Friedrich Pfäfflin versammelt Berichte von Weggefährten und Widersachern.
Vor nicht allzu langer Zeit befand Marcel Reich Ranicki auf eine Leserfrage nach der heutigen und vor allem künftigen Wirkung von Karl Kraus, dass es damit nicht so weit her sei; diese Feststellung wurde ohne einen Ober- oder Unterton des Bedauerns getroffen. Ein kurzer Blick auf den Buchmarkt zeigt, dass die Diagnose haltlos ist.

Karl Kraus

Kraus´ Lebenswerk-Zeitschrift, Die Fackel, einst als Zweitausendeins-Reprint weit über dreißigtausendmal verkauft, kann man elektronisch gespeichert seit kurzem, wie auch die Suhrkamp-Ausgabe der Schriften, mehr als preiswert erwerben, zwei große Ausstellungen gab es (in Marbach und Wien), und in den letzten Jahren erschienen mehrere Briefwechsel von Kraus mit Zeitgenossen und (in einer stark überarbeiteten Form neu ediert) die große Sammlung der Briefe an seine Lebensfrau Sidonie Nádhern von Borutin. Kraus ist kein massenhaftes Lesephänomen, das war er nie, übersetzbar ist er eigentlich auch nicht wirklich, das mindert den Radius seines Wirkens, aber nicht dessen Intensität. Gemessen daran, dass der Kraus-Enthusiast Werner Kraft 1952 eine schmale Auswahl vorlegte in einer Reihe, die den Titel trug „Verschollene und Vergessene”, ist dies eine Entwicklung, die auch den kühnsten Krausianern seinerzeit unvorstellbar war.

Nun also ein neuer, stattlicher Band. Friedrich Pfäfflin hat unter dem Titel „Aus großer Nähe” Berichte gesammelt, in denen Kraus als öffentliche wie als private Person Kontur gewinnt, und es ist dies, das sei sogleich festgestellt, eine aufregende, irritierende, faszinierende und vor allem gegen das Ende hin auch herzbeklemmende Lektüre, die dieser ebenso findigen wie mustergültig annotierten Edition zu danken ist – allein das Quellenverzeichnis liefert als Zugabe noch sorgfältig recherchierte Biographien entlegenster Provenienz mit.

Rund 120 Zeugen lässt der Band zu Wort kommen, und er schließt von vorneherein jeden Verdacht einer hagiographischen Schlagseite aus. „Größerer Gegner gesucht”, so hieß einmal eine Glossenüberschrift in der Fackel – und Kraus hatte Gegner wahrlich genug. „Sadistischer Hysteriker” (Willy Haas), „Trompethiker” (Alfred Kerr) „Tierstimmenimitator” (Anton Kuh) – wer ihn so nannte, das waren Gegner, wenn auch nicht allerersten Ranges, die sich Kraus selbst geschaffen, die er polemisch getroffen hatte. Von anderem Kaliber war da schon Robert Musil, der, nicht unwitzig, Kraus anlastete, dass die „Leier, die er im Busen trägt, mit Achillessehnen bespannt ist”, und Kafkas ambivalente Haltung zu Kraus ist bekannt.

Bedenklicher war es, wenn enthusiastische Anhänger sich in schäumende Antipoden verwandelten wie im Fall Franz Werfels, aber auch in dem Elias Canettis. Der junge Canetti war in die Vorlesungen von Kraus geraten und war hingerissen. Als aber das Jahr 1934 die berüchtigte Parteinahme von Kraus für Dollfuß brachte, also für das, was man bis heute, wenn auch nach wie vor umstritten, „Austro-Faschismus” nennt, da wandten sich Freunde und Anhänger von Kraus ab, von denen er gehofft hatte, sie würden ihn verstehen, auch wenn sie anderer Meinung waren.

Zu Hitler nichts eingefallen …

Im besten Falle jedoch verstanden sie ihn nicht, wie Bertolt Brecht oder Berthold Viertel, im schlimmeren Falle verdammten sie ihn, so Canetti: „Goebbels im Geiste”, „Hitler der Intellektuellen”, „größenwahnsinniger Popanz” – daraus spricht auch die Erbitterung der enttäuschten Liebe. Canetti hat später öffentlich bekannt, dass er diese Verdammung so nicht stehenlassen wollte, sogar von Werfel gibt es private Zeugnisse, die Ähnliches bekunden. Bis heute beten schlecht Informierte nach, dass Kraus zu Hitler nichts eingefallen sei – so lautet in der Tat der erste Satz der „Dritten Walpurgisnacht”. Würde man über 300 Seiten weiterlesen, dann müsste man bestätigen, dass ihm mehr als den meisten Zeitgenossen eingefallen ist.

„Aus großer Nähe” ordnet die erkleckliche Zahl der Zeugnisse (von denen viele nur an ganz entlegenen Stellen publiziert, einige bedeutende bisher gänzlich unbekannt waren ) in einer einleuchtenden Mischform von chronologischem und themenbezogenem Vorgehen. Der kurzsichtige Weit- und Klarseher am nächtlichen Schreibtisch, der gegen Mitternacht mit der Arbeit begann und sich bei Sonnenaufgang niederlegte, der siebenhundertmal öffentlich Auftretende mit Vorlesungen aus eigenen und fremden Werken, der Shakespeare, Nestroy und Offenbach als Einmanntheater vortrug, sprechend, singend, gestikulierend (einige Film- und Tonzeugnisse sind glücklicherweise erhalten), der Polemiker und Satiriker, der als solcher in der Weltliteratur, halten zu Gnaden, keinen Rivalen hat, der von der Sprache sich willig beherrschen lassende Meister aller Töne, der, so wurde es dreimal vergeblich vorgeschlagen, eigentlich den Literatur- oder auch Friedensnobelpreis hätte erhalten müssen, allein wegen seines Weltkriegsdramas „Die letzten Tage der Menschheit” – all dies wird hier in einer unmittelbaren Weise deutlich und vital.
Vor allem aber: Für jene Leser, die ein Bild von Kraus haben, das mehr an einen Scharfrichter auf des Wortes Schneide erinnert, als an eine fühlende Seele, dürfte die Lektüre des Bandes eine verstörende Erkenntnis mit sich bringen. Dieser Mann war im persönlichen Umgang zugewandt, liebenswürdig, spontan und unmittelbar, konnte es zumindest sein. Hatte er einen Menschen (es mochte aber auch ein Hund sein) ins Herz geschlossen, dann dauerte es lange, bis diese Zuneigung ins Wanken kam; wenn dieser Mensch allerdings massiv versagte (Hunde waren da beständiger), dann war der Fall bodenlos und nicht revidierbar.

Kraus konnte in den Caféhäusern und Restaurants, wo der Junggeselle sein Familienleben lebte, charmant und witzig sein, konnte imitieren, parodieren und erzählen, dass sich die Zuhörer vor Lachen krümmten. Er wurde von vielen gehasst, von nicht wenigen, die ihn besser kannten, aber nicht nur verehrt, sondern auch geliebt, und er erwiderte diese Liebe mit Zuneigung und Zuwendung, ja oft mit erheblichen finanziellen Anstrengungen gegenüber Notleidenden, die der persönlich nahezu Bedürfnislose mit vollen Händen beschenkte.

Die große Nähe zu Kraus, die dieser Band vermittelt, wird schmerzhaft und nur schwer zu ertragen, wenn sich die Zeugnisse den letzten Lebensjahren nähern. Die Vereinsamung des von seinen engsten Anhängern missverstandenen, dann verlassenen und bespuckten Sechzigjährigen enthüllt sich hier in ihrer ganzen Tragweite. Dass er, der die titanische Arbeitsleistung seines Lebens der Überzeugung abgerungen hatte, dass es aller Mühe wert sei, sich gegen der Zeiten Ungeist zu stemmen, indem man ihn sprachlich stellte und am polemischen Pranger dem Spott preisgab, nun seiner Freundin Helene Kann sagte: „Es ist alles vergeblich, das Unvorstellbarste wird noch von der Wirklichkeit überholt”, stimmt auch heute noch trübe, vor allem deshalb, weil noch die letzte Fackel-Nummer von dieser Resignation nahezu nichts spüren lässt. Er, für den die Arbeit am Vortragstisch vor Hunderten, ja Tausenden gebannten Zuhörern eine Erholung von der eigentlichen Arbeit bedeutete, der sich nach monatelanger äußerster Anstrengung durch kurze Pausen an Schweizer Wasserfällen und in böhmischen Parks völlig regenerieren konnte, scheint in den letzten Lebensmonaten seine Arbeitsenergie nur noch mit verzweifelter Mühe aufbringen zu können. Es kamen körperliche Hinfälligkeiten hinzu.
Das umfangreichste Zeugnis, das Pfäfflin präsentieren kann, ist auch das bewegendste: Helene Kann, die im Kraus-Kreis nicht unumstrittene enge Freundin, hat seine letzten Monate und Wochen in einen Text gegossen, der hier zum erstenmal veröffentlicht wird, und sie hat sich mit diesem Text rehabilitiert, falls das nötig war.

Bei Tristans Ehre

Die Schilderung, wie Kraus, dem die Sprache alles geschenkt hatte, was er in demütiger Liebe von ihr gefordert hatte, eben diese Sprache sich versagt, und er nur noch mit Mühe und kaum verständlich hervorpressen kann „Es ist etwas nicht geheuer”, ist herzzerreißend. „Ich kann nicht sterben, solange ich der bin, der ich bin. Nur im Zustand des Wahnsinns könnte der Tod an mich heran”, sagte er einmal zu Helene Kann, aber er täuschte sich, glücklicherweise auch über den Ernst seiner Erkrankung. Ein Herz- und Gehirnschlag beendete das Leben jenes Mannes, der ebendiese Organe als Einzelkämpfer ohne Rücksicht auf die Begrenztheiten der eigenen Kräfte eingesetzt hatte, um die Welt darauf hinzuweisen, dass sie im Großen wie im Kleinen auf dem falschen Wege war. Als sein Hausarzt wider besseres Wissen wagnerianisch-witzelnd versicherte, dass er in wenigen Tagen das Bett wieder verlassen könne, „bei Tristans Ehre”, richtete Kraus sich auf und sagte, mit größter Anstrengung, aber plötzlich gut verständlich: „Pfui Teufel !”

Es waren seine letzten Worte – angemessener hat sich kein Satiriker von der Welt, gegen die er stand, verabschiedet. Friedrich Pfäfflins liebevolle Sammlung legt Zeugnis ab über eine Jahrhundertgestalt, die recht behielt, auch dort, wo sie zu irren schien.

FRIEDRICH PFÄFFLIN (Hrsg.): Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 480 Seiten, 39,90 Euro.
Oskar Kokoschka: Karl Kraus II (1925) Abb.: bridgemanart.com

Friedrich Pfäfflin, geb. 1935, hat nach zwanzigjähriger Tätigkeit als Verlagsbuchhändler ein Vierteljahrhundert die Museumsabteilung des Schiller-Nationalmuseums in Marbach geleitet. Als Autor, Herausgeber und Ausstellungsmacher beschäftigte er sich u.a. mit Kurt Wolff, Else Lasker-Schüler, Werner Kraft und Berthold Viertel.

März 2013 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton | Kommentieren