Skandal! In diese Rubrik fiel die legendäre Uraufführung des „Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky vor fast genau 100 Jahren in Paris. Der Skandal ist verschwunden, die Musik geblieben.

Längst zählt das Werk zu den herausragenden Orchesterwerken der Geschichte; hören und sehen Sie: Strawinsky – Le Sacre du Printemps – Pierre Boulez,  Orchester de Paris 2002:

 

Wenige Stücke haben sich so in die Musik des 20. Jahrhunderts eingeschrieben wie das Ballett „Le sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky. Als skandalös wurde 1913 die atavistische Choreographie über die brutale Opferung eines jungen Mädchens im heidnischen Russland empfunden. Darüberhinaus erregte die Wildheit nie gehörter Rhythmen Aufsehen sowie die ebenso schockierende wie geniale Orchesterbehandlung – von dem gespenstisch hohen Fagottsolo des Beginns bis zu den unisono stampfenden Akkordschlägen des Finales.

StrawinskyStrawinskys „Sacre“ hat das Orchester als Instrument neu definiert. In einer entscheidenden Phase der Moderne, kurz vor dem ersten Weltkrieg, schrieb Strawinsky eine faszinierend urtümliche Musik, deren Wildheit allerdings kühle Berechnung ist. Mit der „Sacre“-Partitur stieß die Musik in die komplexen Notationsformen der Moderne vor; kaum ein Stein blieb hier auf dem anderen. Allein die permanent wechselnden Metren machen das Werk zu einer handwerklichen Herausforderung der Extraklasse – daran hat sich bis heute nichts geändert.

Das Metier des Dirigenten musste sich an diesem Werk neu beweisen, denn herkömmliche Schlagtechniken genügten nicht mehr, um die Stimmen dieser Partitur zusammenzuhalten. Greifen wir willkürlich neun Takte heraus: 7/4; 3/4; 7/4; 3/8; 4/8; 7/4; 6/8; 5/8; 9/8 im taktweisen Wechsel, und das Ganze „Vivo“ bei 144 Vierteln pro Minute. Wer hier mit seinen Armen bedeutungsschwer im Viervierteltakt rudert, hat schon verloren.

Trotz dieser Schwierigkeiten ist der „Sacre du Printemps“ schon früh Gegenstand prominenter Plattenproduktionen geworden – und im Vergleich vieler Aufnahmen zeigt sich, dass gerade jene am wildesten wirken, deren Dirigenten den Takt besonders abgeklärt vorgeben.

Mai 2013 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren