Bismarck nutzte die Reichseinigung und die inneren Krisen danach zur Zerschlagung der nationalliberalen Partei und zu einem Feldzug gegen Katholiken und Sozialdemokraten. Für ein paar Jahre herrschte er diktatorisch. Die Arbeiter beruhigte er durch die ersten Sozialversicherungsgesetze. Adenauer lenkte den Erfolg des Wirtschaftswunders auf seine Mühlen – nicht zuletzt durch eine am Vorabend der Bundestagswahl, die ihm seinen größten Triumph bescherte, beschlossene großzügige Rentenreform. Zweimal war so ein Höhepunkt konservativer Macht mit materiellen Wohltaten gekoppelt.
Sektlaune & Landschaften
Ähnlich verfuhr Helmut Kohl 1990, mitten im Wiedervereinigungsprozeß: Eine großzügige Währungsreform, das Versprechen blühender Landschaften und die Finanzierung der Einheit auf Kredit sorgten für jene Sektlaune der neunziger Jahre, die schon bald zum Beispiel das Land Berlin in einen Schuldturm brachte, aus dem es allein gewiss nicht mehr herausfinden wird. Ob es dem Gesamtstaat mit seinem Haushaltsdefizit hätte besser gehen können, ist unsicher.
Die Regierung Merkel
Bundeskanzlerin Merkel musste in einer gänzlich anderen Lage operieren. Zwar – da sich die Dinge tatsächlich anders als gedacht entwickelten – gab ihr eine denkbar günstige Konstellation in den Verfassungsinstitutionen: Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat, ein Bundespräsident aus „befreundetem“ Lager. Angela Merkel konnte so – hätte jedenfalls können – immerhin einige Legislaturperioden lang ohne das Föderalismusproblem regieren können .
Dazu kam ein unschätzbarer äußerer Umstand: Das deutsche Wahlvolk war weichgekocht wie lange nicht mehr. Wenn Reformen umsichtig geplant, konsistent aufeinander abgestimmt und und künftig zügig umgesetzt werden – ohne (dies Szenerio wird derzeit ja häufig an die Wand gemenetekelt) „rot-gelb-grünes Chaos“, ohne bürokratisches Zahnweh, also auch handwerklich reibungslos -, dann werden die Bürger mitgehen.
Der Gewinn an Klarheit
Endlich wird man wieder wissen, woran man ist, kann ökonomisch, für die Binnennachfrage, mehr bewirken als teure Geldgeschenke auf Pump. Perfektioniert wie nicht einmal weiland die SED es versucht hat zu tun. Die Kanzlerin – wir hatten Zeit genug, das zu lernen – beherrschte die Kunst, allen Fragen auszuweichen, sich nicht festzulegen, nichts zu sagen, zu einem Grad perfektioniert, der nicht einmal im Neuen Deutschland der alten SED erreicht worden war. Anders nämlich als Bismarck, Adenauer und Kohl, hatte die Regierung Merkel materiell nichts zu verschenken.
Das Staatsdefizit – eine Erbschaft der Ära Kohl – war so desaströs wie je, die Reformen Schröders blieben unfertig und vorerst erfolglos (nicht einmal Spareffekte wurden erzielt, geschweige eine Belebung von Konjunktur und Arbeitsmarkt) und die Zeit rinnt aus: Denn die eigentliche, die demographische Herausforderung, von der heute alle wie von einem gegenwärtigen Faktum reden, ist noch gar nicht eingetreten. Derzeit nämlich stehen die geburtenstärksten Jahrgänge der deutschen Geschichte noch mitten in ihrem Arbeitsleben, noch sind sie Beitragszahler der Sozialkassen und noch keine Anspruchsberechtigte. Erst in etwa 10 Jahren tritt jener Ernstfall ein, für den heute das ganze System umgebaut werden muß.
