Als Sarah Kirsch Anfang der Siebziger ihren Gedichtband „Zaubersprüche“ veröffentlichte, wurde Lyrik vielleicht ein letztes Mal in Deutschland als Macht erlebt. Und doch: „Schon in ihren frühen Gedichten war nicht jede Ausweglosigkeit politischer Natur. Die berühmten ‚Schwarzen Bohnen‘ der ‚Zaubersprüche‘ waren auch ein Sinnbild des weltvergessenen Zustands rasender Verliebtheit. Von Sarah Kirsch stammen einige der schönsten und ausgelassensten Liebesgedichte deutscher Sprache, das frühe ‚Dann werden wir kein Feuer brauchen‘ etwa oder ‚Die Luft riecht schon nach Schnee‘, das mit den Zeilen endet: ‚Schnee fällt uns/ mitten ins Herz, er glüht/ Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel‘.“
Sarah Kirsch, die Erneuerin deutscher Naturlyrik

Sie war eine der bedeutendsten Dichterinnen deutscher Sprache: Sarah Kirsch, die 1977 von der DDR in die Bundesrepublik übersiedelte, erneuerte die Naturlyrik. Sie starb im Alter von 78 Jahren.
Sarah Kirsch begann mit dem Gedichteschreiben in einer Zeit, in der Lyrik in Deutschland vielleicht zum allerletzten Mal Macht hatte. Eine Macht über die Leser, die in ihren Bann geschlagen wurden. Und eine reale Macht, die allein darin bestand, dass die politischen Machthaber ihr misstrauten. „Zaubersprüche“ hieß der Gedichtband, der Sarah Kirsch in der DDR 1973 zu einer mächtigen Lyrikerin machte.
„Nachricht aus Lesbos“ hieß einer der bekanntesten Texte darin: „Ich weiche ab und kann mich den Gesetzen/ Die hierorts walten länger nicht ergeben:/ Durch einen Zufall oder starren Regen/ Trat Wandlung ein in meinen grauen Zellen/ Ich kann nicht wie die Schwestern wollen leben“. Die Distanzierung einer Frau von den in ihrer Welt herrschenden Überzeugungen bezog jeder Leser sofort von der Antike auf die sozialistische Gegenwart.
Schon wenige Jahre später hatten diese Verse einen prophetischen Charakter bekommen. Nach der zwangsweisen Ausbürgerung des Dichterkollegen und Liedermachers Wolf Biermann gehört Sarah Kirsch zu den Mitunterzeichnern des Protestbriefs, wonach sie aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Ihr Ausreiseantrag wird genehmigt, sie siedelt in den Westen über.

Rückzug in die Natureinsamkeit

Weggefährten wie Franz Fühmann sind schockiert; die kritische oder jedenfalls unangepasste DDR-Literatur hat eine weitere wichtige Stimme verloren. Doch Sarah Kirsch will sich den waltenden Gesetzen „länger nicht ergeben“. Sie geht nach West-Berlin, Anfang der Achtziger zieht sie ins Dithmarsche Land, in ein kleines Dorf hinterm Deich.
Dieser Rückzug in die Natureinsamkeit, ins „Erdreich“ und ins „Katzenleben“, wie sie spätere Gedichtbände aus den Achtzigerjahren betitelte, war Flucht vor den Bedrängungen, aber auch eine dichterische Selbstfindung. In der Bundesrepublik wurde sie schon früh und nicht nur aus politischen Gründen als eine der bedeutendsten Gegenwartslyrikerinnen anerkannt. Als eine Erneuerin des Naturgedichts vor allem, die in ihrem Werk auch die ökologischen Bedrohungen spiegelte.
Die Mehrdeutigkeit, zwangläufig eingeübt unter den Bedingungen der Zensur, blieben Markenzeichen dieser Gedichte, ein unverwechselbarer Sound, in dem Naturzyklen, Seelen- und Weltzustand eine untrennbare Verbindung eingehen. Dazu eine unverrätselte, scheinbar schlichte, manchmal fast lakonische Sprache, die ohne Zeilensprünge und mit ihren seltenen Reimen kaum als Gedicht wahrzunehmen ist, obwohl sie äußerst rhythmisiert ist.

