie annimmt. Es wäre ein innenpolitisches und gesellschaftspolitisches Fiasko, wenn die Debatte über den Beginn der Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei so geführt würde, daß die Millionen türkischstämmiger Menschen in Deutschland und Europa dies als Mißtrauensvotum betrachten müßten. Ohne stabile Türkei wird es keine stabile EU geben. Die Türkei als Puffer zwischen Europa und den Nahen Osten schieben zu wollen, wie das Angela Merkel mit ihrem Vorschlag getan hat, ist in einer Weise naiv, daß selbst Angela Merkel das nicht wirklich wollen können dürfen sollte.
Schon alleine die Aussicht auf Aufnahme der Verhandlungen hat in der Türkei zu einem liberalen, rechtsstaatlichen und ökonomischen Aufbruch geführt. Europa hat aus leidvoller Geschichte gelernt, daß man mit Kreuzzügen nur verlieren. kann.  Derweil sich der „dabblejiu-amerikanische“ (so von ihm genannte) „Versuch der Demokratisierung im Irak“ per Kreuzzug zum voraussehbaren Desaster entwickelt hat, scheint in der Türkei das Experiment einer friedlichen, von der EU angeschobenen Demokratisierung zu gelingen. Möge – hofft Jürgen Tenno Gottschling – das Projekt Türkei (ex occidente lux) Leuchtturmprojekt für den Orient sein …

Jun 2013 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, Zeitgeschehen | 12 Kommentare