Was haben wir in dieser Lage – potentielle Machtfülle bei äußerst geringen materiellen Spielräumen – von Konservativen zu erwarten? Das Beunruhigende ist: Wir haben nicht den Schatten einer Ahnung. Die widersprüchlichen Äußerungen von Randfiguren, die sich nicht an die Schweigedisziplin der Führung halten, geben keine Anhaltspunkte. Und die Kanzlerin hat die Kunst, allen Fragen auszuweichen, sich nicht festzulegen, nichts zu sagen – wiederholen wir uns mal – zu einem Grad perfektioniert, der nicht einmal im Neuen Deutschland der alten SED erreicht worden war; denn die Regierungszeitung der DDR musste ja nicht mit einer (offen) kritischen Öffentlichkeit kalkulieren.
Angela Merkels Interviews ihrer letzten Tage sind kaum weniger als eine Verhöhnung des Publikums. Wenn sie nichts hätte sagen wollen, hätte sie keine Gespräche mit Journalisten führen sollen.
Man muss also erst einmal warten, bis die Union ihr Programm vorlegt, das eine „Politik aus einem Guss“ vorstellen soll, „eine grundlegend andere Politik, damit es grundlegend besser wird“ (wie Merkel am Anfang ihrer Amtszeit diagnostizierte). Also eine konservative Revolution? Getreu dem klügsten Satz konservativen Denkens, der je gesprochen wurde, dem Bonmot des Fürsten in Lampedusas „Leopard“, dass sich alles ändern muss, damit alles gleich bleiben kann? Dieser Satz kommt deshalb als klug einher,weil er die Grenze des konservativen vom reaktionären Denken markiert. Der echte Konservatismus, im Ursprung eine englische Erfindung, ist ein bewegliche Haltung, deren Zweck Bewahren durch unentwegtes Reformieren ist, ein vitaler Traditionalismus, dessen harter Kern in der alteuropäischen Freiheit des Individuums in überschaubaren Lebensformen – dieser Frucht des antiabsolutistischen Ständestaats – besteht.
Die Reaktion dagegen denkt ungeschichtlich, will das Rad der Zeit einfach zurückdrehen, sie ist so doktrinär wie die Revolution, in deren Feindschaft sie entstanden ist.
Zurück in die Katakomben
Die Reaktion ist immer durchräsoniert, nicht selten brillant, daher ist sie intellektuell oft der Partei des Fortschritts und ihren hochfliegenden Theorien gewachsen. Der aktuelle schicke Feuilletonkatholizismus ist eine literarisch reizvolle jüngere Blüte solcherReaktion. In der Haltung Benedikts XVI., der mit der, mit seiner Kirche lieber „zurück in die Katakomben“ wollte (schaun wir mal, ob der „Neue“ schlußendlich wirklich weniger spektakulär unterirdisch geworden sein wollte), als sich suspekten modernen Tendenzen anzupassen, findet sie ihre beeindruckendste gegenwärtigeGestalt.
Der Konservativismus hingegenhat kein Programm außer dem Vertrauen zum gewachsenen, bestehenden, gelingenden Leben, das bestenfalls homöopathisch kuriert werden soll, das aber doch solcher Kuren bedarf. Er ist auf eine ehrenhafte Weise denkschwach und programmarm. Die armselige Wortfügung von „Laptop und Lederhose“ ist typisch konservativ – und siehe da: sie funktioniert.
Ist diese vitale, aber bewegliche Denkschwäche der Kern auch der aktuellen Undeutlichkeit der deutschen Konservativen? Wäre es doch nur so! Hingegen aber muss befürchtet werden dürfen, dass er einer oft kaum bewussten, unguten Tradition folgt, die den Konservatismus vor allem in Deutschland kennzeichnet.
Diese Tradition manifestiert sich in einem Bewusstsein, das glaubt, das eigene konservative Lager sei die natürliche Regierung des Landes, und die andere Seite sei nur fallweise, sozusagen fürs demokratische Protokoll, berufen, in kleinen Intervallen an die Macht zu kommen.