Aus der Sächsischen Dichterschule

„Drachensteigen. Spiel/für große Ebenen ohne Baum und Wasser. Im offenen Himmel/ Steigt auf/ Der Stern aus Papier, unhaltbar/ Ins Licht gerissen, höher, aus allen Augen/ Und weiter, weiter// Uns gehört der Rest des Fadens, und daß wir dich kannten“. In solchen Versen erkannten sich auch im Westen all jene wieder, die den Verlust der Utopien beklagten und in der Kunst und der Poesie einen Ausweg aus allzu prosaischen Verhältnissen suchten.
Mit dem Boom an schlechter Seelenbeichtenpoesie jener Jahre hatte Sarah Kirsch zugleich rein gar nichts zu tun. Sie kam aus der handwerklich höchst kompetenten „Sächsischen Dichterschule“ rund um den heute fast vergessenen Georg Maurer, eine lose Gemeinschaft hoch talentierter Lyriker wie Volker Braun, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Helga M. Novak, oder ihre zeitweiligen Lebensgefährten Rainer Kirsch (die Ehe wurde 1968 geschieden) und Karl Mickel. Die Auseinandersetzung mit der Tradition gehörte hier ohnehin zum Standard. „Der Droste würde ich gern Wasser reichen“, ist einer der berühmtesten Gedichtanfänge der Kirsch.
Die deutsche Lyrik erlebte in jenen späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren der DDR eine bis heute nicht mehr erreichte Blüte. Sarah Kirsch trug diese Tradition von ihrer norddeutschen Randlage aus wohl am publikumswirksamsten weiter. Wobei man ihre Lyrik und die gleichgewichtigen lyrischen Prosanotizen mitunter auch als Idyllik missverstand. Nichts lag Sarah Kirsch ferner als eine Verklärung der Natur oder eine Verharmlosung der Naturgewalten, deren Zerstörungskraft sie kannte und zum Bild mitreißender Leidenschaft oder finsterster Depression machte. In ihrem Band „Schneewärme“ von 1989 ist der Tod allgegenwärtig – oder jedenfalls ein emotionaler Frostzustand totaler Bewegungslosigkeit, der dem Tod sehr ähnlich sieht.

Der Winter als Metapher

Schon in ihren frühen Gedichten war nicht jede Ausweglosigkeit politischer Natur. Die berühmten „Schwarzen Bohnen“ der „Zaubersprüche“ waren auch ein Sinnbild des weltvergessenen Zustands rasender Verliebtheit. Von Sarah Kirsch stammen einige der schönsten und ausgelassensten Liebesgedichte deutscher Sprache, das frühe „Dann werden wir kein Feuer brauchen“ etwa oder „Die Luft riecht schon nach Schnee“, das mit den Zeilen endet: „Schnee fällt uns/ mitten ins Herz, er glüht/ Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel“.
Der Winter war zweifellos ihre Jahreszeit, immer wieder beschreibt Sarah Kirsch die bedrohliche Erstarrung des Lebens, die doch den Keim der Erneuerung schon in sich trägt. Dazu passen die von ihr oft bereisten Landschaften Nordeuropas, nachzulesen etwa in den Skandinavien-Gedichten des Bandes „Erlkönigs Tochter“ von 1992 oder dem Prosaband „Islandhoch“. In den letzten Jahren erschienen fast nur noch, aber dafür mit schöner Regelmäßigkeit, Tagebuchnotizen, zuletzt 2012 „Märzveilchen“, wie fast alle ihre Werke in der Deutschen Verlags-Anstalt.

Monica Bleibtreu liest „Die Luft riecht schon nach Schnee“:
http://www.youtube.com/watch?v=YLhJS38eX3U&feature=player_embedded

Ein solches immer leiser werdendes Alterswerk enthält doch stets die Hoffnung, dass es nie völlig ausklingen wird. Aus familiären Gründen wurde erst jetzt bekannt, dass Sarah Kirsch bereits am 5. Mai im Krankenhaus in Heide im Alter von 78 Jahren gestorben ist.

Mai 2013 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren