Nie werde ich den Twentysomething vergessen, der Smartphones und Tablets abstoßend fand, weil jede dahergelaufene Oma sie bedienen könne. Der Mann litt unter Gerontophobie. Er hatte ein Privileg verloren: als jungdynamischer Mensch (männlich) der Erste zu sein, der technische Neuerungen auf Anhieb verstand. Ja, der Fortschritt war einmal jung und kompliziert – vorbei.
Heute dürfen auch die Alten mit ihren gichtigen Fingern auf so einem Tablet herumtapsen. Das ist für manch einen so bitter wie für seinen Ururgroßopa das Frauenwahlrecht. Gerontophobie wäre eigentlich ein schönes Thema für einen neuen Aufschrei. Die Angst vor den Alten, Spezialform der Misanthropie, ist nämlich weitverbreitet und übrigens keine Unart der Jungen. Es gibt sie in allen Altersklassen, erst recht bei jenen, die mit Erreichen des 60. Lebensjahrs durch eine Art „50-Prozent-auf alles“-Aktion namens Seniorenpass ruhiggestellt werden sollen und die, statt dankbar zu sein, beleidigt sind. Weil es ja kein Verdienst sei, den 60. Geburtstag erlebt zu haben. Und überhaupt – was heißt schon alt? Wenn’s drauf ankommt, will es niemand sein.
Was also früher Privileg der Jungen war, gilt nicht mehr. Immer vorn, wo Fortschritt lockt, sind heute die Älteren. Als early adopters machen sie jede technische Mode mit, Geld ist ja – manchmal nicht aber meist oder zumindest oft – wenigstens ausreichend vorhanden, und wo es kinderleicht zugeht, ist es auch frauen- und seniorenfreundlich. Und so verwundert es nicht, dass wir Älteren einer neuen Studie zufolge auch in Angelegenheiten der Buch- beziehungsweise Lesekunst vorangehen. Linguisten und Buchwissenschaftler der Universitäten Mainz, Göttingen und Marburg haben untersucht, wie Menschen zwischen 21 und 77 Jahren am liebsten und am bequemsten lesen. Sowohl die jüngeren (21 – 60 Jahre alt) als auch die älteren (60 – 77 Jahre) Leser taten es am liebsten in gedruckten Büchern. Das ist nicht weiter überraschend, Deutschland ist und bleibt das Land der Dichter und Denker, der Kultur anstelle der Zivilisation, und es gibt nicht wenige Geistesschaffende hierzulande, die der festen Überzeugung sind, das digitale Etwas namens E-Book werde es nicht über Ozean und Ärmelkanal schaffen oder wenigstens einen weiten Bogen um das Vaterland Gutenbergs machen und irgendwo in Sibirien verpuffen.
Die neue Untersuchung aber dürfte sie enttäuschen. Denn wenn es um die Frage ging, welches Medium den größten Lesekomfort bietet, lag bei den Älteren das Tablet vor dem Buch (und weit vor dem E-Reader), während die Jüngeren auch hier das gedruckte Medium entschieden bevorzugten. Die Bewahrer des Wahren, Guten und Schönen sind also nicht mehr die Alten, im Gegenteil. Sie sind die eigentlichen Verräter am Beständigen, und wer daran festhält, sind die Jüngeren, die sich nicht aus der Gutenberg-Galaxis vertreiben lassen wollen.
Evidenzen? Ich erinnere mich gut an eine Versammlung künftiger Buchhändler, auf der schöne junge Menschen leidenschaftlich für das gedruckte schöne Buch plädierten und dem E-Book keine Chance gaben. Das Buch! Das auf Papier gedruckte und sorgfältig gebundene Werk, das schwer in der Hand liegt und für die Ewigkeit taugt! Um die Nachfrage nach Billy muss man sich bei Ikea also nicht sorgen. Und um den Nachwuchs für den schwindsüchtigen Buchhandel womöglich auch nicht. Bücherfreunde sterben nicht aus, auch wenn sie in den Wald pfeifen gehen.
Doch wahrscheinlich ist es mit diesem Thema so wie mit vielen anderen auch: es gibt kein Entweder-Oder und noch nicht mal einen ordentlichen Kampf der Generationen, über den man sich analysierend beugen könnte. Es ist wahrscheinlich alles ganz einfach: Bücherfreunde wechseln im Laufe ihres Lebens den Aggregatzustand, ebenso wie das Buch selbst.
Das erste Buch, das ein Kind in die Hand bekommt, ist ein kompaktes, abwaschbares, reißfestes und bunt bebildertes Etwas, das der handgreiflichen Neugier möglichst lange widerstehen soll. Vielleicht um die Zeit der Konfirmation herum ist der (protestantische) Leser den ersten Dünndruckband wert. Es folgt, wenn überhaupt noch gelesen wird, das Taschenbuch. Zum selbst gekauften Hardcover gehört dann schon ein höheres Alter und eine höhere Gehaltsstufe. Und ab da ist es oft bereits so weit. Wer es bis Mitte 40 nicht geschafft hat, Stephen Kings „Es“ im Taschenbuch zu lesen, wird es nun nie mehr tun.
Nicht, weil 1376 Seiten zu viel wären, von King kann man gar nicht genug kriegen. Sondern weil die Augen das Kleingedruckte nicht mehr erfassen können. Zeit für ein Lesegerät: Auf dem Tablet, das übrigens in allen Altersklassen beliebter ist als der E-Reader, lässt sich jede Schrift in komfortable Lesegröße bringen. Da kann keine Lesebrille mit. Die kluge Leserin, die überdies lebenserfahren genug ist, um zu wissen, dass die Zahl der Bücher abnimmt, die es wert sind, über Jahre hinweg im Bücherregal zu stehen, verändert also den Aggregatzustand der Bücher, sozusagen auf ihre Schrumpfstufe, bis sie ins iPad passen. Um sie dann wieder auf augenfreundliches Format zu öffnen. Dass das ein Fortschritt ist, erkennt man womöglich wirklich erst, wenn man so weit ist. Älter eben, so um 43 – ahäm, geboren, mithin kurz vor siebzig halt …