Im Notstand zu Hause
Diese Haltung – die bei den Sozialdemokraten immer auf die schmutzigen Stiefel blickt (e), mit denen sie den Salon der Macht betreten haben – führt zum unangenehmsten Gebrechen des deutschen Konservatismus, das sich in zwei Worten zusammenfassen lässt: gespaltenes Verhältnis zur Legalität des Staates und mangelnde Aufrichtigkeit gegenüber der Öffentlichkeit.
Von Bismarcks Staatsstreichplänen
Der Gründerfürst des Deutschen Reiches meinte allen Ernstes, er könne seine Schöpfung auch wieder aus dem Verkehr ziehen -, über das persönliche Regime Wilhelm II., die Hindenburgschen Notverordnungen, Papens irregeleitete Kabinettspolitik, Adenauer-Straußens Spiegel-Affäre bis zu den Schwarzen Kassen der CDU, Kohls Ehrenwort und Kanthers gespenstische Rechtfertigung der Schweizer Konten seiner Partei mit einem angeblichen Notstand im Kampf gegen die Linke verläuft eine grade Linie. Sie bedeutet: Legalität ist für die anderen da, denn die eigentlichen Herren im Hause, das sind wir; wir wissen, wann ein übergeordneter Notstand uns zu Putschplänen, Notverordnungen oder Schwarzen Kassen nachgerade berechtigt.
Um nicht missverstanden zu werden:
Korruption und Gesetzesbruch gibt es auf allen Seiten, doch kaum irgendwo ist das begleitende Gewissen so gut wie bei deutschen Konservativen. Das Feld der Linken ist der emotional enthemmte Moralismus; die Konservativen sind im kalt kalkulierten Staatsnotstand zu Hause. Und diese hinter staatstragender Rhetorik gut verkappte Legalitätsverachtung korrespondiert direkt mit einem zweiten Laster: der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit zu sagen.
Patriotisches Opfer
Die ökonomische Seite der Wiedervereinigung bot hier das Beispiel, an dessen Folgen Deutschland bis auf absehbare Zeit noch immer zu tragen haben wird: dass die Übertragung des westdeutschen Sozialsystems auf 17 Millionen zusätzliche Anspruchsberechtigte zumindest hochriskant war; Konservative, würden sie denn die Macht gewonnen haben, eine größere Gestaltungsmacht gahabt haben, denn je. Schauen wir mal, wie eine Ampel die Farben hoffentlich durcheinander bringt.
Alsdann: Was ist das – konservativ?
Dass der Umtauschkurs zwischen DDR-Mark und D-Mark den Gegebenheiten nicht entsprach, dass die Hoffnung auf einen selbsttragenden Aufschwung („Blühende Landschaften“) eine Luftbuchung darstellte – all das war damals nicht unvorstellbar. Und viele verlangten damals einen, in der Ausnahmesituation der Wende ja überaus plausiblen Appell an eine durchaus patriotisch begründete Opferbereitschaft.
Wer, wenn nicht die Konservativen, hätten einen solchen Appell mit Überzeugungskraft vorbringen können? Zumal das Opfer nicht wirklich gravierend hätte ausfallen müssen – es hätte von Anfang an etwa den Umfang jenes Solidarbeitrags gehabt, der dann später ohnehin eingeführt werden musste; nur, dass er seither vor allem der Zinsdeckung schon aufgelaufener Schulden dient.
Man konnte an diesem Beispiel lernen, was das gelegentliche konservative Gefuchtel mit „Werten“, was die Sprüche von „Patriotismus“ und „Leitkultur“ eigentlich bedeuten: kaum mehr als nichts. „Werte“ werden vor allem dann entsichert, wenn es gegen Randgruppen wie Homosexuelle (Wert „Ehe und Familie“) und Ausländer (Wert „Leitkultur“) geht. Ein übergreifendes Interesse, das alle angeht, verbindet sich damit jedenfalls nicht.
Das tiefe konservative Misstrauen in die eigenen Werte und in die Bereitschaft der Bürger, ihnen nachzuleben, zeigt sich schließlich bis heute in einem sozialstaatlichen Populismus, der die Forderung nach Reformen bisher so unglaubwürdig macht. Wenn konservative, geradezu altpreußische Tugenden wie Wahrheit, Klarheit, Sparsamkeit einen Moment hätten, dann doch heute.
Einigkeit, feudal und Freiheit …
Gelegentlich tönen rührende Altkonservative „Bürger auf die Barrikaden“; aber solche Aufrufe zur Umkehr nötigten der Taktikerin an der CDU-Spitze allenfalls ein sardonisches Lächeln ab. Dabei wäre ein der Öffentlichkeit ohne Beschönigung vorgetragenes Programm zur Sicherung des Sozialstaats für die nächsten Generationen sehr wohl ein patriotisches Vorhaben gewesen, für das man Bürger, die man nicht verachtet, hätte gewinnen können. Denn das aber war es, was bereits hinter Kohls wohltätiger Nachwendepolitik stand: ein Misstrauen gegen die Bürger, das von Verachtung kaum zu unterscheiden ist. Jene seit Bismarck praktizierte Verächtlichkeit gegenüber dem Recht und dieser Dünkel gegenüber den Bürgern, denen man keinen reinen Wein einschenken zu müssen glaubte, zeigte – und tut das immer noch – den fortbestehenden unbürgerlichen Charakter des deutschen Konservatismus: noch immer halb feudal, halb kleinbürgerlich.
Wasser predigen …
Wenn nicht alles trügt, hat auch das Misstrauen gegen die Bürger seine Quelle in einer historischen Erfahrung: im Scheitern der Autoritätspolitik von Reichskanzler Brüning in der Weltwirtschaftskrise. Seine riskante Politik, den Versailler Vertragsmächten die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands brutalstmöglich vor Augen zu rücken und dabei unter der Hand den Staatshaushalt zu sanieren, sollte mit vorübergehendem Massenelend erkauft werden. Sie war als Befreiungsschlag gedacht, und Brüning selbst glaubte in der Stunde seiner Abberufung „hundert Meter vor dem Ziel“ gestanden zu haben – vielleicht nicht ganz zu Unrecht, denn wenigstens die außenpolitischen Früchte seiner Ära wurden hernach von Papen und Hitler eingebracht.
Aber insgesamt scheiterte Brünings Politik katastrophal, sie mündete in einen bürgerkriegsnahen Zustand auf den Straßen und eine von den radikalen Parteien im Reichstag erzeugten Verfassungskrise. Es war der letzte Moment, in dem eine konservative Regierung die Opferbereitschaft des Landes in Anspruch zu nehmen versuchte. Der Moment war falsch gewählt, die geforderte Anstrengung weit überzogen und im übrigen von Brüning, der allerlei radikale Verfassungsprojekte in der Hinterhand hatte, auch nicht ehrlich begründet. Adenauer und Kohl sowohl wie auch Schröder und Merkel mussten nie in einer so prekären Lage agieren, und so hielten sie sich an das Rezept Bismarcks, dem auch Hitler gefolgt war, die Nation mit großzügiger Sozialpolitik zufrieden zu stimmen.
… aber Wein trinken
Es ist dieser lange geschichtliche Vorlauf, der einen mit Sorge auf das angekündigte konservative Programm warten lässt. Im letzten Jahrzehnt kamen einige der interessantesten Beschreibungen der Lage und so auch einige der überzeugendsten Vorschläge zu ihrer Verbesserung von konservativen Beobachtern. Siehaben in der öffentlichen Debatteheute die Rolle übernommen,die vorzeiten sozialdemokratische Intellektuelle wie Erhard Eppler ausfüllten. Also standen die traditionell so pragmatisch-denkschwachen Konservativen für eine lange Weil programmatisch – ja – ungewöhnlich gut da. Und die Öffentlichkeit will ja auf jeden Fall eines: wissen, nämlich woran sie ist.