In Deutschland lässt man alten Menschen sich selbst nach Thailand hinweg exportieren, in den USA überlassen ein unsoziales Kassensystem ihre Kriegsveteranen dem Massenselbstmord, in Russland ist es für den Mann heute normal, 14 Jahre vor seiner Frau meist am Alkohol zu sterben: Mit Kranken umzugehen, an der Art, wie sie das tut, sind sowohl eine eine Gesellschaft wie auch ihre Kultur ziemlich gut zu erkennen. Liest man sich durch die Forschungsberichte, erfährt man, dass die Krebsvorsorge bei uns zur Zeit mehr Menschenleben kostet, als sie rettet. Überdiagnostiziert und übertherapiert, zu häufig und „zu schnell operiert“  (Prof. Dr. Pässler, Heidelberg), sieht man Menschen hier als Rohstoff eines Systems, das sich selbst nährt. So ist das, könnte man meinen, in einer Ideologie. Aber was ist das für eine Ideologie?

Dass im Medizinbetrieb über Geld gestritten wird, das sind wir ja gewohnt: Ist Gesundheit eine soziale Angelegenheit oder eine private? Ist der heroische, nämlich selbstzerstörerische Antikapitalismus eines Molière, der lieber starb als sich von geldgierigen Ärzten behandeln zu lassen, hysterisch oder das andere Extrem, das Ronald Reagan in seiner berühmten Rede gegen die Krankenversicherung vertrat, indem er sie als trojanisches Pferd der Sozialisten bezeichnete? Kommunisten und Sozialisten wollten, so der Präsident, über die Achillesverse Gesundheit die Freiheit einschränken und Schritt für Schritt die Macht über den Einzelnen erlangen, getarnt als Verantwortung. Am Ende stehe ein totalitäres System. So einfach ist das …

Wer hat als Patient noch nicht in die leeren Augen eines Arztes gesehen, hinter denen vom einst erworbenen Fachwissen und dem Wunsch zu helfen nur noch eine Registrierkasse und der Fünfjahresplan der Kasse übrig geblieben ist? Das Problem entscheidet sich aber nicht zwischen Privat- und Kassenpatient. Wenn man heute mit einem Chirurgen freundlich beim Bier zusammen sitzt, und mal fragt, so ganz im Ernst, wie viele Operationen unnötig seien, dann lautet die Antwort zum Beispiel fünfzig Prozent, und fragt man, wie das aufgeschlüsselt nach gesetzlicher und privater Krankenkasse aussähe, dann kann man etwa erfahren, dass der Privatpatient gefährdeter ist, weil man an ihm mehr verdient. Pässler empfiehlt eine höhere Selbstbeteiligung und erhofft sich davon eine größere Befassung des Patienten mit jedem bevorstehenden Eingriff.

Das erscheint als möglicher Weg, denn das eigene Geld strukturiert das beim voll Versicherten einseitige Machtverhältnis zwischen Arzt und Patient neu. Momentan sitzt der Kranke beinahe rechtlos vor dem ohnehin schon überlegenen Doktor, von dessen Fachwissen und Zeitmanagement er abhängig ist. Die Selbstbeteiligung ist ein Fuß, den der Patient in die Tür des thronenden Arztes zu bekommen hat. Der zweite, entscheidende Faktor ist die Einsicht, dass das sehr viel höhere in jede Konsultation eingezahlte Gut sowieso die Gesundheit selbst ist. Man kann sie nicht beim Arzt abgeben und nach zwei Stunden repariert wieder abholen. Vielmehr muss man die Verantwortung für sie am Ende sowieso immer selbst tragen. Der Arzt ist nicht mehr und nicht weniger als ein Partner; es gibt sie, wir wissen das! Jedoch (sic) in der Regel als Ausnahme.

Es tut sich einiges auf diesem Gebiet, als zu nutzendes Werkzeug hat der Laie das Internet und Foren darin als größte denkbare, von keinem noch so geduldigem Papier gebremste Informationsquelle. Ärzte (wiewohl auch oft zu recht) stöhnen und fluchen, wenn Patienten bereits mit einer eigenen Diagnose ihrer gesundheitlichen Befindlichkeit in die Praxis kommen. Gewohnt über Schicksale zu bestimmen fragen sie: Haben Sie das im Netz gelesen? Oft – zum Glück – ist es so. Und dass der Patient sich selbst informiert, mit anderen Patienten kommuniziert und das gegebenenfalls anonym, ist ein kaum zu überschätzender Gewinn. Ärzte müssen dringend lernen, konstruktiv damit umzugehen, denn die laienhaft vom Patienten aufgesammelten Informationen benötigen einen wissenschaftlichen, ärztlichen Abgleich. Und natürlich auch dessen Erfahrung – weil nämlich Erfahrung und Wissen auch Verantwortung erzeugt. Und beinhaltet.

Mai 2013 | Allgemein, Sapere aude, Senioren | Kommentieren